„Madame Didier!“ sagte er mit bewegter Stimme — denn auch ihm ging ihr Schmerz nahe — „alles ist Schicksal. Fassen Sie sich. Tun Sie es um der Kinder willen. Wir werden ja unser möglichstes tun, um des Mörders habhaft zu werden, damit er seiner gerechten Strafe zugeführt werden kann.“
Frau Didier blickte ihn aufschluchzend an wie ein gequältes Tier. „Mörder —? — Strafe —?“ wiederholte sie mit erstickter Stimme. „Gibt mir das meinen Mann zurück? Und wer ernährt uns jetzt, lieber Herr? Soll ich betteln gehen mit meinen Kindern?“
„Nein, Sie brauchen nicht betteln zu gehen!“ behauptete Berreux fest, „die Gesellschaft wird Ihnen eine Rente aussetzen, das glaube ich ganz bestimmt, und viele hilfreiche Hände werden sich regen, um Ihnen Ihr Los erleichtern zu helfen. Man wird Sie bevorzugen, wenn Sie sich eine Stellung suchen, ich werde mich selber darum bemühen.“
Sie machte eine hilflose Armbewegung. „Und doch ist es furchtbar, Herr! Warum musste das gerade mich treffen — gerade mich!“
Es dauerte noch eine Weile, bis er sie so weit beruhigt hatte, dass er sie einiges fragen konnte. Ob Didier einen persönlichen Feind gehabt habe? — Nein. — Wieviel Geld er wohl mit sich führte? — Das wusste sie nicht genau. Zehn Franken Wechselgeld habe er immer mitgenommen. Ja, und der Junge habe schon in der Nacht einen so seltsamen Traum gehabt, bog sie auf einmal wieder auf das Persönliche ab.
Wie die Geldtasche oder Brieftasche aussah, die ihr Mann zu benutzen pflegte? — Oh, er führte immer einen kleinen Stoffbeutel mit, der einen Reissverschluss hatte. Mit vieler Mühe habe sie ihm sogar einmal zu seinem Geburtstag die Anfangsbuchstaben seines Namens daraufgestickt: I. D. Er habe ihn immer in Ehren gehalten — immer — in Ehren gehalten — sie schluchzte wieder.
„Hatte er nicht auch eine Brieftasche?“ fragte Berreux.
„Ja, eine Brieftasche hatte er auch, darin verwahrte er seinen Führerschein und die anderen Wagenpapiere, die er benötigte. Auch ein Los war darin — von der Staatslotterie. Da war er rein abergläubisch, mit diesem Los — obwohl die Nummer noch niemals gewonnen hatte. Er musste es immer bei sich führen.“
„Wie war denn die Nummer des Loses?“ fragte Berreux interessiert.
„Wie? Die Nummer? Ja, sehen Sie — das war seine Wagennummer. Nicht die laufende Nummer der Taxigesellschaft, dreihundertdrei, sondern die Polizeinummer. 852754. Und denken Sie sich, Herr Kommissar, gerade auf die andere Nummer sind einmal tausend Franken herausgekommen.“
Berreux freute sich, dass sie nun ein wenig abgelenkt war. Aber er musste weiterfragen.
„Dann hat doch Ihr Mann auch noch einen Brustbeutel gehabt?“ Er nahm ihn aus seiner Tasche, „ist er das nicht?“
Die Frau griff danach. „Ja — das ist er!“ Sie drückte ihn wie ein Heiligtum.
„Es sind noch zwanzig Franken darin!“ fuhr der Kommissar fort, „und etwas Geld werden Sie ja wohl auch noch im Hause haben. An diesen Beutel dachte der Räuber wohl nicht.“
Madame Didier erfasste die beiden Hände des Kommissars. „Sagen Sie bitte, wie sieht er denn überhaupt aus? Mein Mann, meine ich? Wo befindet er sich? Kann ich ihn denn nicht sehen?“
„Wollen Sie ihn wirklich noch einmal sehen?“
„Ja, unbedingt, unbedingt, werter Herr Kommissar. Ich bitte Sie innig darum.“ Sie umklammerte seine Hände. Berreux erhob sich.
„Gut also, ich werde schon dafür Sorge tragen. Wir haben die Leiche beschlagnahmen müssen. Doch morgen geben wir sie wieder frei.“
Was Berreux der verzweifelten Frau in Aussicht gestellt hatte, traf bald in vollstem Ausmasse ein. Von allen Seiten streckten sich ihr hilfreiche Hände entgegen. Alle Chauffeure der Stadt hielten unter sich eine Sammlung ab, bei der jeder gab, was er nur irgend entbehren konnte. Allein Didiers „Stallkollegen“ — wie sie sich nannten — brachten es auf die Summe von fast tausend Franken.
Von der Gesellschaft wurde Madame Didier eine Urkunde überreicht, laut deren sie eine lebenslängliche, wenn auch kleine Rente erhielt. Sogar für die Kinder wurde in der rührendsten Weise gesorgt. Der kleine Jaques wurde von einer reichen Kaufmannsfamilie ins Haus genommen. Den anderen beiden fielen reichliche Stiftungen zu.
Das Begräbnis des Ermordeten wuchs sich zu einer Kundgebung aus. Tausende folgten dem schlichten Sarg. Die gesamte Kollegenschaft war vertreten, soweit sie der Dienst nicht verhinderte.
Tausende, aber Tausende fluchten dem feigen Mörder und sprachen gegen ihn die fürchterlichsten Verwünschungen aus.
Selbst die Stadt und der Verkehrsverein hatten eine Abordnung geschickt.
Unter den Leidtragenden steckten auch mehrere Kriminalbeamte. Berreux, der den Fall auch weiterhin zu bearbeiten hatte, verfügte dies. Ist es nicht schon oft vorgekommen, dass ein Mörder aus einem dunklen Drange heraus sich zu der Beisetzung seines Opfers begab?
Kein Mensch ahnte jedoch, dass hier alle im stillen beobachtet wurden. Ohne jeden Erfolg.
Kriminalsekretär Bout arbeitete im Polizeiarchiv alles durch, um dort vielleicht einen Anhalt zu finden. Es gab stets einen Kreis von Personen, die für ein bestimmtes Verbrechen in Frage kamen. Er suchte sich verschiedene Verbrecher heraus, die, erst kürzlich aus einer Strafanstalt wieder entlassen, die Tat vielleicht ausgeführt haben konnten.
Spät abends noch legte er seinem Chef eine Reihe von Bildern vor, die er mit sicherer Spürnase herausgesucht hatte. Es waren alles Leute von untersetzter Figur mit schmalem, blassem Gesicht, Typen, wie man sie gerade in der Verbrecherwelt häufig findet.
Berreux nahm sich jedes von den dreiunddreissig Bildern vor, las auch die kurzen Personalbeschreibungen, die in den meisten Fällen darunterstanden. Sieben wählte er aus. „So, die könnten in Frage kommen. Was meinen Sie überhaupt zu der Sache, Bout?“
Der Kriminalsekretär strich sich sein Menjoubärtchen. Er war ein schneidiger junger Mann. „Ich glaube, Herr Kommissar“, erwiderte er, „wir werden hier eine harte Nuss zu knacken bekommen. Was wir bisher herausfanden, ist so wenig, dass man so gut wie nichts damit anfangen kann.“
„Oh, sagen Sie das nicht, lieber Freund. Wir haben doch allerlei Anhaltspunkte, wissen sogar schon, welche Zigarettensorte der Täter zu rauchen pflegte. Doch die Geschichte mit der verschwundenen Matte kommt mir recht sonderbar vor. Hat die zweite Nachsuchung ein Ergebnis gehabt?“
„Es wurde lediglich noch eine Patronenhülse gefunden, von der Matte jedoch keine Spur.“
Kommissar Berreux fuhr mit der Hand über sein nach hinten zurückgestrichenes, etwas spärliches Haar und zog die Mundwinkel schief. „Wie ist nun eigentlich Ihre Theorie, Bout? Wo hält sich nach Ihrer Meinung der Täter auf?“
„Hier in Paris natürlich, Herr Kommissar. Bei dem geringen Erfolg, den er hatte, hätte er ohnedies nicht weit kommen können.“
„Sie mögen recht haben. Ja, ich glaube auch, dass er hier in der Hauptstadt zu suchen ist. In Melun also fanden Sie keine Spur?“
„Leider nicht, obwohl ich mir das ganze Bahnpersonal vornahm. Es herrscht dort immer ein lebhafter Frühverkehr, so dass ein einzelner Mensch kaum beachtet wird. Ich habe dann auch in Corbeil noch Erhebungen gemacht. Dabei ist mir der einzelne Fussgänger, von dem Ihnen der Fernfahrer erzählte, auch in den Wurf gekommen. Er wurde von einem Kaufmann des Städtchens gesehen, der gleichfalls die Strecke befuhr, und zwar auf Melun zu. Der Kaufmann behauptet, der Mann habe einen Rucksack getragen. Er hat ihn übrigens nur von hinten gesehen, da er ja in der gleichen Richtung ging.“
„Und wo war das?“
„Kurz vor der Höhe.“
„Was hat denn der Kaufmann zu der Taxi gesagt?“
„Er hat sie natürlich auch stehen sehen. Da er sich allein im Wagen befand, hielt er jedoch nicht an, zumal es ihm dort im Walde nicht ganz geheuer war. Er dachte, der andere habe eine Panne gehabt.“
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