Mein Herz klopfte schnell, als sie ihn öffnete. Ich hatte noch nie so viele schöne Dinge gesehen.
„Das ist alles für mich?“, fragte ich außer Atem. Eine Schiefertafel, der Schiefer schwarz, der Rahmen aus hellem Holz. An der einen Seite, durch ein Loch gezogen, hing eine weiße Schnur, daran ein weißer, gehäkelter Lappen, um die Tafel zu trocknen. Dazu gab es ein Schwammdöschen mit einem roten Schwamm, den ich jeden Tag auswaschen konnte.
Ein Griffelkasten aus hellem Holz mit weißen Edelweißblüten. Darin lagen zwei Griffel, mit regenbogenbuntem Papier umwickelt, die Mama jeden Tag anspitzte. Mein Herz klopfte laut, in diesem Augenblick wusste ich, da war etwas, das jetzt begann.
Am nächsten Morgen gingen wir zur Schule. Oma hatte meine kleine Schwester Sieglinde an der Hand und Mama meinen Bruder Hans Robert auf dem Arm. Wir betraten den großen Schulhof.
„Geh mal dort unter den großen Baum!“, sagte Mutter. Sie kam auf mich zu, öffnete die braune Papiertasche und zog, ich konnte es nicht glauben, eine große, dicke, braun gebackene Brezel heraus und drückte sie mir lachend in die Arme.
Nun stand ich dort, die Brezel war so groß, sie reichte mir vom Kinn bis unten auf die Füße. Mama fotografierte mich. Eine Glocke läutete, ich gab Mama die Brezel zurück und stieg mit meiner Freundin und vielen anderen Kindern eine hohe Treppe ins Schulgebäude hinauf. Wir waren so viele Kinder, mussten in drei oder vier Klassen verteilt werden. Ich war aufgeregt und konnte es kaum erwarten, all die wunderbaren Dinge aus dem Ranzen auszupacken.
Genau in diesem Augenblick begann für mich die spannende, nie endende Bekanntschaft mit den sechsundzwanzig Buchstaben des Alphabets. Eine schillernde Welt begann zu leben. Ich war neugierig, eifrig, schnell, viel zu lernen. Jeden Tag übte ich, wischte immer wieder meine Tafel blank und schrieb, bald konnte ich mein Lesebuch, das ich abends mit ins Bett nahm, von Anfang bis zum Ende lesen. Die Schule war für mich etwas ganz Besonderes.
*
Mädchen sechs Jahre
geborgen an Mutters Hand
der Krieg vorbei
wir hatten überlebt
Das Erlebnis, das mein Leben für immer veränderte, ist so tief in mir verwurzelt, dass ich es niemals vergessen habe.
Als ich am Morgen des 21. September im Jahre 1945 aufwachte, war es ungewöhnlich still im Haus. Ich horchte, nichts war zu hören. Verschlafen kletterte ich aus dem Bett, zog meine Pantoffel an, öffnete die Schlafzimmertür und trat auf den Flur.
Links an der Wand lag ein weißes Stoffbündel, ein zusammengerolltes Betttuch. Ich ging weiter, lief die Treppe hinunter und von dort in die Küche. Papa saß am Küchentisch. Seine Kaffeetasse stand vor ihm. Er war dabei, Brote zu bestreichen. Für mich das Pausenbrot und in eine Dose legte er seine Brote, die er mit zum Dienst nahm. Papa arbeitete bei der Bahn.
„Guten Morgen Papa“, sagte ich verschlafen. „Wo ist Mama?“
Er hörte nicht auf, die Brote zu bestreichen, wickelte sie in Butterbrotpapier und sagte, immer den Blick auf seine Hände gerichtet. „Setz dich, Kleines“, sagte er und schob mir einen Stuhl an den Tisch. Er strich mir über das Haar und räusperte sich. Vor unseren beiden Fenstern, der Tisch stand genau zwischen ihnen, brannte noch die Straßenlaterne, es war früh.
„Also mit Mama, das ist so. Sie ist heute Nacht ins Krankenhaus gekommen.“
Ich bekam Angst und begann zu weinen.
„Liebes, sie ist sehr krank“, hörte ich seine Stimme durch mein Schluchzen und Schniefen. „Du hast so fest geschlafen, sie wollte dich nicht aufwecken. Tante Erna war hier und hat deine Schwester und deinen Bruder mit zu sich nach Hause genommen.“ Zusammengekauert saß ich auf meinem Platz, sah immer in das Licht der Laterne, so als könnte es mir Mama wieder zurückbringen. „Du musst ja zur Schule und ich zur Arbeit“, sprach Papa weiter. Er nahm mich auf seine Knie, wischte mir die Tränen fort. „Wenn du aus der Schule kommst, fahren wir beide ins Krankenhaus und besuchen deine Mama“, versprach er mir.
An Papas Hand betrat ich am Nachmittag das Krankenzimmer. Das Zimmer war ein großer Saal mit vielen Betten. Rechts an der Wand standen die Betten hintereinander. Im obersten Bett am Fenster lag Mutter. Ich riss mich von Vaters Hand los und lief weinend zu ihr. Sie sprach nicht mit mir, sie streichelte mein Haar. Mutters Gesicht war weiß, ihre Hand kalt.
Das war unsere letzte Begegnung. Ich weiß, dass meine Mutter noch vier Wochen lebte, doch an einen weiteren Besuch bei ihr habe ich keine Erinnerung.
In dem Bündel im Flur, das ich für ein Betttuch gehalten hatte, war mein kleiner Bruder eingewickelt, der in der Nacht geborenen worden war. Er hat nur zwei Stunden gelebt.
Meine Mutter starb am 31. Oktober 1945 an einer Sepsis, gerade erst 26 Jahre alt. Bei ihrer Beerdigung gab es viele Tränen. Ich, gerade sieben Jahre alt, stand stolz an ihrem Grab auf dem Friedhof. Zur Beerdigung hatte Papa einen dunkelblauen Mantel für mich ausgeliehen. Ich wusste nicht, dass ich meine Mutter nie wiedersehen würde. Ich begriff nicht, was da geschah.
Die Erwachsenen waren besonders freundlich zu mir, das genoss ich sehr. Diese Holzkiste, der Sarg, den Männer in das Loch hinunterließen, wie konnte ich ihn mit Mama in Verbindung bringen?
Nach der Beerdigung zog mein Vater mit seinen beiden leiblichen Kindern nach Frankfurt am Main zu seinen Eltern. Ich blieb im Dorf zurück bei meinen Großeltern.
Die genauen Daten von der Geburt meines kleinen, verstorbenen Bruders und den Todestag meiner Mutter erfuhr ich erst im Jahre 1998. Meiner Schwester wurde nach dem Tode ihres Vaters das Familienstammbuch ausgehändigt. Sie machte es mir zum Geschenk.
Die Gefühle sind nicht zu beschreiben, als ich das Buch in den Händen hielt, die Unterschrift meiner Mutter unter ihrer Heiratsurkunde las.
*
*
An meine Großeltern kann ich mich zu meinem Erstaunen deutlicher erinnern. Großmutter war eine kleine, dunkelhaarige Frau und Großvater ein großer, kräftiger Mann, mit einem blonden Kranz Haaren und oben auf dem Kopf eine glänzende Glatze, die mich ganz besonders faszinierte.
Großmutter war immer sehr liebevoll, ich bekam heiße Milch und Butterbrote mit selbst gekochtem Gelee. Ein Erlebnis ist mir in Erinnerung geblieben. Ich durfte, was ein ganz besonderer Genuss für mich war, dass Geleeglas auslecken, wenn nur noch ein Restchen darin war. Ich saß eines Tages auf einem kleinen Schemel in der Küche und löffelte andächtig die süßen Reste aus dem Glas. Irgendwie wurde ich unterbrochen und stellte das Glas ab.
Als ich es später wieder hochnahm, hatte sich eine Biene oder eine Wespe unter den Löffelchen gesetzt. Ich steckte den Löffel in den Mund und sie stach mir in die Zunge. Das gab eine ganz schreckliche Aufregung. Meine Zunge schwoll sehr schnell an, ich drohte, zu ersticken. Mama war da, dass weiß ich, und Großmutter, die laut weinte. Was sie taten, weiß ich nicht mehr, jedenfalls habe ich diesen Stich ja überlebt.
Nur durch dieses Erlebnis sind mir Bruchstücke von Großmutters Küche in Erinnerung geblieben. Ich sehe den Tisch vor mir, rechts an der Wand, und das einzige Küchenfenster zur Gartenseite hin, sehr hoch oben, ich konnte nicht hinaussehen. Ich sehe Oma, wie sie mir lächelnd das Geleeglas reicht.
Ihr Haus steht auf der Schönbornerstraße, einer Seitenstraße, die, wenn man in das Dorf hineinkommt, rechts einen Berg hinaufführt. Vor der ersten Kurve, auf der rechten Straßenseite steht es, mit dem Giebel zur Straße. Durch ein Tor betrat ich den Hof. Er war schmal und lang gestreckt und führte weit nach hinten, bis zum Ende des Grundstücks.
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