»Nein«, hatte Marci ohne mit der Wimper zu zucken gelogen. Dabei war die alte Frau in Wahrheit für Marci so etwas wie ein Mutterersatz, der sie beinahe alles anvertraute. »Aber wo sie recht hat, hat sie recht!«,
»Vergiss den Quatsch und lass dich lieber ein bisschen von mir verwöhnen.« Will hatte sie – wie üblich - mit seinen treuen, blauen Augen schnell auf andere Gedanken gebracht. »Ich werde mich von allem fernhalten und tue nichts, was unsere Familie in Gefahr bringen könnte«, hatte er ihr zugeflüstert und sie zärtlich geküsst. Es war das letzte Mal gewesen, dass sie miteinander geschlafen hatten.
Zwei Tage später war er verschwunden. Einfach so, als hätte man ihn aus dem Leben gehackt. Er war am Morgen wie immer auf Jobsuche gegangen und am Abend nicht zur üblichen Zeit zurückgekehrt. Erst hatte Marci sich damit beruhigt, dass er vielleicht in einen Pub gegangen war, der auf dem Weg zu ihrer Wohnung lag. Obwohl sie sich das eigentlich nicht leisten konnten. Aber sie hatte Verständnis dafür, wenn er seine Enttäuschung mit einem Glas Bier hinunterspülte. Als er am nächsten Morgen noch immer nicht neben ihr im Bett lag, hatte Marci sich mehr als nur Sorgen gemacht. Sie hatte Angst. Das Gefühl, ihm könnte etwas zugestoßen sein, hatte sich wie eine eiskalte Faust um ihr Herz gelegt. Zunächst befürchtete sie, die Staatspolizei könnte Will verhaftet haben. Vielleicht war er, wie von Louise befürchtet, in eine Razzia geraten und hinterher eingesperrt worden, und konnte sich deshalb nicht bei ihr melden. Den Gedanken, dass er dabei getötet worden sein könnte, hatte sie erst gar nicht an sich herangelassen. Aber sämtliche Nachfragen bei Krankenhäusern und Polizei verliefen ins Leere.
Nach drei bangen Tagen und Nächten erhielt sie unerwartet eine Intercom-Nachricht auf ihrem altersschwachen Tablet. Will hatte eine holografische Information für sie hinterlassen. Nachdem es ihr endlich gelungen war, das dafür notwenige Portal zu öffnen, traute sie ihren Augen nicht. Sein attraktives Konterfei mit den dunkelblonden Haaren und den meerblauen Augen ließen keinen Zweifel, dass es sich tatsächlich um ihren vermissten Ehemann handelte. Er lächelte sie an, als ob nichts gewesen wäre. »Hi Marci«, begann er mit einer seltsam blecherner Stimme, die sie zunächst auf die schlechte Übertragungsrate schob. »Es fällt mir nicht leicht, dir all das zu erklären, aber nach reiflicher Überlegung habe ich beschlossen, neu anzufangen und dich und die Jungs von mir zu erlösen. Ich bin sicher, ihr werdet ohne mich besser klarkommen und vielleicht findest du ja bald einen neuen Mann, der zuverlässiger für euch sorgen kann, als ich es je konnte.«
Von mir erlösen? Ungläubig hatte Marci auf ihr Tablet geglotzt und sich ängstlich gefragt, was er damit meinte. Vielleicht wollte er sich umbringen? Was so gar nicht zu seiner katholischen Erziehung gepasst hätte. Vielleicht war er auf Drogen? Seine Stimme hatte sonderbar teilnahmslos geklungen. Ganz so, als ob er selbst zu einem Robot mutiert wäre. Am Ende blickte er ihr ohne einen Anflug von schlechtem Gewissen direkt in die Augen, während er sich mit den Worten von ihr verabschiedete: »Du schaffst das schon, du warst immer stärker als ich«.
Marci hatte sich vergeblich gefragt, was, verdammt nochmal, in ihn gefahren war. Möglicherweise hatte er eine andere Frau kennengelernt und war mit ihr durchgebrannt? Louise hatte so etwas angedeutet. Was ihr in jedem Fall lieber gewesen wäre, als alles andere. Aber ihre innere Stimme, auf die sie sich gewöhnlich verlassen konnte, argumentierte entschlossen dagegen. Will war kein Mann, der sich aus einer Laune heraus mit anderen Frauen einließ. Aber vielleicht hatte er eine bei seinen rebellischen Treffen kennenglernt? Eine, die seine Überzeugungen teilte. Fakt war, dass sie sich in letzter Zeit öfters wegen seiner politischen Spinnereien gestritten hatten. Und das, obwohl sie normalerweise über alles in Ruhe redeten. Bereits in ihrer Jungend waren sie so etwas wie Seelenverwandte gewesen. Wobei Politik in ihren Gesprächen so gut wie nie eine Rolle gespielt hatte.
Marci stammte wie Will aus einfachen Verhältnissen, in denen man sich wenig bis gar nicht um das Weltgeschehen kümmerte. Marcis Urgroßeltern waren als mexikanische Tagelöhner ins Land gekommen, die schon stolz darauf gewesen waren, ihren Kindern ausreichende Mahlzeiten auf den Tisch bringen zu können. Wills Vorfahren hatten als irische Leiharbeiter ohne Krankenversicherung zusammen mit ihren Familien in heruntergekommenen Wohnmobilen gehaust. Und genau betrachtet, lief es drei Generationen später auch nicht viel besser. Aber all das war doch kein Grund einfach davonzulaufen. Geschweige denn, Frau und Kinder im Stich zu lassen. Natürlich war Will nach seiner Entlassung nicht mehr der gleiche dynamische Kerl gewesen, den Marci schon seit Ewigkeiten gekannt hatte. Seine sprichwörtlich gute Laune und sein Optimismus hatten sich über Nacht in Luft aufgelöst. Aber in seinen sanften Augen hatte noch immer die Liebe geleuchtet, die er ihr und den beiden Jungs entgegenbrachte.
»Ich kann das nicht verstehen«, jammerte Marci mit Tränen in den Augen, nachdem sie Louise die ganze Geschichte erzählt hatte. »Er hat doch so an den Jungs gehangen. Was ist, wenn er sich tatsächlich das Leben genommen hat? Ich meine, er war verzweifelt genug, weil er nicht mehr für uns sorgen konnte.« Sie stockte, um sich die Nase zu putzen. »Vielleicht hab ich was übersehen? Vielleicht hätte ich mehr auf ihn eingehen sollen?«
»Das glaub ich nicht, Schätzchen«, hatte Louise ihr versichert. »Dann hätte er bestimmt einen Abschiedsbrief hinterlassen. Nein, nein. So leid es mir für dich und die Kinder tut. Ich denke, er hat was anderes gefunden. Eine, die ihm das Leben versüßt und keine Ansprüche stellt. Männer sind so. Wenn es schwierig wird, rennen sie lieber weg, als Federn zu lassen. Du bist nicht die einzige Frau, der sowas passiert«, fügte sie bedauernd hinzu und nahm Marci mitfühlend in den Arm. »Mich hat ohnehin gewundert, dass dein Will nicht schon früher abgehauen ist.«
Marci wollte nicht glauben, dass Will sie und die Kinder einfach aufgegeben hatte. »Und was soll ich nun tun?«
»Dir bleiben nur zwei Möglichkeiten, Süße: Entweder du kapitulierst und lässt die Jungs genauso im Stich, wie Will es getan hat. Oder du reißt dich zusammen und machst weiter, und gibst ihnen damit wenigstens ein bisschen Hoffnung auf eine bessere Zukunft.«
Während Marci noch über die Worte der alten Frau nachdachte, war sie nicht sicher, ob sie die Kraft hatte, weiter zu kämpfen. Aber wegen der beiden Jungs stellte sich diese Frage nicht.
Plötzlich läutete es am Haupteingang der Villa und Marci wurde so abrupt aus ihren Gedanken gerissen, dass sie heftig zusammenfuhr. Erschrocken blickte sie auf und sah auf dem großen Wandbildschirm in der Eingangshalle einen Hünen mit stahlblauen Augen, dessen militärischer Kurzhaarschnitt einen eigenartigen, silberblauen Schimmer hatte. Der Mann war noch jung, vielleicht so alt wie sie selbst. Er war geradezu riesig und seine breiten Schultern und die unübersehbaren Brustmuskeln sprengten beinahe seinen schwarzen Overall. Er trug das Logo einer bekannten Auslieferungsfirma, die eigentlich nur einfach konstruierte Robots beschäftigte. Dieser Typ hingegen sah aus wie Superman. Bis auf die merkwürdigen Haare wirkte er wie ein Mensch, obwohl sie sich kaum vorstellen konnte, dass die Firma Menschen beschäftigte. Allem Anschein nach wollte er ein größeres Paket anliefern.
Aber warum machte sie sich überhaupt Gedanken darüber. Wie üblich hatte der Mann auf dem Weg zur Villa bereits die vollautomatische Kontrollzone durchqueren müssen, in der er sich legitimieren musste und die Security ihn mitsamt seinem Fahrzeug und dem Inhalt garantiert durchleuchtet hatte.
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