Schläfchen im Schilderhaus
»Der König hat eine Bataille verloren, jetzt Ist Ruhe die erste Bürgerpflicht, ich bitte darum. Schulenburg!« So laiitet die Originalfassung einer Anordnung des Gouverneurs von Berlin, die sich in dieser Woche zum genau 150. Male jährt. Eine Chronik vermerkt, daß ein Offizier, der die Wachen um Berlin herum Inspizierte, daraufhin einen Gardisten schlafend im Schilderhäuschen fand und, nachdem er denselben zur Rede gestellt, die klassische Antwort bekam: »Ruhe ist die erste Bürgerpflicht, ick jehorche.«
Am 24. Oktober Anno 1806 hatte Napoleon Potsdam erreicht. Spandau ergab sich, ohne einen Schuß zu tun, und am 27. Oktober hielt Napoleon seinen glänzenden Einzug in Berlin. Glockengeläut und Kanonensalut begrüßten von 4 Uhr nachmittags an den zum Kaiser avancierten Korporal aus Korsika, der dann durchs Brandenburger Tor in die Linden einritt, um von französischen Regimentern und einer gewaltigen Volksmasse begrüßt zu werden.
»Vive l’Empereur!« riefen nicht nur die Truppen, sondem auch die Berliner, die durch die Katastrophe von Jena und Auerstedt noch schockiert waren. Genannte Chronik vermerkt: »Die schmachvolle Kriecherei der Berliner aller Stände war so groß, daß Napoleon kopfschüitelnd sagte, er wisse nicht, ob er sich über das, was er in Berlin sähe und höre, freuen oder schämen solle.« Ein gewisser Lange gab ein Schandblatt heraus, den »Telegraf«, »in welchem er den Kaiser Napoleon als einen Halbgott hinstellte und, um sich bei den Siegern recht beliebt zu machen, in schmutziger Weise versuchte, selbst den weiblichen Ruf der Königin Louise zu beflecken«.
Ruhe war die erste Bürgerpflicht – man hatte des Grafen Schulenburg wohlmeinenden, wenn auch nicht sehr heldenmütigen Rat nicht nur beherzigt, sondern ins Übel der Kollaboration hinein übertrieben. Alles schon einmal dagewesen, möchte man wieder einmal seufzen. Zwischen der bartzwirbelnden Siegeszuversicht einer Armee, die sich aus den Lorbeeren des Alten Fritzen ein sanftes Ruhebett gemacht hatte, um sich dann bei Jena und Auerstedt ein bißchen zu spät den Schlaf aus den Augen zu reiben, und der so heftig getadelten Liebedienerei der tapferen Berliner vor 150 Jahren schwankte offenbar schon damals unser Volkscharakter hin und her.
Es lägen doch wohl Würde und Vernunft einer Nation genau in der Mitte zwischen dem Täterätä von »Siegreich wollen wir Frankreich schlagen« und dem schlotternden »Jetzt ist Ruhe die erste Bürgerpflicht, ich bitte darum«. Bittere Lehren immer wieder. Haben wir was gelernt in 150 Jahren? Unsere Chronik vermerkt, so muß gerechteweise hinzugefügt werden, daß später, als auf den Glanz des napoleonischen Einzuges Unter den Linden der Katzenjammer folgte: unaufhörliche Einquartierungen, strenge Zensur und immer größere Reparationen, daß damit die Berliner ihren Stolz wiederfanden, den sie dann freilich gleich in nationalistischen Revanchetönen ausdrückten.
Verehrt sei der greise Prediger Ermann, der es wagte, zu Napoleon zu sagen: »Sire, ce n’est pas vrai!«, als der übermütige Welteroberer in Ermanns Gegenwart vor einer Gesellschaft beleidigende Worte gegen die Königin Louise fallen ließ. Es ist überliefert, daß Ermann künftig die Achtung des Kaisers genoß. Kollaborateure hingegen wie der Journalist Lange wurden nunmehr vom Volke und, wie die Chronik formulierte, auch vom »vornehmen Pöbel« gemieden. Hoch gerühmt wird im Auf und Ab der Zeiten immer wieder der Herr Intendant Iffland, der das Berliner Theater mit Takt und Festigkeit durch die Franzosenbesetzung steuerte.
Ach ja, wie gerne sind wir doch alle bereit, wenn Gefahr droht, zu sagen: »Ruhe ist die erste Bürgerpflicht, ick jehorche!« Aber wie schwer muß man immer wieder für so ein Schläfchen im Schilderhaus bezahlen! Das erfuhren die Berliner 1806, und sie haben in den letzten Jahren bewiesen, daß sie es nicht ganz vergessen hatten.
Sie zwängen sich durch die Sperre: die Frau von dreißig im Schneiderkostüm, recht elegant von weitem, nur der Rock zu kurz, die Schuhe zu derb, die Schultern zu eckig, die Jacke zu lang; der Halbwüchsige, unsicher und frech, Garant der volksdemokratischen Zukunft; die alte Frau mit zwei schweren Handtaschen, klein, eilend. »Omi!« eine hohe Kinderstimme aus dem Knäuel der Wartenden.
Der Personenzug aus Elsterwerda ist düster, glanzlos die wieder eingesetzten Fensterscheiben. Der Rauch der Lok steigt zu einem stumpfen, schwarzen Nachthimmel. Die Eisenkonstruktion über der weiten Bahnhofshalle aus gelbem Backstein ist sauber weggesprengt. Wenige starke Glühlampen über schmutzigen, breiten Schirmen schneiden gelbe Kegel in die Finsternis.
Das Gesicht einer Achtzehnjährigen über dem viel zu großen Koffer; ein formloser Mantel aus grauem Deckenstoff. Ihr Mund, weich und sanft unter kecker Nase und zu ernster, zu niedriger Stirn, schämt sich einer provinziehellen Unbeholfenheit. Die Augen unruhig und hungrig; ein billiger, bunter Schal, kokett über die Schulter geworfen, macht die ganze Erscheinung nur rührender.
Die Omi – aus Sachsen, wie man deutlich hört – hält das kleine Berliner Enkelkind auf dem Arm. Etwas geniert steht der Westberliner Vater im neuen Trenchcoat abseits mit den verschrumpelten Handtaschen der Großmutter. Sie ist ein verhuschtes, dunkles, scheues, kleines Wesen mit zerfaltetem Gesicht, armselig – im Augenblick der Ankunft erleuchtet. Milde, dunkle Augen unter weißem Haar. Der Vater folgt mit leichtem Abstand auf leisen Kreppsohlen seiner Mutter, die von seiner Tochter plappernd zur S-Bahn-Treppe gezogen wird.
Die ist ein schwarzes Loch wie schon vierundvierzig. Der Krieg ist hier noch nicht hinter eine Schutzfassade von neuem Glas, Messing, Kunststein und Holztäfelung zurückgedrängt. Nackt starren die Steine, der Mörtel bröcklig, die Wände verwittert und stellenweise geschwärzt durch Explosionen, Brände. So auch die Mauern der Bahnhofshalle. Durch die großen, rundbögigen Fensteröffnunggen die stumpfe schwarze Nacht, die dort hinten schon die letzten Wagen des Zuges aus der »Zone« verschluckt. Der Halbwüchsige, unsicher und frech, hat plötzlich die dunkle Uniform der Volkspolizei an, steht neben der Lokomotive. Nein, es ist ein anderer; der an der Sperre trug das Haar lang über die Ohren. Einer des gleichen Alters schlendert jetzt als letzter durch die Sperre. Schaftstiefel, Zigarette, Abzeichen auf dem Jackett. So viele von diesen Jungen. Oder fallen sie nur mehr auf als die Frauen und Mädchen und die wenigen Männer?
Die Frau von dreißig im Kostüm der Kriegszeit steht vor dem Verkaufsstand der HO. Sie hat ein Gespräch mit dem Verkäufer angefangen, kauft aber nichts. Erkundigt sich nach Straßenbahnlinien, wartet noch halb. Schwätzt gern. Ja, aus Dresden, Freundin in Berlin besuchen mal sehen …
Die Bahnsteige leer, der Wagen mit den Zeitungen verschwunden, der Zug schiebt sich rückwärts aus der Halle, der HO-Verkaufsstand wird geschlossen. Die Treppen zum großen Ausgang hinunter auch leer. Tiefe Nacht. Kein Zug mehr heute. Keine Türen, keine Fenster in der Bahnhofsvorhalle, kein Dach. Im Kegel einer Lampe, die im Winde schwankt, grünes Unkraut oben in den Gemäuerwinkeln.
Berliner Kinder sind »Kinder wie du und ich«. Das heißt: sie stören meist, sind grausam, unberechenbar und bringen schlechte Zensuren nach Hause. So weit, so gut. Frage ich meinen Kleinen aber: »Na, was soll dir der Nikolaus bringen?«, antwortet der ganz gleichmütig, während er mit dem Katapult eiskalt auf seine Schwester zielt: »Paar große Handschuhe für den kleinen Jungen.«
»Der« kleine Junge spielt in unserem Familienleben, seit einigen Tagen eine ganz bestimmte Rolle. Die Kinder haben in der Zeitung ein Bild gesehen von der ungarischen Grenze; großen Eindruck machte ihnen ein kleiner Flüchtlingsjunge, der seine verfrorenen Fäustchen rührend bittend in die Höhe hob.
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