1 ...7 8 9 11 12 13 ...23 Die Stimmen der Männer drangen von weitem an sein Ohr. Sie hatten ihn verprügelt und ihm sein Geld abgenommen, als Entschädigung für die leere Kiste, die sie umsonst transportiert hatten, und ihn dann am Rand liegenlassen, wo er sie nicht beim Entladen und Beladen störte. Er glaubte nicht, dass irgendjemand sich die Mühe machen würde, ihn mit aufs Schiff zu nehmen und nach Arima zurückzubringen. Er hatte jetzt kein Geld mehr, um die Rückreise zu bezahlen, und zum blinden Passagier eignete er sich in seinem jetzigen Zustand auch nicht. Das Einzige, was ihm zu tun blieb, war, jemanden zu bitten, seinen Bruder auf Arima zu benachrichtigen. El Jati würde sofort kommen und ihn holen, daran gab es keinen Zweifel. Er war sich sicher, dass El Jati sofort alles stehen und liegen lassen würde, um herzukommen und ihn nach Hause zu bringen, und diese Sicherheit beschämte ihn. So wie er aussah, würde sein Bruder sogar auf Prügel verzichten. Vielleicht würde er den Kopf schütteln, und Alika würde ihm zuflüstern, sich mit Vorwürfen zurückzuhalten. Die ersten Tage würden still sein, während er im Bett lag und sich erholte und jeder sich bemühte, alles zu vermeiden, was in einen Streit ausarten könnte. Sie würden miteinander umgehen, als könnte ein lautes Wort mehr wehtun als eine blutende Nase. Wahrscheinlich würden sie ihn nicht einmal nach dem Geld fragen. Und nach einiger Zeit würde alles so sein wie vorher.
Mühsam rappelte Blitz sich auf. Der Platz leerte sich. Die ersten Fuhrwerke waren schon abgefahren, die letzten waren mit dem Beladen fertig; die Männer holten bereits die Pferde. Niemand achtete auf ihn, während er seine verstreuten Habseligkeiten einsammelte und sie in den zerrissenen Schultersack stopfte. Sein Kopf schmerzte so, dass er es kaum fertigbrachte, sich zu bücken. Er schleifte den Beutel hinter sich her, fort vom Hafengelände, ohne zu wissen, wohin.
»He! He, du!«
Einer der Fahrer setzte den Eimer ab, aus dem sein Pferd gerade getrunken hatte. »Auch einen Schluck?«
Er stolperte auf das Wasser zu, ohne seine Füße beherrschen zu können, beugte sich darüber und trank. Bis jetzt hatte er nicht gewusst, wie durstig er war. Vorsichtig benetzte er sein Gesicht mit dem kühlen Wasser.
»Ich könnte noch jemanden gebrauchen, der mitfährt«, sagte der Mann. »Ich muss nach Laring, durch die Wälder. Bist du verletzt? Wenn du krank bist, kann ich dich natürlich nicht brauchen.«
»Ich bin nicht krank«, versicherte Blitz. Das Gesicht würde von selbst heilen. Mit blauen Flecken kannte er sich aus. Wenn er sich wenig bewegte, würde auch die geprellte Rippe wenig Probleme machen. Der Schmerz musste ausgehalten werden, und auch das ging vorbei. Es war nicht seine erste Prügelei, aber er wünschte sich, die anderen hätten auch einstecken müssen. Er hatte ihnen nicht zeigen können, was er konnte, und das ärgerte ihn mittlerweile am meisten.
»Es war unfair«, sagte er, während er auf den Kutschbock stieg. »Ich bin eigentlich ganz gut, was das Austeilen angeht.«
»Na, hoffentlich«, meinte der Mann. »Wir müssen durch Räubergebiet. Eigentlich fährt Wilm mit mir, aber er ist ausgefallen. Es ist Wahnsinn, allein zu fahren, aber ich dachte schon, mir bleibt nichts anderes übrig. Kennst du dich mit Pferden aus?«
Blitz nickte. Er hatte absolut keine Ahnung von Tieren, aber Nicken war nicht Lügen.
»Nun denn, dann wollen wir mal.« Er schwang die Peitsche und die Pferde setzten sich in Bewegung. »Ich bin Barn.«
Blitz lehnte sich vorsichtig an; jede Erschütterung verursachte ihm solche Schmerzen, dass ihm wieder übel wurde. »Ich bin Jahalik.«
»Heißt das nicht Schwarzer Blitz? Das ist doch ein Pferdename! Wenn das kein gutes Zeichen ist!« Schon jetzt war zu merken, dass Barn ein lustiger Mensch war, der gerne und ausgiebig, laut und dröhnend lachte. Blitz sagte nichts. Er schloss die geschwollenen Augen und überließ sich dem Schaukeln der Kutsche; fast konnte er glauben, dass dies die Weiße Möwe war, die ihn nach Rinland brachte.
Sie liefen am Strand entlang. Der Sand war weiß und fein, und es war eine Wohltat, ihn unter der Haut zu spüren. Scharfe Muschelschalen, kleine Krebse und angeschwemmte Quallen machten aus ihrem Wettlauf ein Hindernisrennen. Mino drehte sich um und sah, dass Blitz über das Gras lief, das fast bis zu den Wellen reichte, ein grünlicher Teppich, den jemand über die Dünen geworfen hatte. So hatten wir das nicht abgemacht, wollte sie rufen. In ihre eigenen Füße bohrten sich die Splitter einer zerbrochenen Muschel .
So nicht, sagte sie, wir wollten beide denselben Weg nehmen, durch das Wasser, wir beide... Blitz lachte .
Das Gras ist grüner, sagte er rätselhaft .
Mino fuhr hoch und sah wieder, wo sie sich befand. Nicht in ihrem Zimmer, sondern in der Baumhütte, wie jede der vergangenen Nächte. Falls ihre Mutter davon wusste, schwieg sie jedenfalls darüber. Sie würde nicht annehmen, dass Mino sich mit einem jungen Mann aus dem Dorf traf – Mädchen wie sie hatten keine solchen Freunde. Mädchen wie sie hatten nur Kinderfreunde, mit denen sie redeten und lachten und von Abenteuern träumten. Ja, es würde noch schwierig werden, einen Mann zu finden für die Erbin der Gärten...
Jeden Abend kam sie den Pfad herauf hierher, unter die Bäume, und legte sich zwischen die Decken, aus denen sie jedes Mal die Spinnen schütteln musste. Am Tag gehorchte sie ihrer Mutter, aber die Nacht gehörte ihr und den Träumen. Sie hielt die hölzerne Möwe in der Hand wie eine Waffe gegen die Schrecken der Nacht. In der Nacht stürzte das fürchterliche Bedauern über das, was sie getan hatte, sich auf sie wie ein Ungeheuer, und sie lag da und weinte und wartete, bis es verging, bis sie wieder atmen konnte. Ich müsste auf diesem Schiff sein. Oh Rin, ich müsste dabei sein, bei Lexan, mit Blitz, auf dem Weg übers Meer...
Manchmal waren die Nächte gnädig zu ihr. Manchmal schenkten ihr ihre Träume eine kurze Zeitspanne, in der sie glücklich war. Dann befand sie sich auf der Weißen Möwe und segelte mit Lexan nach Westen, der untergehenden Sonne nach. Bajad lächelte und hielt ihre Hand, ihre kleine, warme Hand, mit der sie, wie er einmal bemerkt hatte, so erstaunlich kräftig und geschickt zupacken konnte. Sie warf ihr weißes Haar zurück, auf dem der Glanz der Sterne lag. Bajad sang eins seiner traurigen Seemannslieder, die Augen voller Tränen der Rührung über seinen eigenen Gesang. Lexan schwieg, aber auf seinem Gesicht lag ein Glühen der Erwartung, und er blickte nach vorne, dem Horizont entgegen. Immer, wenn Mino von der Weißen Möwe träumte, blickte Lexan nach vorne, niemals zurück.
Manchmal, wie heute, träumte sie von Blitz. Sie hätte ihn gerne auf seiner Reise wohin auch immer begleitet, aber in ihren Träumen kehrte sie nur in ihre gemeinsame Kindheit zurück. Nicht einmal im Traum gelang es ihr, Blitz zu begleiten.
Und der Schrecken kehrte zu ihr zurück. Ich habe ihn vertrieben... Wir müssten beide auf dem Schiff sein, aber ich habe ihn vertrieben und nun werden die Glücklichen Inseln nie mehr glücklich sein... Ich werde nie wieder glücklich sein...
Es war unfassbar, dass sie dazu fähig gewesen war, Blitz so etwas anzutun. Unfassbar und unentschuldbar, und, das war das Schlimmste, sie konnte es nicht mehr rückgängig machen. Sie konnte ihn ja nicht einmal um Verzeihung bitten. Sie hatte ihn zwingen wollen, auf der Insel zu bleiben, bei ihr, und stattdessen hatte sie ihn für immer verloren.
Als sie von dem Vorfall im Hafen gehört hatte – Binajatja hatte ihr beim Essen davon erzählt, ihre Stimme voller Missbilligung –, hatte Mino natürlich gleich gewusst, dass es Blitz gewesen war, dieser blinde Passagier, den die Männer zusammengeschlagen hatten. Hoffnung und zugleich Bedauern brannten in ihr auf. Sie sprang auf, ohne auf ihre Mutter zu achten – »Mino, bleib hier! Mino, du kannst jetzt nicht...« –, und war zu El Jati und Alika gerannt.
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