Er zog den Kopf zwischen die Schultern, ging mit müden Schritten weiter und wagte nicht daran zu denken, wie es sein würde, wenn er sich einmal selbst solche Post zuzustellen hätte…
Der Morgen hatte Sonne, die Luftaufklärung Voralarm gebracht. Die Panzerjagd-Einheit rückte in die Stellung bei Arras ab, die am Vortag bereits bestimmt worden war. Die Zivilisten gingen vorsorglich in den Keller. Die Erde war warm, die Sicht klar. Im Sonnenglast funkelten die Aluminiumschwingen der Flugzeuge. Es waren keine eigenen. Es waren Briten, die in geordneter Formation die Hauptkampflinie überflogen.
»Aus ist’s mit dem faulen Frieden«, bemerkte Böckelmann ahnungsbang.
»Was ist denn da heute los?« fragte sein Freund Kleebach kritisch. Bisher hatte die deutsche Luftwaffe den Himmel beherrscht. Alliierte Flugzeuge sah man höchstens vereinzelt, und dann stürzten sich gleich die Me’s auf sie, schossen sie ab, oder verjagten sie wenigstens.
»Unsere Jäger pennen heute noch«, fluchte der Gefreite Böckelmann. »Dein Bruder Fritz war immer schon ’ne Schlafmütze.«
»Der fliegt doch eine He 111«, versetzte Kleebach.
»Auseinander, ihr beiden!« fuhr sie der Kompaniechef an. »Kleebach, bleiben Sie gefälligst bei Ihrer Dreckskanone!«
»Jawohl, Herr Oberleutnant«, rief der Gefreite beflissen. Er war Richtkanonier der französischen Beutepak und beschoß den Feind mit seinen eigenen Geschossen.
Voralarm. Zehn Uhr morgens. Man hörte schon das dumpfe Dröhnen heranrollender Panzer. Vorsorglich forderte der Kompaniechef bei der Luftwaffe Stukas an. Die Stukas blieben aus.
»Was soll’s auch?« tröstete der Oberleutnant seine Leute, »das machen wir doch alles alleine…«
Die Sturmgeschütze der Kompanie hielten sich in einer seitlichen Mulde bereit. Noch war nichts zu sehen, aber die Landser starrten nach dem Horizont, bis ihre Augen tränten. Sie wußten längst, wie man einen Panzer abknallte. Sie hatten es während der Ausbildung hundertmal geübt, und während des Einsatzes mindestens dutzendmal erlebt. Ruhe gehörte dazu, und Mut, Nerv und Verve, alles andere war dann ein Kinderspiel: so nah wie möglich herankommen lassen, sorgfältig zielen, Überraschungsmoment ausnützen, Direktbeschuß, und dann wurden aus eckigen Vernichtungskästen platzende Stahlsärge.
Gegen elf Uhr war im linken Nachbarabschnitt der Teufel los. Noch immer keine Stukas. Noch immer kein Sperrfeuer durch die Artillerie. Noch immer nahmen es die Landser nicht ernster als es schien. Erst gegen Mittag wurden sie unruhig, als die Meldung durch die Front lief, daß den Tommies ein Panzerdurchbruch geglückt sei. Auch rechts schwoll jetzt der Kampflärm an.
»Ganz schöner Reichsparteitag«, brummelte der Oberleutnant, »gleich gibt’s Zunder… wie fühlen Sie sich, Kleebach?«
»Prima, Herr Oberleutnant.«
»Für jeden Panzer, den Sie liefern, kriegen Sie einen Urlaubstag extra«, versprach der Kompaniechef, »abgemacht?«
»Jawohl, Herr Oberleutnant«, versetzte der Richtkanonier und lächelte hinter seinem Offizier her.
Der Junge war ruhig. Er spürte nicht einmal Angst, nur ein leichtes Sodbrennen im unteren Teil der Speiseröhre, wo sie in den Magen mündet. Er warf die Zigarette weg und zündete sich die nächste an. Er hatte bisher drei, vielleicht sogar vier französische Panzer abgeschossen. Das war längst nichts Neues mehr für ihn, aber es blieb gräßlich. Nicht so sehr die Angst, von ihnen überrannt zu werden, als die Sekunde, in der die Granate aus dem Rohr fuhr und dreihundert Meter weg ein Blitz aufflammte und feindliche Soldaten, aber Menschen, vom brennenden Öl verschmort wurden und dann alle Angst und aller Schmerz dieser Erde in einem letzten Schrei lag. Manchmal fuhr Kleebach aus dünnem Schlaf hoch und hielt sich die Ohren zu, weil er glaubte, wieder das tierische Gebrüll zu hören und die Poilus zu sehen, die ausgestiegen waren, in blinder Panik aus dem Feuer liefen, und dann hoffte Kleebach jeweils im Wahn törichter Sekunden, daß sie durchkommen möchten, denn der Zwanzigjährige war weder der schlechteste Mensch noch der beste Soldat…
Auf einmal verstärkte sich das Dröhnen.
»Die kommen ja von links!« fluchte Kleebach, der sie von vorne erwartet hatte.
»Schon schlecht«, brummelte der Ladeschütze, während sie zusammen die Pak herumrissen.
Langsam krochen sie näher, schwarze Schatten zuerst, dann unförmige Käfer. Drei, fünf, elf, siebzehn – so viele, daß es Kleebach aufgab, sie zu zählen. Er richtete sein Geschütz auf den vordersten ein und wartete. Er wartete auf den Tod, den er zu bieten hatte.
»Entfernung neunhundert Meter«, kam die Meldung vom Messer. »Achthundertfünfzig«, verbesserte sich der Mann.
Das Gedröhn schwoll noch stärker an. Die Erde schien vor Angst zu beben. Der fetzende Motorenlärm sägte an den Nerven. Der Mund wurde trocken. In der Zielrichtung tänzelten Lichteffekte. Wer sich nicht hinter die Pak zu bücken brauchte, lag auf der Erde und sehnte sich danach, so tief wie möglich unter ihre Haut zu kriechen.
»Siebenhundert Meter«, kam der neue Meßwert durch.
Noch Zeit, zwang sich Kleebach zur Ruhe. Er sah nach links, wo sein Freund Böckelmann seitwärts vor ihm in einem Panzerdekkungsloch lag, das vermutlich nicht einstürzen würde. Er betrachtete die Mulde, in der die Sturmgeschütze darauf warteten, dem Feind in die Flanke zu knallen. Er blickte nach oben, von wo plötzlich ein anderes Gedröhne kam. Ziemlich nieder flogen die brummenden Schatten heran. Tausend Meter Höhe vielleicht, Flugzeuge, deutsche Stukas vom Typ Ju 87.
Na endlich, dachte Kleebach erleichtert. Er verfolgte aus den Augenwinkeln, wie die Ju’s eine Schleife zogen, um sich zu orientieren, wie sie die feindlichen Panzer erkannten und anflogen, langsam, bedächtig fast, wie sie dann mit einem plötzlichen Abkippen ihre gierigen Schnauzen nach unten stellten, wie die Motoren heulten, wie die Sirenen einsetzten, wie sich die Stukas direkt auf das Ziel stürzten, auf die Panzer, die im verzweifelten Zickzack entkommen wollten, wie sich der schwarze Punkt löste, der immer größer wurde und immer gräßlicher rauschte, wie der Boden zitterte, bis er mit einem einzigen Knall platzte, in dem alles unterging.
Vier Stukas hatten ihre Bomben abgeworfen und drehten bei, um im E-Hafen neue zu fassen. Hochbetrieb heute für Stukas, vier-, fünfmal und noch öfter mußten sie aufsteigen. Aber die Engländer schienen über Nacht mehr Panzer aus dem Boden gezaubert zu haben als die Luftwaffe Stukas hatte.
Die letzten beiden griffen an. Wo der zweitvorderste Panzer stand, war nur noch ein riesiger, gezackter Trichter. Ein zweiter Tommy stand in hellen Flammen. Ein dritter drehte bei und zog eine stinkende Rauchfahne hinter sich her.
Aber die anderen rollten weiter nach vorne, auf Kleebachs Pak zu, die sie noch nicht ausgemacht hatten. Stur. Langsam. Unerbittlich. Brummig. 400 Meter noch.
»Feuer frei!« befahl der Kompaniechef.
Drei Sekunden später hatte Richtkanonier Kleebach die erste Granate aus dem Rohr gerotzt.
»Treffer!« brüllte Böckelmann, der die Feuerwirkung zu beobachten hatte.
Genau am Turm, dachte Kleebach, biß seine Schneidezähne in die Unterlippe und nahm den nächsten aufs Korn. Dann zog die Sprengwolke ab – und die deutschen Kanoniere betrachteten mit rotgeränderten Augen das Unfaßliche: der getroffene Panzer rollte weiter. Genau am Turm erfaßt, kam er näher, als ob nichts geschehen sei, als ob ihn ein Kieselstein belästigt und keine Granate getroffen hätte.
Blindgänger, überlegte Kleebach und jagte Schuß auf Schuß hinaus.
Er spürte, wie seine Knie zitterten und seine Augen schmerzten. Die Zielansprache war genau, seine Hand sicher, jede Funktion saß.
Und es half nichts.
Kleebach verkrallte sich in den vordersten Panzer, schoß und schoß, traf und traf, mit rasendem Zorn, hatte nur noch ein Ziel im Leben vor Augen, nur einen Gedanken, nur einen Wunsch, nur einen Wahn: das verhaßte schwarze Drecksding zu vernichten.
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