Mino lächelte, während sie unter den Bäumen ging und sich unter die tiefen Äste bückte, und beim Lächeln spürte sie wieder den Riss in ihrer Lippe. Sie wusste, warum ihre Mutter Blitz entlassen wollte, obwohl sie nicht gefragt hatte, mit wem sie sich geprügelt hatte. Ein Junge, der ein Mädchen schlägt... Es gab wenige Dinge, die auf der Insel Arima lange verborgen blieben.
Die kleine Hütte unter den weit herabhängenden Ästen des alten Baumes gehörte jedoch dazu. Die Obstbäume waren klein und knorrig, sorgsam beschnitten, aber der einzige Wald auf der Insel wucherte und wuchs kreuz und quer, ein Baum so unbändig wie der andere, ein Geflecht aus den unterschiedlichsten Stämmen und Ästen, von Strauchwerk und Brombeergestrüpp unterlegt. Es war ein Stück Wildnis, und dieser Baum am Waldrand war – jedenfalls, als sie noch Kinder gewesen waren – der König der Bäume.
Mino schob die Zweige beiseite und trat in den Raum darunter, der sich wie eine Kuppel über ihr wölbte. Die Hütte hatten sie in die Astgabel gebaut, die so breit und flach war wie eine ausgestreckte Riesenhand. Sie war klein, aber groß genug, um zu zweit darin zu schlafen; allerdings hatte Blitz schwören müssen, niemals eins seiner Mädchen mit hierher zu nehmen.
Die Hütte war leer. Tief in ihrem Inneren hatte Mino gehofft, Blitz wäre gekommen, um hier vor El Jati Ruhe zu haben und sich mit ihr zu treffen und zu versöhnen. Sie hatten sich oft gestritten und oft versöhnt. Meistens war es Blitz gewesen, der den Streit begonnen, und Mino, die ihn beendet hatte, aber ihre Freundschaft hatte alle Auseinandersetzungen überlebt.
Sie legte sich auf die Decken, die immer noch hier lagen, mittlerweile von Spinnen und anderen Insekten als Wohnung auserkoren, aber das störte sie nicht. Der Geruch des Holzes war hier drinnen sogar stärker als der allgegenwärtige Salzgeruch des Meeres. So duftete ihre Freundschaft: nach Harz und Erde und lauen Sommernächten, nach Regen und Gewitterstürmen. Es durfte nicht sein, dass das alles endete. Musste mit dem Erwachsenwerden denn alles zu Ende gehen, was gut gewesen war? Blitz würde es verstehen, dass Binajatja ihn entließ. Hatte er nicht selbst die ganze Zeit darauf hingearbeitet? Er würde verstehen, dass es Binajatjas Entscheidung war, nicht Minos. Ihre Freundschaft würde auch das überstehen.
Am Nachmittag hatte sie die Figur der weißen Möwe hierhergebracht. Sie war immer noch da, auf demselben Platz. Niemand war hier gewesen und hatte sie in die Hand genommen und betrachtet... Blitz war nicht gekommen. Mino legte ihre Finger um das harte Holz und fühlte die Schwingen in ihrer Handfläche. Geboren, um zu fliegen...
Sie brauchte lange, um einzuschlafen. Um nicht an Lexan zu denken und an den hellen Fleck am Horizont, in den sich die Weiße Möwe verwandelte, dachte sie an Blitz – nicht an ihren Kampf, nicht an Blitz’ Verwunderung und Empörung, sondern an all das, was sie tun würde, um die Dinge wieder ins Lot zu bringen. Und doch war es letztendlich das Schiff, von dem sie träumte, ein weißes, glitzerndes Boot, das durch die Wellen schnitt, leicht und heiter, unter der Pracht der Sterne. Das Knarzen des Holzes, wenn sie sich im Schlaf bewegte, wurde zur Weißen Möwe , die durch das Wasser glitt. Mino war dort, denn natürlich war sie mitgekommen, so wie es sein musste. Sie lag an Deck und lauschte ihren Freunden, die noch nicht schliefen. Im Traum hörte sie Jußaits Lachen, sie hörte Bajads tiefe Stimme und sie hörte Lexans Schweigen. Die Nacht lag über ihr, hell und freundlich, und sie fühlte das Mondlicht auf ihrem Gesicht.
Am nächsten Morgen kehrte Mino ins Haus zurück, wusch sich und zog sich um. Die hölzerne Möwe hatte sie wieder mitgebracht und steckte sie in die Schürzentasche ihres neuen, sauberen Kleides; sie war wie ein Versprechen, dass alles gut werden würde.
»Sie wird zurückkommen«, versprach sie sich selbst. »Die Weiße Möwe wird zurückkommen. Lexan wird einsehen, dass das Boot nicht hochseetauglich ist, und wird zurückkommen.« Mino fühlte sich voller Zuversicht, dass sie die Angelegenheit mit Blitz bereinigen konnte, und machte sich noch vor dem Frühstück auf den Weg zu El Jatis und Alikas Haus.
Diesmal war es El Jati, der ihr öffnete. Er sah müde und übernächtigt aus, um seine Augen lagen dunkle Ringe. Er blickte Mino nur an und schüttelte den Kopf.
Eine bange Ahnung ergriff Besitz von ihr.
»Was ist passiert?«
»Blitz ist fort«, sagte El Jati.
»Wie, er ist fort? Er kommt doch zurück.« Es war nicht unüblich, dass Blitz seine Nächte immer wieder auswärts verbrachte. Die Insel war klein, aber das hieß nicht, dass es hier nicht unzählige Möglichkeiten gab, sich zu verstecken, wenn man nicht gefunden werden wollte. Nicht einmal Mino wusste, mit welchem Mädchen Blitz gerade befreundet war.
»Er hat sein Gepäck mitgenommen«, sagte Alika, die neben ihren Mann trat.
»Und einen Teil unserer Ersparnisse«, fügte El Jati leise hinzu.
»Aber – wir werden ihn doch suchen?«, fragte Mino. Sie wollte nicht glauben, was sie hörte. Und wenn sie die ganze Insel hundert Mal absuchten, konnte es immer noch einen Ort geben, wo Blitz sein konnte.
»Ja«, sagte Alika, »ja, natürlich«, aber aus ihrer Stimme konnte Mino heraushören, dass sie nicht damit rechneten, ihn zu finden.
I ND E RK I S T Ewar es eng. Es roch so intensiv nach Äpfeln, dass er glaubte, entweder betrunken davon zu werden oder ersticken zu müssen, aber keinen Moment dachte er daran, um Hilfe zu rufen. Die Männer gingen möglichst behutsam mit den Kisten um, und Blitz zweifelte nicht daran, dass er lebendig das andere Ufer erreichen würde. Durchgeschüttelt und verkrampft, aber frei und lebendig. Frei.
Als Blitz sich in eine der leeren Obstkisten hineingezwängt hatte, hatte er es geschickt angestellt. Mit einem Sacktuch abgedeckt, war er nicht zu sehen, wenn sie ihn verluden – die ausgewählten Früchte, die für Aifa bestimmt waren, waren alle abgedeckt, um sie vor Wespen und Staub zu schützen – und obwohl er mehr schlecht als recht hineinpasste, würde es den Männern nicht auffallen, dass er hier drin war. Die Kisten waren alle so schwer, dass sie zu zweit anpacken mussten, und da er klein war, hoffte er, dass sein Gewicht nicht allzu sehr auffiel.
Er hörte ihre Stimmen, er hörte, wie sie scherzten und fluchten. Der Morgen war jung und der frische Wind ließ sogar ihn dort unter dem Tuch frösteln. Es versprach ein schöner Tag zu werden, mild und sonnig, ein Tag, an dem man in einem Boot über das Meer fahren konnte, in die endlose Weite. Das Boot, in das seine Kiste geladen wurde, war jedoch nur ein Lastkahn und hatte keine weite Reise vor sich, nur nach drüben zum Festland, wo die Fracht auf Pferdefuhrwerke verteilt werden würde. Man hatte auch schon versucht, die Kähne den Fluss heraufzuziehen, bis hoch in die Kaiserstadt Kirifas, aber der Fluss war stellenweise wild und unzuverlässig, und das Risiko zu kentern war größer, als im Wald in die Hände von Räubern zu fallen.
Im Bauch des Kahns war es so stickig, dass er durch die Ritzen der Bretter nach Luft rang. Die wenigen Stunden Fahrt bis zum Hafen in Drian kamen ihm vor wie eine endlose Tortur. Er konnte sich nicht bewegen, er konnte kaum atmen – dabei hatte er sich darauf verlassen, dass das Obst nicht luftdicht verstaut wurde – und zum ersten Mal in seinem Leben war er seekrank. Während er sich dem Tode nahe fühlte, bereute er schon, was er getan hatte, und er hätte alles darum gegeben, wieder auf der Insel zu sein, wieder Seeluft zu atmen und die Stimmen seiner Freunde zu hören. Bereits jetzt vermisste er Mino. Er wollte an sie denken als an ein launisches Mädchen, das ihn verraten hatte, er wollte sie sich kühl, unnahbar und rechthaberisch vorstellen, den verwöhnten Sprössling der Apfelkönigin, als eine Mino, die sich für etwas Besseres hielt, nur weil sie die Erbin der Frau war, der die Gärten gehörten. Aber dieses Bild hatte keinen Bestand, nicht hier in der Enge, zwischen dem Knarren und Knarzen der Kisten und des Kahns, in der apfelduftgeschwängerten Luft, die weder zum Leben noch zum Sterben reichte. All das war Mino und war es doch nicht. Sie konnte nicht Feindin und Freundin zugleich sein, die doch immer nur seine Freundin gewesen war, trotz aller Unterschiede.
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