Aber Ruth — sie ist wie ein guter Sekundant bei der ersten Mensur, der jede Terz des Gegners für seinen Paukanten herausfängt — Ruth springt sofort mit der Antwort für Fred ein. „Weisst du, Tante,“ sagt sie leichthin, „wenn du nicht Johanna als ersten Steuermann zum Staubwischen hättest, wäre das Schiff schon längst untergegangen,“ und dann sieht sie sich mit einem sehr drolligen Blick nach allen Richtungen um. „Ich möchte es jedenfalls hier nicht tun.“
Ellen Stein lacht, und es zuckt ihr in den Fingern, Ruth die Wangen zu streicheln. Aber sie ist nun einmal seit langem zur Unzärtlichkeit verdammt. „Um dich ist es wirklich schade, Mädchen,“ sagt sie, und das ist der Schluss einer langen Gedankenkette, die unausgesprochen bleibt und dem Sinne nach lautet: Du hättest meine Tochter sein müssen. „Schade: welch edler Geist ist hier zerstört! Finden Sie es nicht auch manchmal, Herr Doktor?“
Fred will etwas besonders Feines sagen, aber Ruth weiss genau, dass ihm das nur selten gelingt. Er ist nicht ganz witzlos, hat Einfälle, aber in der Replik liegen nicht seine Meriten. „Geist kann ja zum Schluss jeder haben,“ beginnt er, aber seine Sekundantin hat schon seine Klinge aus der Partie geschlagen. „Hör mal, Tante,“ meint sie (jetzt ist doch die Luft dazu genug vorgewärmt), „du könntest zu Fred ruhig „du“ sagen. Ich tue es schon seit drei Monaten, trotzdem ich erst seit vierzehn Tagen heimlich mit ihm verlobt bin, und erst seit drei Tagen öffentlich.“ — Sie klemmt wieder das Monokel, das im Eifer der Schlacht herausgerutscht ist, ins Auge und verbeugt sich, grimassierend und lächelnd, nach allen Seiten. „Am zwooten zu Hause! Tütü, tata, tütaaa!“ — Aber Ruth hat doch die Atmosphäre im Zimmer stark überschätzt.
„Ach, wissen Sie, Herr Doktor, in unserer Familie sind wir nicht so schnell damit bei der Hand. Wir Holländer, heisst es, gehen nicht über das Eis eines Tages.“ Ellen Stein sagt das so nebenhin, während sie Fred einen Platz anweist, sich selbst in die Mitte setzt und mit einiger Spannung abwartet, wann es Ruth beliebt, zu kommen. Johanna hat ein silbernes Tablett mit einem alten silbernen englischen Teeservice, das Fred für ganz modern hält, hereingebracht und will sich noch etwas zu schaffen machen, denn sie möchte gern hören, was gesprochen wird, aber Ellen winkt ihr, zu verschwinden, und da trottet sie ab und entgleitet wieder durch die Tapetentür.
Ruth kommt, nachdem sie noch ein bisschen wie eine Katze neugierig und leise schnurrend im Zimmer herumgeschlendert ist — denn auch sie hat dieses Zimmer gern, würde es aber nie eingestehen —, zu ihrem Platz. „Fred, mein Junge,“ sagt sie, während sie alles unauffällig mustert, was der Tisch bietet, denn sie knabbert ja gern raffinierte Dinge, Süsses oder Salziges, wenn es nur etwas Besonderes ist. „Fred, mein Junge, schaff dir schnell einen Grossvater in Timbuktu an, du glaubst gar nicht, wie vornehm solch ein einziger Grossvater aus Holland eine ganze Berliner Familie sogar aus der Rauchstrasse machen kann. Und wenn es nun erst sogar zwei Grossväter sind!“
„Ruth, du entwickelst dich,“ ruft Ellen Stein. (Und so etwas wird nun einfach an den ersten besten, der sicher nicht der beste ist, verschleudert!) „Ich dachte bisher immer, du wärst nur eine solche Art von Gratiszugabe, die von dreihunderttausend aufwärts frei Haus mitgeliefert wird. Oder sollte ich mich da getäuscht haben? Nun aber setz dich mal, vielleicht gefällt dir das, was unter der Serviette ist, noch besser wie das, was auf dem Tisch ist. Man kann nie wissen.“
Ruth hebt sehr vorsichtig mit spitzen Fingern (es kann ja etwas Zerbrechliches sein, eine Flasche Cheramy zum Beispiel) die Serviette an einem ihrer Schwanenflügel hoch und sieht, zusammengerollt wie eine Schlange und glitzernd wie eine ganz giftige, ein altmodisches Kettenarmband, in dessen Gold Aquamarine wie zart violette Reiskörner die Zickzacklinien eines schillernden Rückenstreifs bilden. „O Gott, Tante Ellen,“ sagt sie und wird ganz unzeitgemäss rot, „das ist ja aus Grossmutters Brautschmuck. Wirklich, ich würde dir einen Kuss geben, wenn du für so etwas wärst. Gerade solche breiten Kettenarmbänder sind heute wieder das Letzte. Das kann man ruhig tragen. Weisst du, Fred, das zu meinem Mosaikmoirée, dem roten, mit den Goldsträhnen, als ob es eigens von Lettré dafür gearbeitet wäre ... Aber zu dem Kleidchen kann man es auch ganz gut nehmen.“
Sie hat es schon umgenestelt und schwenkt mit weiten Bewegungen, als stände sie auf dem Tennisplatz, ihren schlanken, langen, sehr wohlgeformten Arm hin und her über dem Tisch, so dass der schimmernde Streif der Aquamarine durch das warme Licht dieser sechs dicken Kerzen in den beiden Girandolen ständig anders und neu aufblitzt. „Gerade als ob es für mich gemacht wäre,“ ruft sie einmal über das andere. Ihr Profil ist dabei von den Wachslichtern angestrahlt, und ihr nussfarbenes, sehr blankes und gleichmässiges Haar, das in drei Wellen nach den Schläfen und zum schlanken und festen Hals, dessen Elfenbein Puder entweihen würde, sich legt, hat einen Rembrandtschimmer von Altgold in dieser Beleuchtung, von dem man nicht weiss, ob er von dem Licht nur kommt oder aus dem Dunkelbraun des Haares oszilliert ... ein Ton, der Ellen Stein entzückt: Gott, sind diese Mädchen heute schön, so schön waren wir doch nie. Und solch ein Mensch nimmt das als Selbstverständlichkeit hin. Aber dann sagt sie laut: „Nun siehst du, Ruth, solch ein holländischer Grossvater kann doch zu etwas gut sein!“ Und auch das hat einen, wenn auch nicht leicht erkennbaren Zusammenhang mit diesen ihren Gedanken.
Aber Ruth springt noch einmal auf und läuft zum Telephontisch vor dem Sofa. „Du, Tante, nimm’s mir nicht übel, ich muss noch schnell mal ins Abendblatt sehen, wer im Stockholmer Hallenturnier führt. Schweden holt mächtig auf,“ setzt sie hinzu und hält sogar das Beste, was sie vom Tisch erwischen konnte, vor Staunen und Schrecken darüber auf halbem Wege zu ihren etwas überroten Lippen an. „Deutschland macht gar nichts. Aber wenn dieser böse Kerl da nicht gekommen wäre, wäre ich jetzt auch dabei und könnte es vielleicht ’rausreissen.“ Sie lässt die Augen immer weiter über die gefaltete Zeitung huschen. „Glanzstoffe steigen wieder,“ sagt sie beruhigt. „Papa hat sie natürlich verkaufen wollen. Und was ist Neues im Theater los? Luci hat eine miserable Presse. Ich hab’s ihr aber gleich prophezeit.“
„Wollt ihr Donnerstag mit zu Richard III. kommen? Ihr seid hiermit feierlichst eingeladen. Das muss eine fabelhafte Besetzung werden.“
Ruth, die wieder zurückgekehrt ist, sieht ihrer Tante sehr erwartungsvoll nach dem Mund, beugt sich vor und lächelt sie freundlich an, so ungefähr wie man ein Kind anlächelt über den süssen Unsinn, den es in die Welt schwatzt. „Fred, ist sie nicht entzückend naiv, meine süsse Tante Ellen? Meine Lausanner Pensionsmutter war ein Abgrund von Verderbtheit gegen sie. Ich will doch nicht wissen, wenn ich ‚Theater‘ sage, wo man hingehen kann; ich will wissen, wo man nicht hingehen kann, wenn ich ‚Theater‘ sage.“
Aber Ellen Stein ist gar nicht böse. Denn sie kennt es genau, das ist so Ruths Art, zärtlich zu werden. „Aber kleine Ruth, da musst du mich nicht fragen, das weisst du ja viel besser als ich.“
„Und Donnerstag, nein, warte mal, Tante, so geehrt wir uns durch deine unser Niveau überschätzende Einladung fühlen, Donnerstag sind die Schlussrunden beim Sechstagerennen. Kontraktlich dürfen sie ohne mich nicht gefahren werden. Nachher gondeln wir auch noch ein Stündchen hin. Sollen wir dich mitnehmen, Tante? Es gehen gut drei Personen in den Wagen. Und wenn du dich mir nicht anvertrauen willst, hier, der Fred, der chauffeurt noch besser wie solch entgleister Leutnant.“
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