Zur Bewältigung dieser Aufgabe kann das Curriculum Mehrsprachigkeit grundlegende Lernfähigkeiten vermitteln. Dazu gehört auf dieser Schulstufe die Arbeit mit dem Sprachenportfolio, die Entwicklung zwei- oder dreisprachiger Wortkarteien und die Einführung in die Benutzung zweisprachiger Wörterbücher, lauter auf Sprachenbewusstheit zielende Verfahren. Dazu bietet das Curriculum Themen und Materialien an und macht die Bezüge zu den vorhandenen Sprach- und Fachlehrplänen deutlich.
In Südtirol wurde das Curriculum Mehrsprachigkeit für die dortige Schulsituation adaptiert und erweitert und wird genutzt, um die Grenzen zwischen Sprachen und Sprachgruppen zu überwinden (vgl. Schwienbacher u.a. 2017).
Durch Förderung der Mehrsprachigkeit kann die grenznahe Region eines Landes zusammen mit einer Nachbarregion jenseits der Grenze eine neue, grenzüberschreitende Identität bilden (Raasch 2004: 3).
Was Albert Raasch hier für Grenzregionen formuliert hat, ist vielleicht auch eine Perspektive für das Bildungswesen: Mit Mehrsprachigkeit beizutragen zu der Überwindung von Sprachgrenzen und zum Entstehen mehrsprachiger Identitäten in der Migrationsgesellschaft.
Raasch, Albert (2004). Europäisches Projekt: Nachbarsprachen in Grenzregionen. Erfahrungen und Ergebnisse. In: EURAC-Forum Mehrsprachigkeit in Grenzregionen 4 / 2004. ( http://www.eurac.edu/en/research/autonomies/commul/Documents/LaBs/raasch_final.pdf).
Raasch, Albert (2010). Plurilinguisme / Plurilinguismes – Mehrsprachigkeit / …? … Oder: » Un plurilinguisme peut en cacher un autre « (Véronique Castellotti) In: Informationen Deutsch als Fremdsprache 37 / 4 , 355-367.
Raasch, Albert (2018). Wege zum mehrsprachigen Wissenschaftsdiskurs – Anregungen für Forschungen in Grenzregionen. In: Giessen, Hans W., Arno Krause, Patricia Oster-Stierle & Albert Raasch (Hrsg.). Mehrsprachigkeit im Wissenschaftsdiskurs . Nomos: Baden-Baden, 295-311.
Duarte, Joana (2011). Bilingual Language Proficiency . Waxmann: Münster.
Gogolin, Ingrid (1994). Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule . Waxmann: Münster.
Koch, Peter & Wulf Oesterreicher (1985). Sprache der Nähe – Sprache der Distanz – Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte. In: Romanistisches Jahrbuch, Bd. 36, 15-43.
Krumm, Hans-Jürgen & Hans H. Reich (2011). Curriculum Mehrsprachigkeit . ( http://oesz.at/download/cm/CurriculumMehrsprachigkeit2011.pdf).
Els, Oksaar (2003). Zweitspracherwerb. Wege zur Mehrsprachigkeit und zur interkulturellen Verständigung . Kohlhammer: Stuttgart.
PACE (Parlament. Versammlung des Europarats) (2006). The Place of mother tongue in school education. Recommendation 1740, Report 10837. ( http://www.assembly.coe.int/nw/xml/XRef/X2H-Xref-ViewHTML.asp?FileID=11142&lang=en).
Reich, Hans H. & Hans-Jürgen Krumm (2013). Sprachbildung und Mehrsprachigkeit. Ein Curriculum zur Wahrnehmung und Bewältigung sprachlicher Vielfalt im Unterricht . Waxmann: Münster.
Gemeinsame Lehramtsausbildung in der Großregion
Ein Beispiel aus der Praxis und ein vielversprechender Ausblick
Christina Reissner
In der saarländisch-lothringischen Grenzregion ist die Bildungspolitik geprägt von der besonderen geographischen Lage und der gemeinsamen Geschichte, die die Gegend seit der Römerzeit prägt. Auch die wechselhaften Geschehnisse im Laufe des 20. Jahrhunderts haben ihre Spuren hinterlassen, es kann von einer besonderen regionalen Identität in der Großregion ausgegangen werden (vgl. z.B: Cenoz & Gorter 2011:1), von einem spezifischen entre-deux franco-allemand (Macaire 2015:65).
Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund ist die Bildungspolitik im Saarland insbesondere, was das Französischlehren und -lernen angeht, besonders ausgeprägt; es ist das einzige deutsche Bundesland, in dem alle Kinder in der Grundschule Französisch lernen. Programmatisch ist die Bildungspolitik an der Frankreichstrategie der saarländischen Landesregierung ausgerichtet (Staatskanzlei 2014), die u.a. das Ziel „[ ] der Schaffung eines leistungsfähigen multilingualen Raums deutsch-französischer Prägung“ (2014: 9) formuliert. Das Sprachenkonzept Saarland 2019 (Saarland Ministerium für Bildung und Kultur / Universität des Saarlandes 2019) gibt weitere Orientierungspunkte für das Sprachenlernen im Saarland, insbesondere auch für das Lehren und Lernen des Französischen als Schlüssel für das Miteinander mit den Nachbarn und den großregionalen Arbeitsmarkt (cf. 2019:13ff). Auch die Académie Nancy-Metz hat im Rahmen ihrer stratégie Allemagne besondere Maßnahmen zur Stärkung des Deutschen im lothringischen Bildungssystem verankert1.
In diesen bildungspolitischen Kontext ist auch die universitäre Ausbildung zukünftiger Lehrkräfte einzuordnen – die Lehrenden der jeweiligen Nachbarsprache haben eine Schlüsselrolle inne, wenn es um die Vorbereitung der Kinder auf beiden Seiten der Grenze auf das Zusammenleben in der (Grenz-)Region geht. Im Fach Französisch setzen sich die Studierenden der Universität des Saarlandes im Rahmen der grundständigen Lehramtsausbildung mit spezifischen Fragen auseinander, die die Vermittlung der Nachbarsprache in einer Grenzregion mit sich bringt. Allerdings steht die Thematik im Lehramtsstudium selten zentral im Fokus, sie begegnet mehrheitlich eher als randständiges denn als transversales Element in den einschlägigen Lehrveranstaltungen. Eine Ausnahme bilden die Lehrveranstaltungen im Bereich der romanistischen Mehrsprachigkeitsforschung und -didaktik; sie richten sich insbesondere in den letzten Jahren immer deutlicher in dieser Perspektive aus. Insbesondere werden seit 2010 trinationale Seminare durchgeführt, in denen Studierende der Universitäten Luxemburg, Lothringens und des Saarlandes den „Umgang mit Wissen in mehrsprachigen Kontexten“ erfahren und erforschen können. Die Lehrveranstaltungen sind in die Universität der Großregion (Uni-GR; www.uni.gr.eu) eingebunden und finden seit 2010 regelmäßig statt. An der Universität des Saarlandes sind die Teilnehmer vorrangig Studierende des Lehramtes Französisch für die Sekundarstufe und weiterer Französisch-Studiengänge (cf. Polzin-Haumann 2013; Reissner 2017; Polzin-Haumann, Putsche & Reissner 2019). Auch ein interdisziplinäres Seminarprojekt zwischen saarländischen Lehramts- und lothringischen Geographiestudierenden wurde bereits mit Erfolg durchgeführt; dabei entstanden Lehrmaterialien zum Thema Nachhaltigkeit, die gezielt für den Einsatz im französischsprachigen Geographie-Unterricht in der Grenzregion entwickelt wurden.
Derartige Lehrveranstaltungen verdeutlichen immer wieder die großen Potentiale, die sich aus der spezifischen Grenzlage insbesondere für das Lehren und Lernen der Sprache der Nachbarn ergeben. Wie die Erfahrungen aus der schulischen Praxis zeigen, werden diese Vorteile für den Sprachenunterricht jedoch auf beiden Seiten der Grenze noch immer nicht konsequent genutzt.
2 (Sprach-)Unterricht in Grenzregionen
Der Gedanke, den Unterricht in Grenzregionen an deren spezifische Charakteristika anzupassen, ist keineswegs neu; bereits in den 1990er Jahren forderte Albert Raasch eine „didactique des langues étrangères en régions frontalières“ (Raasch 1992 & 1999). Im Rahmen einer Referenzstudie zu bildungspolitischen Ansätzen für den Fremdsprachenunterricht in europäischen Grenzregionen (Raasch 2002) entwickelte er ein Grenzkompetenzmodell (Raasch 2005 & 2008) und identifizierte beispielsweise die grenzüberschreitende Lehrerausbildung und authentische Unterrichtsmaterialien als ,entgrenzende‘ Elemente für ein einiges Europa (Raasch 2002: 14). Sein theoretisches Modell definiert fünf für das Miteinander in (deutsch-französischen) Grenzregionen zentrale Bereiche: die landeskundliche sowie kontrastiv-landeskundliche Kompetenz, die Empathiekompetenz sowie die inter- und intrakulturelle Kompetenz (cf. Raasch 2005, 2008). Auch wenn mit Dominique Macaire die didactique frontalière , Grenzdidaktik, ebenso wie der pluringuisme , die Mehrsprachigkeit, mehrdeutige Begriffe sind, die anzusehen sind als „concepts nomades au sens de Stengers (1987), c’est-à-dire de notions que l’on peut qualifier d’évolutives et de complexes à la fois“, so finden sich inzwischen immer häufiger Ansätze, die zugrunde liegenden Prinzipien in deutsch-französische Lehr- und Lernkontexte zu integrieren (z.B. Faucompré 2014; Faucompré & Putsche 2017; Macaire 2015; Putsche 2016; Polzin-Haumann, Putsche & Reissner 2019).
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