Es kostete Blitz all seine Kraft, gegen die Strömung anzukämpfen. Er vergaß seine Müdigkeit, seine Schmerzen. Es war nicht mehr das Meer, dem er sein Leben abrang, sondern El Jati, es war das Schiff, dem er nachschwamm, es war Rinland, das er suchte. Nur wenige Meter vom Ufer entfernt rang er mit Kräften, die größer waren als seine eigenen, und obwohl er gewusst hatte, worauf er sich einließ, überraschte ihn wie jedes Mal die Aussicht auf den Tod von neuem. Dieser Moment der Klarheit, in dem ihm aufging, dass er vielleicht doch zu weit gegangen war; der Augenblick, in dem aus dem Spiel tödlicher Ernst wurde, war ihm nicht unbekannt und doch war es jedes Mal anders, war es eine Überraschung, zugleich erschreckend und wunderbar. Er fühlte die Kraft in seinen Armen und Beinen, die salzige Luft in seinen Lungen, während er um sein Leben kämpfte, lebendiger als je zuvor. Wie um alles in der Welt kann El Jati nur glauben, er könnte mich beschützen?, dachte er wütend. Er hat mir das Leben gerettet? Es war lächerlich.
Er schlug hart mit dem Knie gegen einen Stein und klammerte sich fest, um seine Kräfte zu sammeln, bevor er sich erneut der Strömung auslieferte. Diesmal musste er es schaffen, dem Sog zu entkommen. Er war schon zu weit abgedriftet; noch ein paar Meter weiter und er würde nicht die geringste Chance haben, ans Ufer zu gelangen.
Während er sich ausruhte, während er atmete, tief und gierig, spürte er seine Wut verebben. Er klammerte sich an den Felsen und lachte leise.
»Dies ist mein Leben!«, rief er laut. »Mein Leben und mein Tod. Jati, das ist meins! Meins!« Der Gedanke an das unerreichbare Schiff schmerzte noch immer. Etwas war in ihm, das wusste, dass es nie aufhören würde wehzutun. Selbst wenn irgendein Sturm die Überreste der Weißen Möwe und die Leichen seiner Freunde anspülte, würde er es noch bedauern, nicht mit an Bord gewesen zu sein, auf dieser Reise mit dem großartigsten Ziel, das es geben konnte. Es wäre wie ein neues Leben gewesen, mit dabei zu sein, die Fortsetzung ihres wunderbaren Sommers. Aber wenn El Jati glaubte, dass er jetzt wieder der gehorsame kleine Bruder sein würde, täuschte er sich. Gewaltig.
Der Entschluss, auf jeden Fall etwas Neues zu beginnen, selbst wenn er noch gar nicht hätte sagen können, was er plante, gab ihm neuen Auftrieb. Er ließ den Felsen los und spürte, wie die Strömung an ihm zerrte. Dann begann er zu schwimmen und legte alles, was er hatte, in seine schnellen, kraftvollen Bewegungen.
Es reichte nicht. Einen Moment lang war ihm wieder der Tod nah, das Bewusstsein, dass er tatsächlich hier und jetzt sterben konnte. Dann fühlte er kälteres Wasser vor sich. Das letzte Mal sammelte er seine ganze Kraft und warf sich aus dem Strom. Er war entkommen.
Keuchend schleppte er sich ans Ufer und ließ sich aufs Gras fallen. Die Dämmerung senkte sich bereits herab und er wusste, dass er sofort nach Hause gehen musste, wenn er nicht noch mehr Ärger bekommen wollte. Einen Moment stellte er sich vor, wie es wäre, jetzt noch Liri zu besuchen, seine süße kleine Freundin, die ihm mit Sicherheit erlauben würde, in ihrem Bett zu schlafen. Doch dann fiel ihm ein, dass er sich bereits von ihr verabschiedet hatte, in dem Glauben, dass er heute mit der Weißen Möwe abreisen würde, und wie sie geweint und ihn beschimpft hatte. An noch mehr Streit hatte er an diesem kräftezehrenden Tag keinen Bedarf. Blieb nur zu hoffen, dass El Jati ihm aus dem Weg ging.
Der Wind zerrte an seinen nassen Kleidern und ließ ihn frösteln. Er erhob sich, suchte nach seinen Schuhen und ging barfuß über den sandigen Weg zurück.
Binajatja beugte sich über die Bücher. Der gelbliche Schein der Lampe fiel auf lange Reihen von Zahlen, denen sie eine nach der anderen hinzufügte. Sie kaute am Ende des Stiftes und runzelte die Stirn, aber als Mino klopfte und eintrat, lächelte sie.
»Vielleicht sollte ich dich das tun lassen«, sagte sie. »Du bist alt genug.«
»Du weißt doch, dass ich diese kleine Schrift nicht lesen kann«, meinte das Mädchen leise, aber sie kämpfte darum, ihr Lächeln aufrechtzuerhalten.
»Wir werden uns daran gewöhnen, dass er weg ist«, behauptete ihre Mutter. Ihre Stimme klang so überzeugend, dass sie ihr fast geglaubt hätte, aber dann fügte Binajatja hinzu: »Wir müssen es«, mit einer Bitterkeit, die ihren Schmerz verriet. Tränen hätte Mino noch besser verstehen können, aber die Apfelkönigin gehörte nicht zu den Frauen, die über ihrem Leid weinten. Sie biss die Zähne zusammen und machte weiter.
Ach Lexan, dachte Mino und fühlte wieder Groll in sich aufsteigen, aber sie war nicht hergekommen, um über ihren Bruder zu reden.
»Mutter«, begann sie, zögernd, denn ihr war bewusst, dass sie ihr Anliegen zu keiner günstigen Stunde vorbrachte, »was ich dich fragen wollte...«
»Ja?«
»Könnten wir Blitz nicht eine andere Arbeit geben? Das Pflücken langweilt ihn, das weiß ich.«
»Und woran hast du gedacht?« Sie blickte ihre Tochter aufmerksam an und weder ihr Gesicht noch ihre Stimme verrieten, was sie dachte. Aber Mino kannte sie gut genug, um ihre Missbilligung zu spüren.
»Ich weiß nicht, ich dachte... Könnten wir nicht die Fracht nach Deret-Aif begleiten? Du hast unlängst noch gesagt, dass dir Männer zum Entladen auf den Märkten fehlen.«
»Wir?«
Mino begann zu schwitzen, wie immer, wenn ihre Mutter sie so ansah. »Nun, ich dachte, wir beide, Blitz und ich...«
»Nein«, sagte Binajatja und schüttelte den Kopf. »Ich habe gesagt, ich brauche Männer dafür. Starke Männer, keine Jungen. Und vor allem keine Mädchen. Dich brauche ich hier, Mino. Jetzt, wo Lexan nicht mehr da ist, musst du dich mit der Buchführung vertraut machen.«
Mino nickte. Irgendwie hatte sie gewusst, dass sie das zu hören bekommen würde. Es war ein schöner Traum gewesen, dass sie und Blitz sich auf eine gemeinsame Reise ins Innere des Landes machten und dort ihr Band der Freundschaft erneuerten, bis sie wieder das waren, was sie sein mussten: Freunde. Sie seufzte innerlich. Leider nur Freunde.
»Und Blitz?«, fragte sie vorsichtig. »Könnte er nicht wenigstens...?«
Vielleicht würde er ihr dann verzeihen, wenn er die Gelegenheit bekam, etwas von der Welt zu sehen. Mino wusste, wie rastlos Blitz war und wie sehr es ihn in die Ferne zog.
»Blitz? Das ist doch nicht dein Ernst.« Binajatja schüttelte den Kopf; diesmal zeigte sie ihren Ärger überdeutlich. »Zuverlässigkeit: nicht vorhanden. Verantwortungsbewusstsein: nicht vorhanden. Die Fähigkeit, sich den Anweisungen von Vorgesetzten unterzuordnen: nicht vorhanden. Was soll ich mit einem wie ihm machen? Ich werde ihn entlassen und ganz bestimmt nicht befördern. Sei so gut und richte ihm das aus.«
»Ich soll was?«, fragte Mino entsetzt.
»Sag es ihm. Du kennst ihn, du weißt, wie du es ihm beibringen kannst. Wir beide leiten diese Gärten, Mino, du und ich. Wir können keine Arbeiter gebrauchen, die ihre Aufgabe nicht ernst nehmen. Also geh und sag es ihm.«
Mino ließ den Kopf hängen und ging mit schleppenden Schritten hinaus; die Aufgabe schien an ihren Füßen zu hängen, schwer wie ein Bleigewicht.
Ich hätte ihn gehen lassen müssen, dachte sie auf einmal, aber nun ist es zu spät.
Sie trat aus der Haustür und blickte in den Sternenhimmel über sich. Die Luft war warm und erfüllt von vertrauten Gerüchen nach Meer und Blumen. Der feine Kies des Pfades knirschte unter ihren Schuhsohlen, während sie den Weg an den Gärten vorbei zum Wald einschlug. Selbst bis hierhin konnte sie das Rauschen der Brandung hören, dieses Lied, das sie nie verließ, das so sehr mit ihr verbunden war, dass sie sich nicht vorstellen konnte, es könnte je aufhören. Deret-Aif, dachte sie. Wie wäre es, mit den Wagen durchs Kaiserreich zu ziehen, auf ihren gepflasterten Straßen, und die Märkte aufzusuchen, vielleicht sogar bis nach Aifa, dem Land des Kaisers, bis in die große Stadt Kirifas, ins Herz des Reichs, wo Kaiser Kanuna El Schattik Hof hielt. Wie würde es sein, durch die riesigen Wälder zu reiten, hinter sich die duftende Fracht. Das war ihr gemeinsamer Traum gewesen, ihrer und Blitz’ Traum. Nicht das Schiff und nicht das Meer. Bevor Lexan Blitz dafür begeistert hatte, mit der Weißen Möwe nach Rinland zu fahren, hatten sie beide immer davon gesprochen, dass sie eines Tages das Festland erkunden würden. Sie würden eintauchen in die Wälder und Berglandschaften, sie würden die Städte sehen und die großen Flüsse, die ins Meer mündeten, sie würden auf den Märkten exotische Früchte kosten und fremde Gewürze riechen, süß und scharf, sie würden in helle und dunkle Gesichter blicken und die Schönheit der Mädchen vergleichen. Und vielleicht würden sie sogar den Riesenkaiser selbst sehen und endlich wissen, ob er wirklich so groß war wie zwei Männer...
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