Wie sich die Stimmung entwickelt und wie sie sich entlädt, hängt freilich davon ab, welche Zutaten vor und während des Spiels beigemengt wurden. Sind die Fans der Klubs verfeindet, ist „Nieder mit den Schweinen“ angesagt, sind sie miteinander befreundet, dann kann es auch heißen: „Scheißegal, wer gewinnt. Hauptsache, die Stimmung ist gut.“ Auch während des Spiels ist grundsätzlich eine Entwicklung der einmal entfachten Begeisterung nach zwei Seiten hin offen: Zur Atmosphäre des fröhlichen Festes, die sich in einem vollen Stadion in einer „La-Ola-Welle“ zeigt, die das Rund wie selbstverständlich mehrmals durchläuft; oder zu der des „Ersatzkrieges“, in der sich die Feindseligkeit wie eine dunkle Wolke drohend über dem Geschehen zusammenbraut. Grundsätzlich gilt freilich: Jeder, der ins Stadion geht, will teilhaben an der Emotion der Masse, und die besteht eben in der Hauptsache aus denen, die im Stadion „zu Hause“ sind.
Natürlich sind nicht alle Stadien gleich. Nicht nur volle oder leere Ränge unterscheiden sie, sondern auch die Spielbeteiligung des Publikums, das sich in ihnen versammelt. In diesem Sinne sind die Spielorte Ausdruck nationaler Charaktere – Sambaklänge und leidenschaftliche Begeisterung in Brasilien, inbrünstige Gesänge in England –, aber vor allem auch des Selbstverständnisses und des „Charakters“ der Anhänger eines bestimmten Klubs. Das Publikum kann lasch oder ausgelassen, besonders fair oder besonders feindselig sein. Manche Stadien sind dafür berühmt geworden, dass in ihnen die „Gäste“ von den Emotionen der Zuschauer schier erdrückt werden. Diese Atmosphäre der Einkesselung schuf Mythen wie den „Roar“ von Wembley (London) oder Hampden Park (Glasgow): Während im Londoner „Gästehaus“ der englischen Nationalmannschaft der unnachahmliche Schrei „England“ Gänsehaut verursachte, fürchteten die Engländer selbst nichts so sehr wie das Riesenstadion in Glasgow. Dort wurde, wie der ebenfalls zum Mythos gewordene Stanley Matthews einmal meinte, „der Enthusiasmus der Menge in die Adern der schottischen Spieler eingespritzt“.
Zumindest einmal wurde der Hampden Park aber auch zum Synonym nicht für Kriegsgeschrei, sondern für ein fröhliches Fußballfest. „Das Stadion bot einen überwältigenden Anblick. Die Stimmung war großartig. Ein Jubelruf empfing die einlaufenden Mannschaften …“, begann der Journalist Peter Berger seinen Bericht über das Endspiel des Europapokals der Landesmeister 1960. Das große Real Madrid traf auf den Außenseiter Eintracht Frankfurt, der sich mit zwei tollen Halbfinal-Siegen gegen die Glasgow Rangers (6:1 und 6:3) gerade in Schottland viel Respekt verschafft hatte. Frankfurt zeigt auch gegen den Weltklassegeg ner im Finale zunächst keinerlei Hemmungen und erspielt sich Chancen gleich reihenweise. Dann geschieht, womit keiner gerechnet hat. „Es sind knapp 20 Minuten vergangen im Hampden-Park, da donnert der Beifall der weit über 100.000 Menschen für Eintracht Frankfurt los. Die Mannschaft aus Frankfurt am Main führt 1:0!“ Doch jetzt kommt Real und zündet ein Feuerwerk: di Stefano 1:1; di Stefano 1:2; Puskas 1:3. Pausenpfiff. Eintracht müht sich weiter, wieder gibt es einige Chancen, doch kein Tor. Die begeisterten schottischen Zuschauer feuern die tapferen Frankfurter immer wieder an. Doch alle Ermunterung nützt nichts. Real kontert, Gento wird im Strafraum gefoult, Puskas verwandelt zum 1:4. Das Spiel ist entschieden, aber Madrid fängt jetzt erst so richtig mit dem Spielen an. Es gibt technische Zaubereien und Traumkombinationen en masse. Es fällt das 1:5 durch Puskas, das 1:6, wieder durch Puskas. Die Frankfurter dürfen auch ein bisschen mitmachen, 2:6 durch Stein. Di Stefano ist sauer, schnappt sich vom Anstoß weg den Ball, dribbelt sich zum Frankfurt Tor durch, zieht ab – 2:7. Es folgt noch ein Geschenk der unaufmerksamen spanischen Abwehr, das Stein zum 3:7 nutzt. Als der Schiedsrichter abpfeift, bricht ein Beifallssturm los. Er steigert sich zum Orkan, als die Frankfurter Spieler klatschend Spalier bilden, um den großartigen Siegern Anerkennung zu zollen.
Normal ist solch eine allgemeine Begeisterung natürlich nicht. Normal war allerdings auch nicht das damalige außergewöhnlich schöne Spiel, und normal sind auch nicht Mannschaften wie das große Real. Fußball-Alltag ist vielmehr das aggressive Zelebrieren von Parteilichkeit für eher durchschnittliche Mannschaften. In der Bundesliga sind vor allem die „reinen“ Fußballstadien gefürchtet, in denen die Ränge bis ans Spielfeld reichen. In solchen Stadien werden die Spieler des Gegners von der aufgeladenen Stimmung schier erdrückt. In Dortmund etwa können die Fans auf der Südtribüne mit ihrer Mannschaft manchmal zu einer schier unüberwindbaren psychischen Einheit verwachsen. Als es in England noch die „Ends“ und „Kurven“ gab, die mit nie versiegender Energie ihrer Mannschaft Power und dem Gegner weiche Knie verschafften, waren weniger die Stadien als solche, sondern bestimmte Bereiche in ihnen gefürchtet: Da war der Name Stretford End mindestens genauso bekannt wie der Name Old Trafford (Manchester United), und während manche nicht wissen, dass der FC Liverpool an der Anfield Road antritt, kennt jeder Fußballfan den Namen einiger Quadratmeter in diesem Stadion: „The (Spion) Kop“. Auf diesem nach einer besonders engen britischen Stellung im Burenkrieg benannten Fanblock standen die Fans einst so nahe beieinander, dass die Arme immer nach oben gereckt bleiben mussten, und wenn sie ihre „Reds“ klatschend anfeuerten, soll der Rasen gezittert haben. Man kann sich vorstellen, dass sich vor solcher Kulisse die Spieler eines Heimteams fühlen mögen, als ob ihnen zwei weitere Beine wüchsen.
Nicht immer funktioniert allerdings der Heimvorteil in die richtige Richtung. Manchmal kann es selbst in den größten Hochburgen der parteiischen Emotionen zu extremen Umkehrungen der Zuschauerwirkung kommen. Der wohl berühmteste Fall ist das entscheidende WM-Spiel am 16. Juli 1950, bei dem elf Kicker aus Uruguay nicht nur gegen eine brasilianische Supermannschaft, sondern auch noch gegen die Weltrekordzahl von 203.849 Zuschauern im Maracana-Stadion von Rio de Janeiro anzuspielen hatten. Erst nach dem Spiel konnte Uruguays Torwart Maspoli gelassen erklären: „Wir wussten, dass diese Kulisse Himmel und Hölle zugleich sein könnte. Sie wünschte Brasilien den Sieg, aber sie würde dieser Mannschaft auch kaum einen Fehler verzeihen.“ Als nach dem 1:1-Ausgleich „plötzliche Kühle auf den Rängen“ herrschte, will Maspoli gesehen haben, wie sich im Gesicht eines jeden Brasilianers „unglaublicher Schrecken“ spiegelte. Und nachdem sich das Stadion von seiner tiefen Depression wieder erholt hatte und das Dröhnen der Anfeuerung wieder auf Touren gekommen war, verstummte es kurz vor Schluss mit einem Schlag – Uruguays Ghiggia hatte ein unwiderstehliches Solo mit einem Schuss aus spitzem Winkel ins kurze Eck abgeschlossen. Während Torwart Barbosa geschlagen am Boden lag, herrschte lähmendes Entsetzen in dem Stadion, das als Fußball-Tempel errichtet worden war und sich nun in ein Leichenschauhaus verwandelt hatte. Später, als die grenzenlos erschütterten Trauergäste immer noch weinten, schlich der verhinderte Triumphator, Brasiliens Trainer Flavio Costa, als Kindermädchen verkleidet, von dannen. Vorher hätten alle nur von der großen Feier gesprochen, jammerte der geknickte Torwart Barbosa. „Das war ein gravierender Fehler und hat uns letztendlich das Genick gebrochen.“ Jahre später fand der Schütze des entscheidenden Tores, Alcide Eduardo Ghiggia, große Worte zur Umschreibung des denkwürdigen Ereignisses: „Es hat nur drei Personen gegeben, die das vollbesetzte Maracana-Stadion zum Schweigen bringen konnten: Frank Sinatra, Papst Johannes Paul II. und ich.“ Aber es war wohl mehr als nur ein schlichtes Schweigen. Für die Brasilianer waren es, wie der Journalist Carlos Maranhao schrieb, die „Augenblicke finsterster Stille seit der Ankunft der Portugiesen 1565“.
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