Im Haus gegenüber sah man plötzlich spärliches Licht. Der matte Schein, der aus dem Fenster fiel, war hell genug, um feindliche Granaten auf sich zu lenken.
»Was soll denn das ?« schimpfte Kleebach und wollte auf das Haus zugehen.
Heinz Böckelmann hielt ihn am Arm fest. »Sieh dir das an…«
Man konnte nur einen Schatten durch die Gardine sehen, einen Umriß, den Scherenschnitt einer rührend schmalen Figur, die noch mädchenhaft wirkte und schon fraulich war. Zwei Hände, die sich hoben, ein Kopf, der sich leicht nach unten beugte, daß die langen Haare vornüber fielen, zwei dünne Arme, die sich wieder nach oben reckten, als suchten sie einen Halt, als wollten sie sich ergeben.
Sie standen und starrten.
»Mensch«, sagte Böckelmann ergriffen.
Dann ging das Licht aus. Die beiden Posten konnten den Blick nicht vom Fenster wenden, sahen, wie sich der Vorhang teilte, bemerkten ein junges Mädchen, das leicht vorgebeugt, wie lauschend, in die Nacht starrte, und waren ihm so nahe, daß sie glaubten, das Gesicht mit den Händen streicheln zu können.
Die Französin bemerkte die beiden Soldaten und warf mit einem harten Ruck das Fenster zu.
»So etwas«, sagte Böckelmann.
Sein Freund schwieg.
Er roch nicht mehr den Flieder allein, er spürte den Frühling. Er spürte ihn in den Fingerspitzen, er legte sich auf den Brustkasten, er machte den Blick trunken, und er machte ihn bitter auf den Krieg, der ihm die Jugend stehlen wollte und sah das Recht zu leben, zu lieben, zu warten, zu träumen, zu küssen, Zärtlichkeiten zu empfangen und wiederzugeben.
»Das war die aus der Bäckerei… die Blonde…«, sagte Böckelmann, »weißt schon, die den Spieß heute nachmittag einen boche nannte…«
Kleebach hörte es nicht. Seine Augen hingen noch immer am Fenster. Aber die Nacht hatte das Guckloch zum Leben wieder zugeklebt. Nur zwei Katzen feierten es noch. Sie waren klüger als die Menschen, denn sie pfiffen auf den Krieg.
»Die ist höchstens zwanzig…«, sagte Böckelmann bewegt, »die bräucht’ mich nicht zweimal zu bitten…«
»Bei euch piept’s wohl?« fuhr eine scharfe Stimme dazwischen.
Die beiden Gefreiten nahmen automatisch Haltung an. Sie hatten den Schatten an seiner Stimme als Hauptfeldwebel Weber erkannt.
»Ihr Quasselfritzen!« fluchte er, »ihr Quatschweiber!… ihr Pennbrüder!«
Der Gefreite Kleebach versuchte Meldung zu machen: »Zwei Mann beim…«
»Beim Kaffeeklatsch…«, unterbrach ihn der Spieß unwillig.
»Auf Wache nichts Neues, Herr Hauptfeldwebel.«
»Natürlich«, brummte der Spieß, »bei Kleebach nie was Neues. Immer das Alte: immer die Klappe offen, der Herr Abiturient! Sie sind ein Schlumpschütze!« Er genoß die Macht seiner Litzen. »Was sind Sie, Kleebach?«
»Ein Schlumpschütze, Herr Hauptfeldwebel«, erwiderte der Gefreite.
»Schnell gefressen«, versetzte der Spieß spöttisch und ging weiter. »Sie melden sich nach der Wachablösung beim Kompaniechef, verstanden?«
»Jawohl!« schrie ihm Kleebach nach. Der Frühling war durch einen Anschiß ersetzt.
»Scheiße«, brummelte Böckelmann lakonisch.
Endlich kam die Ablösung. Gleichzeitig hatten sich die Katzen in der Dachrinne gefunden. Böckelmann bückte sich nach einem Stein und ließ ihn wieder fallen.
Im gleichen Moment fielen die Schüsse.
»A-larm… A-larm!« brüllte Kleebach.
Pfiffe gellten, Türen schlugen, alles rumpelte aus dem Haus, einer versperrte dem anderen den Weg, einer stürzte, drei, vier kullerten fluchend über ihn, rappelten sich wieder hoch, bis die ersten Befehle halbwegs Ordnung in das Durcheinander brachten…
Der nächtliche Spuk dauerte nicht lange. Vielleicht hatten die Vorposten tatsächlich einen englischen Spähtrupp gesichtet oder sie waren nur von einem streunenden Hund genarrt worden. Jedenfalls schossen sie in Richtung des Geräusches, und unverzüglich erwiderte die andere Seite, die sich jetzt angegriffen wähnte, das Feuer, Scheinwerfer rissen Löcher in die Nacht, Leuchtkugeln tasteten die Erde ab, und die MGs rotzten die glänzenden Perlen der Leuchtspurmunition in den Himmel. Man konnte den Tod fliegen sehen.
Ganz plötzlich war es wieder still. Eine Stunde nach dem Alarm konnten die Landser wieder in ihre Unterkunft gehen, sich das Koppel vom Leib reißen und hinhauen. Sie fluchten, daß nichts los gewesen war, vielleicht nur aus Erleichterung.
Dann schleppten drei Soldaten ein Bündel in einer Zeltplane an.
»Was ist denn nun schon wieder los?« fragte der Kompaniechef. Er hatte die Mütze schräg auf dem Kopf, eine Zigarette im Mundwinkel und die rechte Hand an der Hüfte. Er bot den Anblick des typischen Draufgängers, wie nach Maß gemacht für den maßlosen Krieg.
»Der Spieß… Herr Oberleutnant…«, meldete ein Obergefreiter.
Der Kompaniechef trat an das Bündel heran und beugte sich über den Verwundeten. Was los war, sah er mit einem Blick; nichts mehr zu wollen. Das sterbende Herz preßte das letzte Blut aus den Adern des Verwundeten. Das Gesicht des Hauptfeldwebels Weber verfiel innerhalb von Sekunden. Die Augen wurden groß, fragend, und dann starr. Seine Lippen zuckten noch, dann wirkten sie steif und blaß.
Der Oberleutnant richtete sich wieder auf. »Wie ist denn das passiert?« fragte er.
»Im Durcheinander… dämlicher Zufall…«, antwortete der Obergefreite.
»Schweinerei!« fluchte der Kompaniechef. »Deckt ihn zu«, sagte er dann, »und haltet die Klappe… die Kompanie erfährt’s noch früh genug…«
»Jawohl, Herr Oberleutnant«, schrien sie alle drei.
Der Kompaniechef ging in die Mannschaftsunterkunft.
»Achtung!« brüllte Böckelmann.
Der junge Offizier wehrte lässig ab. »Na, wie fühlt ihr euch, ihr jungen Krieger?« fragte er.
»Gut, Herr Oberleutnant«, riefen sie im Chor, wie es erwartet wurde.
»Haut euch gefälligst auf den Sack!« Der Offizier zündete sich eine Zigarette an. »Weiß nicht, wann ich euch wieder Schlaf bieten kann…«
Er wollte den Raum verlassen, als der Gefreite Kleebach auf ihn zutrat. »Ich habe Befehl, mich bei Ihnen zu melden, Herr Oberleutnant«, sagte er.
»Befehl?« erwiderte der Offizier zerstreut, »von wem?«
»Von Hauptfeldwebel Weber, Herr Oberleutnant.«
»Aber der ist doch…«, sagte der Offizier und brach ab, weil seine Zunge beinahe die eigene Order übertreten hätte. »Kommen Sie, Kleebach«, setzte er schnell hinzu und ging mit ihm auf den Gang des Schulhauses. »Schon wieder was ausgefressen?«
»Jawohl, Herr Oberleutnant… ich hab’ auf Wache gesprochen.«
»Ein Selbstgespräch, was?«
»Nein, Herr Oberleutnant.«
»Also, mit wem haben Sie gequasselt?«
Der Gefreite Kleebach zögerte. Sein Chef merkte, daß er einen Kameraden decken wollte, und lächelte verständig. »Schon gut«, entgegnete er, »langweilig, so ’ne Wache…« Er kratzte sich am Hinterkopf. »Hab’s nicht erfunden«, setzte er hinzu, »und bald ist der Zauber vorbei.« Er betrat mit Kleebach seine Unterkunft und nickte. »Haun Sie ab… und lassen Sie sich nicht mehr erwischen!«
Der junge Gefreite zögerte.
Der Offizier sah es, fummelte mit dem Lineal an seiner Erkennungsmarke herum, die wie ein Ritterkreuz um den Hals hing, nur tiefer, und sagte spöttisch: »Was ist… müssen Sie aufs Klo?«
»Nein, Herr Oberleutnant… bitte Herrn Oberleutnant melden zu dürfen, daß meine Eltern am 14. Juni silberne Hochzeit haben…«
»Kann ich was dafür ?« fragte der Offizier gelassen.
»Ich habe vier Brüder und eine Schwester«, fuhr Kleebach fort, »und alle kommen zusammen an diesem Tag… und da wollte ich…«
»Mitfeiern, was?«
»Jawohl, Herr Oberleutnant«, antwortete Kleebach erleichtert und fügte unmilitärisch hinzu: »Es ist nicht wegen mir, Herr Oberleutnant… aber meine Mutter, verstehen Sie, sie wartet doch, und sie ist so eine groß…«
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