Er saß in der Ernte eines herrlichen Sommers, und wenn er sich bewegte, hörte er die Scherben knirschen. Er konnte nicht sehen, ob die klebrige Flüssigkeit an seinen Händen Blut war oder der Saft der Pfirsiche. Vorsichtig wischte er sich über sein Gesicht.
Es hatte eine Zeit gegeben, da war er häufig durch die Luke hinuntergestiegen und hatte sich hier unten verkrochen. Immer wenn ein heftiges Gewitter über die Insel tobte, hatte er sich in diesem Loch hier versteckt, wo er die grellen Blitze nicht sah. Die erderschütternde Wucht des Donners konnte er nicht so leicht aussperren, und so hatte er hier gehockt und gewimmert, bis Alika kam und ein Glas Pfirsiche für ihn öffnete oder eine Flasche süßen Apfelmost. Sie hatte sich neben ihn gesetzt und ihm erklärt, warum er sich nicht fürchten musste, er, dieser Junge, der sich sonst vor nichts scheute. Und er hatte ihr zugehört und sich gewünscht, seine Mutter wäre noch am Leben.
»Blitz?« Er hatte darauf gehofft, dass es Alika sein würde, die die Falltür öffnete. Von allen Menschen dieser Welt war El Jati im Moment derjenige, den er am meisten hasste. Abgesehen vielleicht von Mino.
Er blinzelte in die Helligkeit hinauf und wusste, dass sie sich von oben die Bescherung ansah, die er angerichtet hatte. Aber sie sagte nichts dazu, sie seufzte nicht einmal.
»Du kannst raufkommen.«
»Ist er weg?«, fragte Blitz vorsichtshalber.
»Ja. Ja, er ist zurück in die Plantage gegangen. Er wird mit Sicherheit bis zur Dunkelheit fortbleiben.«
Vorsichtig stieg Blitz die schmale Holzstiege hoch. Ihm tat alles weh, aber er konnte jetzt sehen, dass er nicht, wie befürchtet, von oben bis unten voller Blut war. Alika musterte ihn kritisch, als er aus der Öffnung kletterte.
»Du brauchst ein Bad.«
»Nein«, sagte er leise, »das ist ganz bestimmt nicht das, was ich am dringendsten brauche.«
Sie sah ihn an und nickte.
Er ging über den glatten Holzfußboden zur Tür und hinterließ dabei klebrige Spuren. Dass er ihr Arbeit machte, tat ihm leid, aber es ließ sich nicht ändern. Er wollte kein Bad. Er wollte sich nicht in einer Schüssel waschen und sich umziehen und dann tun, als wäre nie etwas gewesen.
»Wohin gehst du?«, fragte Alika, als er seine Hand auf die Türklinke legte.
»Ans Meer«, antwortete Blitz kurz.
»Das Schiff hat schon abgelegt.«
Als wenn er das nicht gewusst hätte; lange genug hatten sie ihn dort unten sitzen lassen. Und doch gab es ihm einen Stich, es aus ihrem Mund zu hören, als hätte die Hoffnung ihn bis zuletzt nicht verlassen. Bis jetzt hatte er insgeheim geglaubt, es könnte vielleicht doch noch im Hafen ankern und auf ihn warten.
Er nickte, aber er öffnete trotzdem die Tür.
»Blitz...«
»Ich weiß, wie ich aussehe«, sagte er schroffer als nötig. »Aber ich gehe durch die Dünen, niemand wird mich sehen. Ich will nur ein wenig schwimmen. Oder ist das jetzt vielleicht auch schon verboten?«
Alika kam ihm nach. »Dein Bruder hat dir wahrscheinlich das Leben gerettet, Blitz.«
»Wahrscheinlich? Genau das ist es doch, Alika! Du kannst nicht wissen, ob wir es nicht doch geschafft hätten, Rinland zu finden. Was ist mit Lexan? Bis vor kurzem habt ihr noch alle gesagt, was für ein begabter junger Mann er doch sei... Und Bajad, er hat schon auf vielen Schiffen Erfahrungen gesammelt, er kennt sich doch aus mit dem Meer. Sogar Jußait durfte fahren und sie ist jünger als ich!«
»Ihre Großmutter hat sie gehen lassen, aber glücklich ist sie darüber auch nicht gewesen. Jußait hat gedroht, dass sie sonst mit dem erstbesten Mann durchbrennt, und da war Liravah doch lieber, dass sie bei Lexan bleibt, der ist wenigstens grundanständig. Und was Bajad angeht, was glaubst du, warum er auf so vielen verschiedenen Schiffen gedient hat? Weil er immer wieder entlassen wurde, deshalb. Und Lexan – natürlich ist er begabt und wir alle hätten gerne gesehen, dass er Binajatjas Plantagen eines Tages übernimmt. Aber er hat nie verwunden, dass Re ihn als Heranwachsenden verlassen hat. Blitz, sehr viele auf den Inseln haben keinen Vater mehr. Das ist so, wenn die Familien vom Fischfang leben. Aus diesem Grund sind wir doch hierher nach Arima gekommen, damit wir uns hier vom Obstanbau ernähren können. Damit El Jati nicht dasselbe Schicksal ereilt. Oder dich.«
»Dieses Schiff war mein Schicksal«, flüsterte Blitz.
»Auch wenn Lexan sich hier wie ein Prinz aufgeführt hat, hatte er nicht das Recht, dich mitzunehmen. Nicht ohne El Jatis Erlaubnis.« Sie zögerte. »Manchmal«, sagte sie leise, »frage ich mich, wen von uns beiden Jati Ahinehl nennen würde, dich oder mich. Ach Blitz, er liebt dich so sehr...«
Das Wort »Ahinehl« stammte aus der Priestersprache Saliens. Es bedeutete: von allen am meisten Geliebter. Jedes Mal, wenn Alika es aussprach, lagen Sehnsucht und Staunen in ihrer Stimme.
»Unsinn!«, stieß er hervor. Er wollte nichts mehr hören. Er wollte nicht, dass Alika ihren Mann rechtfertigte und auch noch schlecht über seine Freunde sprach, er wollte nicht, dass sie ihn mit ihrer Vernunft und ihrem Mitgefühl überschüttete. Er wollte nichts davon hören, wie sehr El Jati ihn liebte. War Alika nicht eine Kriegerin? Sie hätte für ihn kämpfen können, aber sie hatte es nicht getan. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und schlug den Pfad zu den Dünen ein.
Das Meer war so vertraut und doch kam es ihm an diesem Abend fremd vor, kühl und abweisend. Wochenlang war es das Meer gewesen, das ihn mitnehmen würde nach Rinland, das Meer, das zugleich Herausforderung und Abenteuer war und die Chance auf ein neues Leben, auf einen Aufbruch ohne Rückkehr. Heute war es nichts als Wasser, eine riesige, unfassbare Menge Wasser, salzig wie die Tränen, die er im Keller geweint hatte.
Er streifte seine Schuhe ab und spülte sie in den Wellen aus, dann watete er hinein. Es war kühl hier am Ufer; nur wenige Meter weiter zog der warme Strom vorbei, dem die Glücklichen Inseln ihr warmes Klima verdankten und ihr im ganzen Kaiserreich berühmtes Obst. Auf Neiara wurde auch Wein angebaut, aber hier auf Arima waren es die Früchte, auf denen sein Bruder und seine Schwägerin und viele andere ihr Leben aufgebaut hatten. Wie eine Königin herrschte Binajatja, Minos und Lexans Mutter, über die Insel, waren es doch ihre Vorfahren, die sich zuerst von der Fischerei abgewandt und Gärten angelegt hatten. Die Plantagen ernährten einen großen Teil der Inselbewohner, die übrigen lebten weiterhin vom Fischfang. Einer dieser Fischer war Re gewesen, ihr gewählter Anführer, und Blitz hatte sich erzählen lassen, dass es nie ein größeres Fest auf Arima gegeben hatte als die Hochzeit des Fischerkönigs mit der Apfelkönigin.
Als er spürte, wie ihm das warme Wasser um die Beine spülte, schloss Blitz die Augen. Er wusste genau, bis zu welcher Stelle er sich treiben lassen durfte, bevor er in die gefährliche Strömung geriet, die ihn mit unwiderstehlicher Gewalt an die Klippen schmettern würde. So ruhig war es hier, niemand, der sich hier nicht auskannte, würde die Gefahr von sich aus erkennen. Das Wasser war so warm und beruhigend... Noch ein wenig, noch ein wenig treiben lassen... Blitz öffnete die Augen und sah, dass er schon längst hätte umkehren müssen. Es erschreckte ihn nicht, denn im Grunde hatte er es so gewollt. Er wollte die Gefahr spüren, er wollte den Elementen sein Leben abringen, immer und immer wieder, und dabei lebendig sein, am Rand des Todes. Seit jener Nacht am Steilhang, der er seinen Rufnamen verdankte, hatte er die Herausforderung gesucht – mit dem Wasser, dem Wetter, dem Leben selbst. Damals hatte ihn das Gewitter draußen überrascht. So sehr hatte er immer darauf geachtet, in der Nähe des Hauses zu sein, wenn ein Sturm aufzog, um so schnell wie möglich in seinem Schutzkeller zu verschwinden, aber dieses Mal hatte er nicht auf den Himmel geschaut. Er war mit einem Auftrag in eins der südlich gelegenen Dörfer geschickt worden, hatte auf dem Rückweg die Zeit vergessen und einen Abstecher zu den Steilklippen gemacht, dorthin, wo sich die Insel am höchsten erhob und als steiler Fels über den Strand ragte. Wenn man von hier nach unten sah – wenn man denn schwindelfrei genug war, um so nah an die gefährliche Kante zu treten – konnte man dort unten bei Ebbe ein kleines Stück Strand sehen, übersät von Steinen, Muscheln und verschiedenartigem Strandgut. Wenn die Flut hereinkam, brach sich das Wasser ohrenbetäubend laut an den Felsen. Vielleicht hatte er aus diesem Grund den Donner nicht gleich gehört, als er dort lag, bäuchlings, und fasziniert nach unten starrte. Als das Gewitter dann mit Macht lostobte, war es zu spät, um nach Hause zu laufen. Er wagte nicht einmal, sich aufzurichten, hier oben, am höchsten Punkt der Insel, wo nichts wuchs außer Gras und niedrigem Gebüsch. Während die Blitze über ihm zuckten und den Himmel mit glühenden Fingern zerrissen, hatte er das Gesicht ins nasse Gras gepresst und um sein Leben gezittert. Doch es hörte nicht auf, lange nicht, und schließlich hatte er sich auf den Rücken gedreht und dort oben auf dem Steilhang liegend dem Sturm ins Gesicht geblickt. Er hatte die Blitze gesehen und sich von ihrer Macht blenden lassen, er hatte das Krachen des Donners mit seinem ganzen Leib gespürt, und während der Regen auf ihn herunterprasselte, waren seine Tränen versiegt. Als ein anderer war er früh am nächsten Morgen nach Hause zurückgekehrt, wo El Jati und Alika schon sorgenvoll auf ihn warteten. Seine Begeisterung über das, was er erlebt und gefühlt hatte – tagelang konnte er von nichts anderem reden –, brachte ihm den Namen »Jahalik«, Schwarzer Blitz, ein und bald rief ihn niemand mehr »Ja-laieng«, Schwarzer Held, den Namen, den seine Mutter ihm gegeben hatte. Wenig später schon besuchte er den Steilhang wieder, diesmal mit einem Seil, und suchte nach einem Weg, um hinunterzukommen. Allein oder mit seinen Freunden erprobte er die halsbrecherischsten Möglichkeiten, den abgeschiedenen Strand zu erreichen und die vermuteten Schätze zu bergen, die die Ebbe ihnen enthüllte, bis El Jati davon erfuhr und es ihm streng verbot – ohne zu ahnen, dass es Blitz schon mehrere Male gelungen war, hinabzusteigen. Außer einigen besonders schönen, großen Muscheln hatte er nichts mitgebracht, doch diese verwahrte er voller Stolz in seinem Zimmer.
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