»Es sei denn ...«
»Es sei denn, jemand hat nachgeholfen.«
Zunächst blieb Dumas stumm.
»Wer?«
»Alain.«
»Gibt es Beweise?«
Dumas schien verärgert.
»Nein.«
Georges berichtete, was am Morgen vorgefallen war. Er verheimlichte auch nicht, dass er Alain mit Kündigung gedroht hatte.
»Alain war sehr erregt. Dass sein Sohn im Krankenhaus liegt, machte ihn nur noch wütender.«
»Beweise, Georges! Wir brauchen Beweise! Sonst ist alles reine Spekulation.«
»Als ich nach oben kam, saß Alain in der Baracke, hatte sich schon umgezogen und machte einen ziemlich entspannten Eindruck, trotz der Geschichte mit seinem Sohn und dem Stromausfall. Ungefragt äußerte er sogleich, dass sich das Kabel auf Grund der Vibrationen gelöst haben müsse.«
»So ganz abwegig scheint dieser Gedanke ja auch nicht zu sein.«
»Schon möglich. Aber die Sache hat einen Haken. Bislang wissen nur ich selbst, der Mann im Kontrollraum, Rachid und Ahmed, dass der Ausfall auf einen Kabelbruch zurückzuführen ist. Ich habe jemanden von Alains Leuten gefragt, ob sie ihn nach dem Stromausfall gesehen hätten. Die Antwort war nein. Aber einer der Portugiesen hat beobachtet, wie er durch den Victoriaschacht nach oben geklettert ist, und das ist der Schacht, der dem Elfer am nächsten ist.«
»Verstehe, aber woher wollen Sie wissen, dass es nicht doch ein anderer war?«
»Das ist natürlich nicht völlig ausgeschlossen. Die anderen Vorarbeiter, die den Verlauf der Kabel kennen, waren zum Zeitpunkt des Stromausfalls alle an verschiedenen Orten beschäftigt. Ich habe das nachgeprüft.«
»Was schlagen Sie vor? Eine polizeiliche Ermittlung käme höchst ungelegen.«
»Ungelegen?«
»Das Konsortium besteht aus sechs Unternehmen. Fünf von ihnen würden mich gerne durch jemand anderen ersetzen. Meine Kompetenz wird zwar nicht öffentlich angezweifelt – schließlich bin ich es gewesen, auf den sich alle verständigen konnten –, doch wenn mir auch nur ein schwer wiegender Fehler unterläuft, bin ich weg vom Fenster. Und Sie auch. Wir sollten in unserem eigenen Interesse keine schlafenden Hunde wecken.«
»Das kann schon sein. Aber wir können Alain doch nicht einfach so weitermachen lassen, als sei nichts geschehen, und zwar unabhängig davon, ob er es war, der das Kabel gelöst hat. Er vernachlässigt seine Arbeit. Für mich ist die Sache ganz einfach. Wenn Alain Vorarbeiter bleibt, dann gehe ich.«
Dumas lächelte.
»Ist das eine Drohung?«
»Eine Tatsache. Wenn ich von heute auf morgen aufhöre, verliert das Unternehmen auf Grund der Bauverzögerung mehrere Millionen. Ist Alain das wert?«
»Ich werde mit ihm reden. Wen wollen Sie stattdessen?«
»Ahmed.«
»Einen Araber?«
»Er ist tüchtig und zuverlässig, sowohl privat als auch beruflich.«
»Verstehen Sie mich nicht falsch, aber ich bin Realist. Einem Araber eine doppelte Loyalität aufzubürden, ist immer ein Risiko, besonders in Zeiten wie diesen.«
»Wir haben zweihundertvierzig Algerier unter Tage, in vier Arbeitsgruppen zu je sechzig Männern. Keine von ihnen wird von einem Landsmann geführt. Im Gegensatz zu den portugiesischen und französischen Arbeitsgruppen. Selbst die Türken haben einen türkischen Vorarbeiter. Ich weiß, dass alle Algerier als Sicherheitsrisiko betrachtet werden. Aber es geht doch ausschließlich darum, dass sie ihre Arbeit ordentlich machen. Unsere Baustelle ist doch nicht Ali Babas Schatzkammer. Im Gegenteil, die Arbeit ist hart, schmutzig und gefährlich. Will man aus den Algeriern das Beste herausholen, muss man ihnen auch einen Landsmann als Vorarbeiter zugestehen. Ein Rassist wie Alain treibt sie nur in die Hände von islamischen Extremisten. Auf Ahmed hingegen kann man sich hundertprozentig verlassen.«
»Was wollen Sie also?«
»Dass Ahmed Vorarbeiter wird. Außerdem will ich, dass er und Rachid für ihren heutigen Einsatz angemessen belohnt werden.«
»Mehr nicht?«
»Doch, dass Sie sich persönlich bei ihnen bedanken. Die beiden warten draußen vor der Tür.«
»Sie sind wirklich ein ungewöhnlicher Mann, Georges. Macht und Karriere scheinen Sie nicht zu interessieren. Sie sind loyal und erledigen pflichtbewusst Ihre Aufgaben. Gleichzeitig leisten Sie sich den Luxus einer Moral.«
»Ich kümmere mich ausschließlich darum, was getan werden muss, damit alles so gut wie möglich funktioniert. Wenn Sie das nicht nachvollziehen können, betrachten Sie es als reinen Egoismus. Je reibungsloser die Arbeit vonstatten geht, desto besser für mich.«
»Also herein mit den Helden! Und sagen Sie Alain, dass ich ihn sofort sprechen will.«
Georges ging hinaus und sagte zu Ahmed und Rachid, dass der Chef mit ihnen sprechen wolle. Nachdem sie hineingegangen waren, wandte er sich an Dominique.
»Es tut mir Leid, dass ich Sie noch gar nicht begrüßt habe«, sagte er. »Ich war zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt. Sie haben wohl mitbekommen, was sich ereignet hat?«
»Sie müssen sich doch nicht entschuldigen. Sie sind im Grunde der Einzige, der mich wie einen Menschen behandelt.«
»Wie sollte ich Sie denn sonst behandeln?«
Georges schaute sie verwundert an. Sie lachte.
»Wie eine Frau, eine Farbige oder potenzielle Geliebte, so wie alle anderen. Sie können es sich aussuchen.«
Georges wusste nicht, was er sagen sollte.
»Farbige wie ich sollten besser keine Chefsekretärinnen sein. Ich habe mir den falschen Beruf ausgesucht. Ich hätte eine Edelprostituierte werden sollen. Dann wären alle zufrieden.«
»Nur ich nicht«, entfuhr es Georges.
»Nicht?«
Georges senkte die Stimme.
»Wenn es Sie nicht gäbe, wären die ständigen Besuche bei Dumas wirklich unerträglich.«
Dominique lächelte und schaute ihn lange an.
»Darf ich das als Kompliment auffassen?«
»Das ist die Wahrheit.«
Georges war verlegen. Was hatte er da gesagt? Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er Dominique nie als Frau betrachtet hatte, vor allem nicht als die attraktive Frau, als die sie sich bei näherem Hinsehen entpuppte. Am Tag seiner Hochzeit mit Marie hatte er aufgehört, andere Frauen als Frauen zu betrachten. Für ihn war es einem Wunder gleichgekommen, dass überhaupt eine Frau dazu bereit war, ihn zu lieben. In erster Linie hatte er sich nach Liebe gesehnt, nicht nach Frauen.
»Brauchen Sie nicht vielleicht eine Sekretärin?«, fragte Dominique.
»Wenn ja, dann kämen nur Sie in Frage.«
Georges hätte sich auf die Zunge beißen können.
»Jetzt habe ich mich sicher so angehört wie alle anderen«, sagte er.
»Das gelingt Ihnen nicht«, antwortete Dominique und legte ihre Hand auf seine.
Georges schüttelte den Kopf. Er wagte nicht, den Mund zu öffnen, aus Angst, was dabei herauskäme. Auf dem Rückweg zu seinem Büro dachte er unentwegt an ihre Worte. Er fühlte sich beschwingt. Und es fiel ihm auf, dass er dieses Gefühl schon früher empfunden hatte, nachdem er mit ihr gesprochen hatte. Beschwingt.
Die Freude schlug in ihr Gegenteil um, als er die Tür zur Baracke öffnete.
»Ich hätte da unten krepieren können«, sagte Alain aggressiv, sobald er Georges zu Gesicht bekam.
» Wir hätten krepieren können. Du warst schließlich nicht allein dort unten, falls du das glauben solltest. Dumas will mit dir reden. Und zwar sofort.«
»Worüber?«
»Das weißt du selbst am besten.«
Ahmed ließ Rachid zuerst eintreten. Wie würde Rachid seinem Chef gegenübertreten? Wie die meisten Ausländer, mit am Boden festgenageltem Blick, um die Aufmerksamkeit nicht auf sich zu lenken? Doch Rachid verzog keine Miene, als er Dumas’ Büro betrat. Ahmed war sich gewiss: Hier handelte es sich nicht um einen x-beliebigen Immigranten oder Bauarbeiter. Wer war er? Warum lag es in seinem Interesse, die Baustelle vor einer Überschwemmung zu bewahren? Hatte er sich nur seinen Job erhalten wollen? Vielleicht. Für einen Ausländer mit gefälschten Papieren konnte der Verlust des Arbeitsplatzes eine Katastrophe bedeuten.
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