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Kapitel 3
DER DURST DER SEELE
Die Seele weiß nur eins mit Gewissheit: dass sie hungrig ist … Ein Kind hört nicht auf zu weinen, wenn wir ihm sagen, dass es vielleicht kein Brot gibt. Es weint trotzdem weiter.45
Simone Weil
Ich habe von meinem Lesekreis erzählt, in dem Christen hauptsächlich als Wählergruppe wahrgenommen werden. In den zehn Jahren, in denen wir uns regelmäßig treffen, haben die anderen Mitglieder nur zweimal ein offensichtliches Interesse an Glaubensfragen gezeigt.
Eines Abends erzählte uns Josh von seiner Schwester, einer Evangelikalen, die sich zur Tea-Party-Bewegung zählt und in Virginia lebt. Sie war drogenabhängig gewesen, wechselte häufig die Stelle und konnte ihre Ehe nicht zusammenhalten. „Dann fand sie eines Tages Jesus“, sagte Josh. „Anders kann man es nicht formulieren. Von einem Tag zum anderen hat sie sich verändert. Ihre Vorstellungen und Ideen treiben mich in den Wahnsinn, aber ich kann nicht leugnen, dass sich ihr Leben verändert hat. Sie hat es mit allen möglichen Entziehungskuren und Therapien versucht, aber das war das Einzige, was geholfen hat.“
Im späteren Verlauf des Abends bat mich Josh unter vier Augen, ihm Bücher zu empfehlen, die den christlichen Glauben so erklären, dass er es verstehen könnte. „Meine Schwester schickt mir Bücher, die mich überhaupt nicht überzeugen“, meinte er. „Die sind offenbar für Menschen geschrieben, die schon glauben. Wäre C. S. Lewis vielleicht etwas?“ Ich lächelte anerkennend, ging zu meinem Regal und zog einige Bände heraus.
Ein anderes Mal bat mich der marxistische Professor zu meiner Überraschung um Rat, welche Bibelübersetzung am besten sei. Er hatte sich entschlossen, eine Bibel zu kaufen und sie von vorne bis hinten, vom ersten Buch Mose bis zur Offenbarung, durchzulesen. „Da hast du dir ja was vorgenommen“, entgegnete ich. „Was hat dich dazu veranlasst?“ Ich wusste, dass er seit einigen Jahren unter Prostatakrebs litt. Vor einiger Zeit, so erklärte er mir, hätten ihm die Ärzte eröffnet, dass er nicht mehr lange zu leben hätte. In den wenigen Wochen oder Monaten, die ihm noch blieben, wollte er noch einmal mit dem Blick eines reifen Mannes den Glauben, dem er als junger Mann den Rücken gekehrt hatte, einer Prüfung unterziehen.
Vor seinem Tod führten wir noch einige Gespräche. „Mit deinen Fragen bin ich einverstanden“, meinte er. „Nur mit den Antworten nicht.“
Die Fragen – allgemeingültige Fragen, die wir uns alle stellen – sind ein guter Ausgangspunkt, um die gute Nachricht weiterzugeben.
Thomas Merton schrieb in sein Tagebuch: „Geistliche Dürre ist die intensivste Sehnsuchtserfahrung, die wir machen können.“46 Ich schaue in mich hinein, sehe meinen geistlichen Durst und denke auch an Menschen, die ich kenne. Wie sehen die Symptome aus? Eine rastlose Jagd nach Zerstreuung, Angst vor dem Tod, vor Langeweile, vor Abhängigkeit – all das kann auf eine Sehnsucht hinweisen, die im Grunde eine geistliche Suche ist, die Schreie und das Geflüster eines Menschen, der sich verirrt hat.
Wie anders begegne ich Menschen, wenn ich sie nicht als böse oder nicht errettet betrachte, sondern als verloren. Für manche beschwört das Erinnerungen an Evangelisten herauf, die gegen „die Verlorenen“ wettern. Ich meine es in einem anderen Sinn, bei dem Mitgefühl mitschwingt. Beim Wandern in Colorado passiert es mir hin und wieder, dass ich Wegweiser übersehe und vom Weg abkomme. Verwirrt starre ich auf meine Karte und den Kompass und versuche, nicht in Panik zu verfallen. Schon habe ich kostbare Zeit und Kraft verschwendet. Ich weiß, wie gefährlich es ist, die Nacht unvorbereitet im Gebirge zu verbringen. Endlich sehe ich einen anderen Wanderer und rufe ihm etwas zu. Als wir aufeinander treffen, nimmt er meine Karte zur Hand und zeigt mir, wo ich bin und in welche Richtung ich gehen muss. Die Angst weicht, als ich begreife, dass ich nicht mehr verloren bin. Ich kenne den Weg nach Hause.
Andererseits habe ich auf meinen Abwegen im Gebirge auch Aussichten genossen und Dinge entdeckt, die nur wenige Wanderer zu Gesicht bekommen. Wenn ich weiß, dass ich in Sicherheit bin, kann ich auf die Stunden, in denen ich umherirrte, als ein Abenteuer zurückblicken, und zwar ein Abenteuer, aus dem ich etwas lernen kann. Die Stunden, in denen ich mich am meisten fürchtete, wenn ich zum Beispiel auf einem Felsen herumkletterte und es keinen Weg mehr nach unten gab, ergeben heute die besten Geschichten, die ich mit anderen Wanderern austausche.
Barbara Brown Taylor erinnert sich an ihre eigenen Wanderungen: „Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft ich in meinem Leben einen Irrweg eingeschlagen habe. Ich nahm mir vor zu heiraten, und die Ehe endete mit einer Scheidung. Ich nahm mir vor, gesund zu bleiben, und wurde krank. Ich nahm mir vor, in Neuengland zu leben, und landete in Georgia. Als ich dreißig war, nahm ich mir vor, Pastorin zu werden, und plante den Rest meines Lebens in einer Gemeinde zu verbringen, die mich haben wollte, und mich dort um die Menschen zu kümmern. Fast dreißig Jahre später unterrichte ich in einer Schule.“47 Sie schließt mit den Worten:
Keiner dieser Abwege hat mir zunächst gefallen, aber ich würde nichts davon eintauschen. Während ich verloren umherirrte, habe ich Dinge gefunden, die ich nie entdeckt hätte, wenn ich auf dem Weg geblieben wäre. Ich habe Lebenswege beschritten, die niemand, der bei vollem Verstand ist, bewusst gewählt hätte. Und die versteckten Schätze, die ich auf dem Weg gefunden habe, wiegen den geplanten Profit, den ich niemals eingefahren habe, mehr als auf. Aus diesen und anderen Gründen habe ich mich entschlossen, nicht mehr gegen die Möglichkeit anzukämpfen, dass ich mich verirren und verloren gehen könnte, sondern es als geistliche Übung zu begrüßen. Die Bibel hilft mir sehr dabei, denn sie erinnert mich daran, dass Gott in den Menschen, die sich wirklich verirrt haben und verloren sind, am meisten und am besten wirkt.
Mein Leben lang lese ich schon die Bibel und habe immer nach einem Oberthema Ausschau gehalten, einer Zusammenfassung, die uns sagt, worum sich dieses lange Buch eigentlich dreht. Mir ist Folgendes in den Sinn gekommen: „Gott holt seine Familie wieder zu sich.“ Vom ersten bis zum letzten Buch erzählt die Bibel von Kindern, die auf Abwege geraten sind, und von Gott, der Unsägliches auf sich nimmt, um sie wieder nach Hause zu bringen. Dieses biblische Drama schließt mit einem gigantischen Familientreffen in der Offenbarung.
Viele Geschichten, die Jesus erzählte, handeln vom Verlorensein. Am bewegendsten wird das vielleicht im Gleichnis vom Verlorenen Sohn deutlich. Die Geschichten Jesu zu diesem Thema – eine verlorene Münze, ein verlorenes Schaf und ein verlorener Sohn – machen zwei Punkte deutlich. Zunächst einmal sind die Verlorenen wichtig. Es ist jede Anstrengung wert, sie wiederzufinden, selbst wenn das bedeutet, die zurückgebliebenen neunundneunzig Schafe allein zu lassen. Zweitens: Wenn man etwas Verlorenes wiederfindet, muss das gefeiert werden. „Wir mussten diesen Freudentag feiern, denn dein Bruder war tot und ist ins Leben zurückgekehrt! Er war verloren, aber jetzt ist er wiedergefunden!“, ruft der Vater von Freude überwältigt aus und verteidigt sich vor seinem älteren Sohn dafür, dass er seinen Bruder mit offenen Armen willkommen heißt (Lukas 15,32).
Die Pharisäer fühlten sich von solchen Geschichten bedroht, denn sie gingen den Verlorenen aus dem Weg und pflegten lieber Gemeinschaft mit anderen Pharisäern. Man achtete sie, weil sie sich an vertraute Regeln hielten. Und ich fühle mich von solchen Geschichten ebenfalls bedroht, weil ich die Bequemlichkeit der vorhersagbaren Religion der schwierigen Aufgabe vorziehe, die Verlorenen zu suchen. Insbesondere das Gleichnis vom Verlorenen Sohn bringt meine säuberlich geordneten Schubladen durcheinander, die verantwortungsvolles von verantwortungslosem Handeln trennen, Gehorsam von Rebellion, Moral von Unmoral. So ist Gnade.
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