Goykos wandte sich und wies zu der Burg empor. „Streif dem Bub die Schellen an! Bis der Mond über dem Turm steht, sind wir droben!“ —
Bleiche Strahlen brachen durch die Wolken, und im Weggras zur Seiten raschelte es. Ein Hase lief aufgeschreckt über den Weg. Hinde stutzte und prallte zurück, ein Hieb mit dem Strick brachte sie wieder voran. —
„Der Has’ bringt Unglück, lass uns nicht zur Burg!“ — murmelte Zinkra. —
„Narretei!“
„Im Tal wehen Totenhemden über der Wiese, halt’s Ross und bleib’!“
„Bah! Herbstnebel sind’s! Hühho, Hinde! greif’ aus!“
Goykos pfiff ein übel Schelmenlied, und sein Weib griff hinter sich in den Kasten, nahm das Narrenkleid heraus und streifte es über das nackte, regenfeuchte Körperchen ihres Kindes. — Und dieweil sie den Knaben an die Brust drückte und ihm zusprach, gar übermütig und spasshaft, artig und demütig zu sein, — liefen ihr die Tränen über die Wangen und sie dachte im Herzen: „Es ist an der Zeit, dass sich das Schicksal erfülle, — hat schon manche brave Mutter ihr Kindlein mit Herzblut gesäugt.“ —
Hinde senkte den Kopf; langsam, ganz langsam und zögernd ging’s den Burgberg hinan. —
Im falben Dämmerschein lag die Burg auf ihrem hohen, einsam ragenden Fels. Mächtige Buchen neigten ihre Häupter vor des Bergschlosses stolzer Majestät, rauschend in den letzten Schauern des Gewittersturms, welcher das phantastisch getürmte Gewölk fern ab nach Westen treibt. Der Weg windet sich steinig und hart zwischen den bemoosten Felsen empor, unwirtlich und verwahrlost, als geschehe es selten, dass ein Lastwagen zur Burg wuchtet, dass kecke Reiterschaar und zierlicher Damenzelter zu Jagd und Reiherbeize hernieder trabt.
Lautlos, einsam, grabesöd. —
Hindes Hufschlag klingt einzig durch den abendstillen Wald, und da sie vor dem geschlossenen Brückentor steht, lässt sie das struppige Haupt wie in trauriger Ergebung sinken. — Das braune Weib ist neben sie getreten und streicht liebkosend über die nasse Mähne, an welcher noch die Tropfen hernieder rollen. „Sollen wir hinein gehen, liebe, kluge Hinde?“ — flüstert sie mit bangem Seufzer.
Das Pferd schüttelt jählings den Kopf, um den Regen vollends abzustäuben, und Zinkra stöhnt schwer auf und sagt leise vor sich hin: — „die Hinde schüttelt den Kopf und sagt „nein“, — die kluge, kluge Hinde.“ — Goykos steht derweil und überfliegt mit scharfem Blick die Burg, und weil es so seine Gewohnheit und die Vorsicht die mächtigste Verbündete der fahrenden Leute ist, so klettert er neben den Brückenpfeilern an den Felsen hernieder, das Schlösslein, welches so leicht sein Gefängnis werden kann, zu umschleichen und mit Kenneraugen alles auszuwittern, was er vielleicht in Not und Gefahr brauchen kann. Ganz genau muss er die Baulichkeiten, die Bildung des Burgbergs und alle Stellen kennen, welche einem fliehenden Mann zum Vorteil gereichen können, und darum lässt er Weib und Kind, ohne dass er noch ein Wort darüber zu verlieren braucht, vor der Zugbrücke warten, bis er seinen Kundschaftsgang vollendet.
Und Zinkra setzt sich auf den Stein neben Hinde, nimmt ihr Knäblein vor sich, dass ihr Haupt mit der leis klingenden Münzkappe an seiner kleinen Schulter ruht, und schaut glanzlosen Blicks auf die Burg, welche wie ein düsteres, schwarzschattiges Rätsel vor ihr liegt. — Seine Lösung wird die nächste Stunde bringen, und wenn die Morgensonne wieder über den Landen aufgeht und um den finstern Turm ihre Strahlen webt, dann hört sie vielleicht ein Seufzen und Weinen aus ihm empor schallen. — —
Zinkra fuhr heftig mit der Hand über die Stirn, als wolle sie gewaltsam solche Gedanken fortwischen, sie zwang sich dazu, auch ihrerseits diese fremde Umgebung prüfend anzuschaun. Mondlicht fiel momentan durch das treibende Heer kleiner Lämmerwölkchen und beleuchtete die Steinmassen der dicken Mauern, welche trotz all ihrer gewaltigen Trutzigkeit dennoch das Gepräge des Verfalls trugen. Zwei kleine Turmaufsätze des Brückentores waren entweder zerschossen oder vom Sturm herniedergebrochen und noch nicht wieder aufgebaut, im Burggraben lag Schutt und Steinicht, und die äussersten Befestigungswerke schienen längst dem Zusammensturze preisgegeben zu sein. Die Burg musste wohl einen verarmten Edelmann herbergen, welchem die weitläufig gebaute Wiege der Ahnen ein zu unbequemer Wohnsitz geworden, und welcher darum gewissermassen nur noch den Kern inmitten überflüssiger Schalen benutzte. Ein stumpfer, wuchtiger Turm ragt hoch über das Felsennest empor, ein bedeutend kleinerer und schlankerer ist ihm gegenüber aufgeführt, um, wie Zinkra mit gutem Verständnis vermutet, zum Auslug über den jenseitigen Burggraben und die nahen Talschluchten zu dienen, welche von dem eigentlichen Bergfried nicht übersehen werden können. Er steht allem Anscheine nach frei, nur von dem Zinnengang aus zugänglich. —
Irregang berührt leise die Hand der Mutter und weist nach dem Torbogen empor: „Was ist dies für ein hölzernes Bildnis, Mutter, welches man an den Steinen aufgehängt hat?“ flüstert er.
Zinkra steht auf und tritt näher. Sonst prangen steingehauene Wappen über der Brücke, hier ist nur ein holzgeschnitten Wappenbild, welches schon arg verwittert dreinschaut, am Pfeiler aufgehängt. Ein aufrecht schreitender Löwe scheint sein Zeichen zu sein, und aus dem Helm steigen zwei schön gewundene Hörner. Drumher aber sind wunderliche Schriftzeichen gereiht, und weil jetzt das Mondlicht voll und hell darauf scheint, so hätte Zinkra sie wohl sesen können, wenn sie jemals solche Kunst erlernt hätte. Aber Goykos wird es leichtlich entziffern, denn er hat einst am schweren Beinbruch im Kloster gelegen, als er noch ein junger Bursch war und die Seinen ihn verlassen haben und weiter gezogen sind. Da wollten die frommen Brüder flugs sein Haupt scheren lassen, auf dass er bei ihnen bleibe, die Klosterforsten zu begehen und die Karpfen aus dem Teiche zu fischen, denn darauf verstand er sich mit gar geheimen Wundermitteln. Und die Zeit, da er siech darnieder gelegen, haben sie weislich ausgenutzt, die Mönche, und haben ihm lesen und schreiben gelehrt, weil er ein heller Kopf war und wohl angetan, solche Weisheit zu erfassen. Aber als der Goykos wieder hat springen und tanzen können, da ist der alte Wandertrieb mächtig in ihm erwacht, und er hat seine Lumpen heimlich wieder im Dachkämmerlein zusammengesucht, hat sie in die Jagdtasche gepackt und ist zum Tann hinab, ohne jemals mit einem Wildbrätlein heimzukehren. Der Mönche Gelehrsamkeit aber hat er zu kleinem Teile mit sich genommen, und hat sie ihm gute Dienste getan, wenn er bei fürnehmen Herren eingekehrt ist, und seine erstaunlichen Gaukelkünste, auf einem Pergament beschrieben und konterfeit, Ritter und hohen Ratspersonen demütiglich dargereicht hat.
So wartete Zinkra, bis der Zigeuner leise und lautlos wie ein Schatten wieder zwischen dem Buschwerk auftauchte und zu ihr sprach: „Hier pfeift der Wind durch manch ein ungeflicktes Loch! Die Mäuslein, so früher am Speck genagt, fallen sich jetzt gegenseitig an im Hungergrimme, und die Goldgülden, so früher im Kasten lagen, sind rund geworden und durch die Finger gerollt.“ —
„So wird’s einen schmalen Lohn geben für unsere Müh!“ — seufzte Zinkra, und sie wies nach dem Holzschild und sprach: „Wes Namens mag der Edle sein?“ —
Goykos trat hastig herzu: „Ein hölzern Schild? So ist die Burg wohl nicht von einem reichen Vater auf den Sohn gekommen, ist vielleicht eines Drittgeborenen Erbteil, ein überflüssig, ausgebranntes Nest, das ein tatkräftiger Rittersmann wieder hoch bringen soll zu Würd’ und Ansehn! Und selbe Schrift?“ — Der Gaukler schüttelte das Haupt und sagte: „Eine solche Sprach wird nicht zu Land geführt, und vermeine ich, dass es ein hochgelehrt Latein sein muss, das mir in allen Worten fremd ist, welches ich aber reichlich im Kloster gehört. Werden es schon drinnen erfahren, wie das alte Raubnest heisst, und ob es dem leibhaftigen Satanas oder nur einem, der sich ihm verschrieben, zugehört!“ Und lachend rückte er den zerrissenen, haubenartigen Hut, von welchem klappernde Schnüre von Muskatnüssen, Pfeffer und stark riechenden Nelken herniederhingen, auf das Ohr, fasste den schweren Metallklopfer und führte etliche dröhnende Schläge gegen das Tor.
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