„Sie glauben also, die Fingerabdrücke stammen von ihm?“
„Wahrscheinlich.“
„Das würde sich doch ohne weiteres feststellen lassen. Ich bitte Sie auch darum, es zu tun.“
„Wie Sie wünschen, Herr Kommissar!“
Berreux ging bis ins kleinste. Er liess keine Möglichkeit ausser acht.
Jetzt nahm er sich wieder die Bilder der Leute vor, die nach Bouts Meinung in Betracht kommen konnten. Gaston Solfour befand sich darunter, den Evelyne Gateau ihm gegenüber als Täter verdächtigt hatte. Er wurde bereits überall gesucht. Drei Beamte waren allein in dieser Angelegenheit unterwegs.
Berreux hatte den Mann jetzt auch stark in Verdacht. Er studierte die Personalien: Gaston Solfour, geboren am 23. Mai 1911 in St. Quentin. Sohn eines Schneidermeisters. Besuchte die Schule in seiner Heimatstadt. Kam nach dem Tode des Vater nach Paris in die Lehre, wo er gleichfalls das Schneiderhandwerk erlernen sollte. Riss aber aus, ging auf die Wanderschaft, wurde in Lyon wegen eines Fahrraddiebstahls von der Polizei gefasst. Diese erste Straftat büsste er mit sechs Monaten Gefängnis ab. Später tauchte er in Paris wieder auf, trieb alle möglichen dunklen Geschäfte und versackte vollständig in der Unterwelt. Allmählich spezialisierte er sich auf Handtaschenraub. Wegen Vergehen dieser Art büsste er bereits mehrere Strafen ab. Bezeichnend für ihn war die skrupellose Art, wie er bei seinen Verbrechen vorging. Die Opfer wurden von ihm jedesmal durch Faustschläge betäubt. Seit einem Vierteljahr fahndete man wieder nach ihm, ohne dass man ihn bisher hätte entdecken können. Ein Haftbefehl lag bereits vor.
Berreux beschloss, selber einmal verkleidet nach diesem Mann auf die Suche zu gehen.
In dem Kellerlokal beim rauhen Pierre ging es immer vergnügt zu. Hier traf sich allabendlich die Elite der Unterwelt, um lachend, trinkend, schwatzend und neue „Sachen“ ausheckend beieinanderzusitzen.
Das Lokal, eine ehemalige grosse Weinkellerei, zog sich unter zwei Häusern hin; es war ein niedriges Tonnengewölbe, aber stabil und fest. Die Seitenwände waren mit Holz verkleidet, versteckte Nischen mit Ampeln und Lampions bildeten besondere „Konferenzabteilungen“, wo man ungestört Dinge bereden konnte, bei denen Zeugen unerwünscht waren.
Der rauhe Pierre, ein stämmiger, vierschrötiger Kerl mit roter Knollennase und kleinen, immer verschmitzt blinzelnden Schweinsäugelchen, hielt ein scharfes Regiment unter den Gästen. Sinnlose Trunkenheit duldete er ebensowenig wie handgreifliche Auseinandersetzungen. Jedenfalls schritt er immer gleich ein, wenn es aus irgendeinem Grunde einmal zu stürmischen Szenen kam. Dabei unterstützte ihn dann gewöhnlich ein riesiger Neger, der an sich die Gutmütigkeit selbst war, aber zu einer Bestie wurde, wenn es galt, die Ehre des Ausschanks für seinen Herrn zu verteidigen. Dann öffneten sich seine breiten Lippen und zeigten in dunkler Höhlung das weisse Raubtiergebiss, die Augen quollen hervor und die ausladenden Backenknochen begannen zu zittern. Wer ihn so einmal gesehen, vergass dieses Bild niemals wieder. Bill brauchte manchmal nur aufzustehen und eine drohende Haltung anzunehmen, um aufsässige Gäste in ihre Schranken zurückzuweisen.
Wenn es für ihn nichts zu tun gab, sass er da wie ein Unschuldslämmchen.
Die Polizei duldete dieses Lokal, weil sie gerade hier manchen guten Fang machen konnte. Auch war der rauhe Pierre im Grunde genommen ein recht gutmütiger und der Polizei wohlgesinnter Herr, den man bloss richtig anfassen musste, um ihn wie ein Kind lenken zu können. Verpfeifen tat er ja keinen von seinen Gästen, das verbot ihm schon sein Geschäftsinteresse, aber er machte auch den Beamten keinerlei Schwierigkeiten, wenn sie einmal gewaltsam durchgreifen mussten, ja, mit den meisten von ihnen stand er sogar auf Du. Wenn seinen Moralbegriffen in bezug auf kleine Vergehen auch Grenzen gezogen waren, so verstand er bei ernstlichen Missetaten doch selbst keinen Spass mehr, und wo es um wirklich schwere Verbrechen ging, stand er sogar ganz auf seiten der Polizei. Aber auch in solchen Fällen beschränkte er sich auf bescheidene „Winke“, die leicht zur Ergreifung der Täter führten. Von dieser Einstellung wusste allerdings seine „Kundschaft“ nichts.
Seit einigen Tagen lief Pierre immer missmutig und mit gefurchter Stirn herum. Irgend etwas schien ihn stark zu beschäftigen. Es war seit dem Mord an Jean Didier. Der war ihm doch — wie er sich Bill, seinem einzigen Vertrauten, gegenüber ausdrückte — an die Nieren gegangen. Solfour hatte bei ihm verkehrt, und auf ihn richtete sich der Verdacht, wie ihm Kommissar Berreux gestern bereits andeutete. Pierre hatte ihn erst ganz entsetzt angestarrt, dann hatte er dem Kommissar vertraulich auf die Schulter geklopft und gesagt: „Du kannst auf mich rechnen, Léon!“
Das genügte Berreux.
Wenn Pierre sagte: „Du kannst auf mich rechnen!“, so konnte man sich darauf verlassen, dass er sein möglichstes tat, um der Polizei den Verbrecher unauffällig in die Hände zu spielen. Befriedigt goss der Kommissar daraufhin den von Pierre kredenzten Schnaps, einen furchtbaren Fusel, herunter.
Heute sass Berreux in Verkleidung da. Niemand wusste es, ausser Pierre und einem zweiten Beamten, der ebenfalls eine Maske trug. Der Kommissar, ein grosser Meister in der Verwandlungskunst, wusste sich so zu verändern, dass ihn selbst seine eigene Mutter kaum wiedererkannt haben würde. Jedesmal trat er anders auf. Heute stellte er einen alten Mann dar, der mit Streichhölzern handelte. Ein verfilzter, aus echten Haaren geflochtener Bart hing ihm wie ein Fusssack ums Kinn herum. Die Augen blickten müde und trübe durch zwei in Messing gefasste Brillengläser, und seine zittrige Hand fuhr immerzu über den Tisch.
Er sass mit einem anderen Mann zusammen, den er als Taschendieb kannte, gegen den im Augenblick aber nichts vorlag. Geschickt brachte er nach langen Umschweifen das Gespräch auf den Fall Didier. Es war ihm vorerst nur darum zu tun, einmal herauszuhorchen, wie man in Unterweltkreisen überhaupt über den Raubmord dachte.
Der Taschendieb kratzte mit seinen schlanken Fingern ein Stückchen verkrustetes Fett ab, das sich auf dem Holztisch festgesetzt hatte und sagte schlicht: „Das war eine grosse Gemeinheit.“
„Was?“ fragte Berreux.
„Nun, dieser Chauffeurmord natürlich. Ich glaube, die meisten meiner Kollegen denken auch so.“
„Kollegen? Was bist du denn von Beruf?“
Der Mann kniff die Augen zusammen. Ein schiefer Blick traf den „Bettler“. „Was ich bin? Gott, was ist man schon. Tagedieb, Schlachtenbummler. Man schlägt sich so schlecht und recht durch.“
„Aber mehr schlecht als recht.“
„Stimmt schon. Du nimmst es doch wohl mit der Ehrlichkeit auch nicht so ganz genau?“
Berreux kratzte sich an der Nase. „Nun ja — man nimmt, was man kriegen kann.“
Der andere lachte rauh und hohl. „Richtig — sehr gut gesagt: man nimmt, was man kriegen kann. Trinkst du noch einen?“
„Gewiss, warum nicht? Hier in der stickigen Luft wird einem die Kehle trocken.“
Der Taschendieb rief dem Kellner eine Bestellung zu. „He! Emile! Noch zwei Feuerwasser für zwei durstige Seelen!“ Er wandte sich wieder Berreux zu. „Du bist selbstverständlich mein Gast.“
„Hast wohl gute Geschäfte gemacht?“
„Na, geht so. Gestern am Nordbahnhof. Hast du auch schon mal am Nordbahnhof gestanden?“
„Natürlich. Da kommen doch immer die reichen Engländer an. Ich kann auf englisch ‚bitte‘ und ‚danke schön‘ sagen.“
„Ja, ja, es ist doch gut“, sagte der Taschendieb nachdenklich, „wenn man einige Sprachkenntnisse besitzt.“
„Na, und worin bestand dein Geschäft?“
„Ich half einem Fremden den Koffer tragen, sollte ihn zum Hotel bringen, sagte er. Aber weisst du, da war gerade so ein Gewühl auf dem Bahnhofsplatz, und da habe ich das Hotel nicht gefunden. Was sollte ich tun? Als ehrlicher Mensch habe ich dann eben den Koffer in Verwahrung genommen.“
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