1 ...6 7 8 10 11 12 ...23 Wie wird sie mich auslachen, wenn sie mich hier finden, halb tot und verwirrt, dachte Blitz, wie werden wir beide darüber lachen... Und er würde das Geld zurücklegen, bevor El Jati und Alika gemerkt hatten, dass es fehlte. Aber wahrscheinlich hatten sie es schon gemerkt und wussten, dass er ein Dieb war. Er wollte nicht darüber nachdenken, was Alika wohl dazu gesagt hatte. El Jati geschah es recht, aber an Alika wollte Blitz lieber nicht denken.
Er konnte es hören, als das Boot anlegte. Die lauten Stimmen der Männer, das Wiehern von Pferden, die bis zum Ende der Verladung von den Fuhrwerken losgeschirrt worden waren, sogar die Schreie der Möwen erreichten ihn in der Dunkelheit und Enge seiner Kiste. Sein Lebensmut regte sich wieder. Jetzt war bald der Zeitpunkt da, auf den er gewartet hatte. Er musste aus seiner Kiste herausspringen und fliehen, bevor er auf einem Fuhrwerk landete, womöglich eingekeilt zwischen anderen schweren Kisten, aus denen er nie mit eigener Kraft herauskommen würde. Einige Tagesreisen bis zu irgendeinem Markt mitzufahren, war zwar verlockend, aber nur, wenn er die Fahrt nicht in diesem Sarg verbringen musste.
Die Arbeiter waren nun schon bis zu dem Stapel, in dem er sich befand, gekommen. Atemlos hielt er still, als sie die Kiste über ihm herabhoben, und als er dann selbst von kräftigen Händen in die Höhe gehoben und über den Steg nach draußen geschleppt wurde, sammelte er all seine Kraft. Vorsichtig schob er die Decke zurück, um zu sehen, wo er sich befand.
Das Licht blendete ihn und er hob den Kopf etwas höher. Es war zu früh, aber vielleicht wäre jeder Zeitpunkt ungünstig gewesen; hier am Hafen, wo so viele Menschen arbeiteten, war es nahezu unmöglich, nicht von irgendjemandem gesehen zu werden, wenn man aus einer Kiste kroch, in der sich Obst hätte befinden müssen.
»He, was...«
Blitz beschloss, auf der Stelle zu fliehen.
Womit er nicht gerechnet hatte, war die Erschwernis einer schnellen Flucht durch einen Körper, der stundenlang in verkrampfter Haltung in einer Kiste verbracht hatte. Seine Beine waren eingeschlafen und ihm war so schwindlig, dass er mehr aus der Kiste fiel, als dass er sprang. Sein Plan hatte so ausgesehen: Er würde aufspringen und rennen, bevor sie ihren Ärger über die leere Kiste an ihm auslassen konnten. Aber in der Realität stürzte er kopfüber nach unten, wobei er gleichzeitig versuchte, seinen Schultersack zu fassen zu kriegen, ohne den er nicht weit kommen würde, denn hier hatte er nicht nur Kleidung, eine Decke und ein wenig Proviant verstaut, sondern auch das gestohlene Geld. Als er sich dann aufrappelte und laufen wollte, wusste er nicht mehr, wo oben und unten war, taumelte gegen die Hafenarbeiter, die die nächste Kiste heranschleppten, und fand sich plötzlich im harten Griff eines sehr kräftigen Mannes wieder.
»Wo kommst du denn her, verdammt noch mal.«
Er konnte nicht sprechen, geschweige denn, dass er in der Lage war, sich zu wehren. Ihm war nur übel. Er beugte sich nach vorne und übergab sich auf die Schuhe des Arbeiters.
»Würde«, sagte Binajatja. »Das, worauf es ankommt, ist die Würde, die ein Mensch ausstrahlt und mit der man Schwierigkeiten erträgt.«
Mino nickte. Ihre Mutter hatte natürlich recht. Alles an ihr strahlte Würde aus, eine majestätische, hoheitsvolle Haltung. Ihrem Gesicht sah man nicht an, dass sie eben erst ihren ältesten Sohn an ein ungewisses Abenteuer verloren hatte. Sie ging stets aufrecht, mit festen, zielbewussten Schritten, niemals vernachlässigte sie ihre Kleidung, niemals klang ihre Stimme traurig oder gar unsicher.
»Sieh dich doch an«, sagte sie streng. »Wie siehst du aus? Was ist das da auf deinem Kopf – Heu? Du bist schmutzig, Mino, unerträglich schmutzig. Wenn wir eine Tischlerei hätten und du wärst voller Holzspäne, wäre das in Ordnung. Wären wir Fischer und du würdest nach Fisch riechen, würde dir keiner Vorwürfe machen. Aber wir handeln mit Ware, die andere Leute essen wollen. Selbst wenn du keinen einzigen Apfel berührst, wird man dich ansehen und die Nase rümpfen und sich seine Gedanken machen. Ich dulde nicht, dass du den Leuten den Appetit verdirbst.«
»Ja, Mutter.«
»Außerdem ist deine Kleidung zerrissen. Ist dir eigentlich egal, was die Leute über dich denken könnten? Du bist bald eine Frau. Zieht sich so eine anständige Frau an? Ist dir eigentlich klar, was man alles sieht?«
»Ich habe ihn gesucht«, sagte Mino leise. »Auf der ganzen Insel, überall.«
»Natürlich.« Ihre Stimme klang etwas milder. »Ich weiß doch. Aber das ist kein Grund, so auszusehen. Wenn dein Bruder noch da wäre, wäre es etwas anderes. Aber nun bist du meine Nachfolgerin. Du hast keine Zeit, um dich an diesen Gedanken zu gewöhnen. Du bist es jetzt. Jetzt und immer, jeden Tag. Immer, wenn dich irgendjemand sieht, sieht er meine Nachfolgerin. Er sieht unsere Gärten in dir. Über die Hälfte der Menschen auf dieser Insel lebt von dem, was wir hier anbauen. Du kannst es dir nicht mehr erlauben, dich wie ein Kind aufzuführen.«
»Ja, Mutter.«
»Solange Lexan da war, hat es mich nicht gestört, dass du dich mit diesem Blitz getroffen hast. Obwohl sein Ruf – nun ja. Aber jetzt, wo du meine Erbin bist, ist das etwas anderes. Du bist jetzt eine junge Frau. Es gibt keine Kinderfreundschaften, Mino. Es gibt nur noch junge Männer, die um dich werben und es ernst meinen, oder solche, die es nicht ernst meinen. Blitz gehört wohl ganz klar zu Letzteren.«
»Mutter, ich...«
»Dieser Junge taugt nichts. Es wäre für uns alle besser gewesen, wenn er auf dieses Schiff gegangen und Arima verlassen hätte.«
Mino öffnete den Mund, aber sie konnte nichts sagen. Sie fühlte sich so elend, dass sie nichts von all dem sagen konnte, was ihr auf der Zunge lag.
»Also, was ist das Wichtigste? Hast du es dir gemerkt?«
»Würde«, antwortete sie leise. Es war ein Wort, das ihrem Herzen fremd war. Sie erinnerte sich an Blitz’ Gesicht, als er erkannt hatte, dass sie ihn nicht aufs Schiff lassen wollte, und fragte sich, wo er jetzt wohl war und was er tat. Sie dachte an Lexan, während er packte, an ihren Streit. Irgendwo hinter dem Horizont glitt die Weiße Möwe über die Wellen.
Wofür war sie hiergeblieben – um Würde auszustrahlen?
Es war ein Fehler, dachte sie, und der Gedanke kam über sie wie ein Schmerz, heiß und kalt zugleich. Ich müsste dort sein, bei ihnen. Mit Blitz zusammen. Wir müssten beide auf dem Schiff sein. Oh Rin, was habe ich nur getan...
»Ich weiß, was Würde ist«, sagte sie leise. »Blitz hat mich für würdig befunden, seine Freundin zu sein. Lexan hielt mich für würdig, ihn auf seiner Reise nach Rinland zu begleiten. Ich habe sie beide enttäuscht.«
»Was?«, fragte Binajatja zerstreut. Sie hörte ihr schon nicht mehr zu, während sie ihre Stiefel zuschnürte, um hinaus auf die Plantagen zu gehen. »Wir müssen überprüfen, ob die Rote Glocke schon pflückreif ist«, sagte sie. »Du solltest mitkommen. Eventuell lassen wir sie noch drei, vier Tage am Baum.«
»Ich komme nach«, versprach sie.
Aber danach stand sie lange am Fenster und starrte hinaus. Das Meer rief. Sie hätte nicht sagen können, ob sie gehofft hatte, dass es jetzt, wo ihr Bruder fort war, aufhören würde zu rufen. Aber es sang immer noch dasselbe wortlose Lied, in der Brandung hörte sie den Ruf, dem sie nicht entkommen konnte, niemals. Sie nahm die geschnitzte Möwe in die Hand und spürte die hölzernen Federn unter ihren Fingern.
Als sie mit ihm fertig waren, ließen sie ihn auf der Erde liegen. Er fühlte den Staub unter seiner Wange. Nun würde auch sein rechtes Auge zuschwellen; das andere blaue Auge hatte El Jati ihm gestern verpasst. Vorsichtig befühlte er seine Zähne mit der Zunge. Sein Mund war voller Blut, aber die Zähne waren noch alle da. Einer seiner Vorderzähne schien etwas gelockert zu sein. Inständig hoffte er, dass er wieder anwachsen würde. Ob die Nase gebrochen war, konnte er jetzt noch nicht mit Sicherheit sagen, aber seine Rippen fühlten sich an, als wären sie es. Er spürte den stechenden Schmerz mit jedem Atemzug.
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