Björn Larsson
Der böse Blick
Roman
Aus dem Schwedischen
von Knut Krüger
Lindhardt und Ringhof
Am Tag der Auferstehung sollen sie gefragt werden nach dem, was sie erdichteten.
Koran, Sure 29/12
Fatima
Eine von Mohammeds Töchtern aus der Ehe mit Chadidscha. Verheiratet mit Ali und Mutter von Hasan und Husayn. Von Sunniten und Schiiten gleichermaßen verehrt. Zum Schutz vor Dämonen oder dem »bösen Blick« wird ihre Hand oft an Türen, auf Amuletten oder Halsschmuck abgebildet. Fatima ist in der gesamten islamischen Welt ein geläufiger Name.
Jørgen Bæk Simonsen, Lexikon des Islam
Rachid schaute auf die Uhr. Genau zwölf Minuten vor sechs, so wie an jedem Morgen der letzten drei Monate, betrat er den Fahrstuhl, der ihn zur Sohle des Victoriaschachts brachte.
Bevor er die Fahrstuhltüren zuzog, ließ er seinen Blick über den Bauplatz schweifen, um sich zu vergewissern, dass niemand in der Nähe war. Er sah die Baracken der Arbeiter, die man in sieben Etagen übereinander geschichtet hatte, um Platz zu sparen; den vierzig Meter hohen Kran, der eine Kapazität von sechzig Tonnen besaß, um Bagger und Betonelemente hinabzusenken; die vier Zementsilos, deren Inhalt unter Hochdruck durch meterdicke Schläuche gepresst wurde; die Belüftungsrohre, deren Ventilatoren unablässig surrten; die Berge von Armierungseisen und Baugerüsten, die auf ihren Einsatz warteten, und viele andere Dinge, deren Verwendungszweck Rachid nicht kannte.
Wie an jedem anderen Morgen der letzten Monate war er allein. Um den Nachtschlaf Tausender von Menschen nicht zu stören, ruhte der lärmende Vortrieb zwischen acht Uhr abends und sieben Uhr morgens. Nachtwächter, Techniker und Ingenieure arbeiteten währenddessen in zwei Schichten, waren entweder schon gegangen oder noch nicht da, als Rachid kam. Eine knappe Stunde, zumindest eine gute halbe Stunde würde er mit großer Wahrscheinlichkeit ungestört sein.
Aber Wahrscheinlichkeit war etwas anderes als Gewissheit. Als Ingenieur wusste er, wie gefährlich es war, aus einer begrenzten Anzahl von Beobachtungen auf eine Gesetzmäßigkeit zu schließen. Deshalb blieb er für einen Moment ruhig stehen, blickte in den Abgrund und lauschte, bevor er auf den Fahrstuhlknopf drückte. Durch das Stahlgitter des Aufzugskäfigs hindurch konnte er den Boden in dreißig Metern Tiefe erahnen und die Sprossen der Leiter, die an die Oberfläche führten, deutlich erkennen. Niemand war zu sehen. Völlige Stille.
Als sich der Fahrstuhl ratternd in Bewegung setzte, zog er seinen Notizblock hervor und kontrollierte ein weiteres Mal, ob alle Angaben stimmten. Er prüfte, wie lange er brauchte, um die Sohle zu erreichen und danach zu Schacht Nummer elf zu gelangen, wo von den Hauptkabeln aus der Strom auf mehrere kleinere Leitungen verteilt wurde. Genau hier, am Verteilerkasten, fünf Meter unter der Oberfläche, sollte eine kleine Sprengladung platziert werden, um die Stromversorgung außer Kraft zu setzen. Da er bereits wusste, wie viel Zeit er für diesen Vorgang veranschlagen musste, begab er sich von Schacht elf unverzüglich durch die südliche Tunnelröhre in den zukünftigen Zentralbereich der Station namens »Condorcet«. Mit raschen Schritten lief er zum anderen Ende, das über zweihundert Meter entfernt war. An einigen Stellen musste er Umwege in Kauf nehmen, weil ihm Bohrmaschinen, Baugerüste oder andere Gegenstände den Weg versperrten.
Am anderen Ende des Zentralbereichs nahm er den Aufzug bis zu einer Tiefe von zehn Metern unter der Oberfläche, dem Grundwasserspiegel. Er stieg aus dem Käfig und bog unmittelbar nach links in eine der kleineren Tunnelröhren ab, die ausschließlich Belüftungs- und Sicherheitszwecken dienten. Weil diese Röhren nach Fertigstellung der Arbeiten ohnehin zugeschüttet werden sollten, hatte man sich nicht die Mühe gemacht, den Boden von Lehm und Gesteinsbrocken zu befreien. Entsprechend lange dauerte es, um die ungefähr achtzig Meter zurückzulegen.
Am Ende bog er ein weiteres Mal nach links ab und erreichte einen Hohlraum, in dem sich dicke Schläuche befanden, die in ein Betonrohr von zwei Metern Durchmesser mündeten. Durch dieses Rohr leiteten fünfzig Pumpen das Grundwasser ab, das unablässig in den Untergrund sickerte. Abgesehen von einigen Verbindungstunneln zur Metro, entstand die gesamte Station im Bereich des Pariser Grundwassers.
Er kletterte über einige kleinere Schläuche hinweg und ging hinter dem Betonrohr in die Hocke. Er hob eine Sperrholzplatte an und vergewisserte sich, ob der trockene Hohlraum, den er vor einigen Wochen gegraben hatte, immer noch vorhanden war. Er schaute auf die Uhr und danach in sein Notizbuch. Die Zeitangaben stimmten auf die Minute. Danach ging er denselben Weg zurück, den er gekommen war. Mitten im Haupttunnel blieb er unterhalb der Rohrkonstruktion stehen, die sein eigener Arbeitsplatz war: Hunderte von Stahlrohren waren zu einem zehn Meter hohen Gerüst zusammengefügt, das die Decke abstützte, während man mittels einer Technik, die »lining« genannt wird, die Betonarbeiten durchführte. Hatte man sich drei Meter weiter in das Gestein vorgearbeitet, wurde die Fläche mit massivem Kunststoff verschalt, damit das Grundwasser nicht durchsickern konnte, wenn der Beton eingespritzt wurde. Über dem Stahlrohrgerüst befand sich eine zwanzig Meter breite, gewölbte Schalungsform aus Stahl, die hydraulisch gegen die Decke und den Kunststoff gepresst wurde. Dann wurde der Beton unter Hochdruck hineingespritzt und füllte den Hohlraum zwischen der Form und dem Gestein, während das austretende Grundwasser die Tunnelwände hinunterlief und abgepumpt wurde. Bevor das Unternehmen sich für die Lining-Technik entschied, hatte es verschiedene Injektionsmittel getestet, eines giftiger als das andere. Doch bei dem gleichmäßig strömenden Grundwasser hatte keines richtig aushärten können.
Rachid wusste das technische Know-how zu schätzen, das dem Bau der Station zu Grunde lag. Doch für sein Vorhaben spielte dies keine Rolle. Entscheidend war vielmehr, dass der Ort, an dem er jetzt stand, die Achillesferse des Projekts war. Genau hier, an der Nahtstelle zwischen dem freigelegten Gestein und dem noch nicht ausgehärteten Beton, konnte sich die Station von einem Meisterstück der Ingenieurkunst in ein Mahnmal für die Hybris der westlichen Welt verwandeln. An diesem Ort musste die größte Sprengladung platziert werden.
Die Vorbereitungen würden noch weitere Monate in Anspruch nehmen. Um die praktischen und technischen Fragen machte er sich keine Gedanken mehr. Die Ladung zu präparieren, erforderte genaue Planung und Fingerfertigkeit – und auf diesen Gebieten war er Experte. Das einzige unkalkulierbare Problem war der Faktor Mensch. Seine Lehrmeister hatten stets hervorgehoben, wie wichtig es war, auch mit dem Unerwarteten zu rechnen, wenn man es mit Menschen zu tun hatte. Obwohl Rachid die Arbeitspläne und Bewegungsströme genauestens analysiert hatte, reichte es aus, dass jemand zurückkehrte, um ein vergessenes Werkzeug zu holen, und der ausgetüftelte Plan war hinfällig. Er brauchte also jemanden, der Wache hielt. Zum Schacht elf und dem Pumpenraum kam selten jemand, das wusste er. Doch im Zentralbereich, besonders unter der Schalungsform, konnte man stets Leuten begegnen, selbst außerhalb der üblichen Arbeitszeiten. Hilfe von außen gab es nicht. Weil die Unternehmensleitung Terroranschläge befürchtete, wurden alle neuen Mitarbeiter einer gründlichen Personenkontrolle unterzogen.
Trotz mehrerer Versuche war er selbst der Einzige, den die Bewaffnete Islamische Gruppe, genannt GIA, hatte einschleusen können.
Natürlich hatte er keine Angst vor dem Sterben. Alles lag in Allahs Hand. Ob er heute oder morgen starb, war gleichgültig. Er hätte die Aktion auch ganz allein durchführen können, doch ihm war strikt untersagt, sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen. Es gab andere in der GIA, die keine besonderen Fähigkeiten besaßen und sich daher besser zum Märtyrer eigneten. Sich gemeinsam mit einem Dutzend Christen oder Juden in die Luft zu sprengen, war nicht der einzige Weg zu einem Platz an Allahs Seite. Genauso wertvoll war es, der wichtigste Bombenexperte der Bewaffneten Islamischen Gruppe zu sein. Für Allah zu sterben war keine Kunst. Die Kunst bestand darin, zu überleben.
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