„Ultima Thule“, sagte er, „ein poetisches Land, umhüllt von Geheimnissen und uralten Rätseln.“ Ungeheuer gleiten durch die nebelverschleierten Seen, Riesen hausen in den schneebedeckten Bergen, Elfen in den Hügeln, Wassergeister auf den Schären und Zwerge in der Lava. Unberührt von allem Fortschritt. „Und die Menschen dort“, sagte er zu mir, „werden neunhundert Jahre alt. Sie sterben und werden wieder neu geboren. Dieselben Menschen, wieder und wieder. Dieselben Geschichten, dieselben Schicksale.“
Er kämpfte mit Wegelagerern, die im Hinterhalt lauerten und ihn berauben wollten, aber er überwältigte sie, und sie schworen ihm hinterher einen Treueid und wollten ihm folgen, erzählte er mir, während wir an einem Juniabend im Eßzimmer zu zweit bei Tisch saßen und er gerade aus Afrika zurückgekommen war.
Die Geschichte eines Herbstabends, Abenteuer: er allein unterwegs am Strand bei Nacht. Irgendwo im Osten von Island. Es herrscht Stille, sagte mein Vater. Und die Stille ist unwirklich, so wie sie ist, wenn es hell ist und alles schläft. Er sieht in der Ferne, wie ein Mann langsam am Meer entlangreitet. Er hat den Hut tief ins Gesicht gezogen, daß er die Augen verdeckt. Er kommt näher. Als er auf Hörweite herankommt, ruft ihm mein Vater einen Gruß zu. Der Fremde antwortet nicht und kommt immer näher. Und im selben Augenblick, da mein Vater erkennt, daß sich unter dem Hut kein Gesicht befindet, ist der Mann verschwunden. Nicht aber das Pferd. Es kommt ganz auf meinen Vater zu, bleibt dicht vor ihm stehen und schnaubt ihn freundlich an.
„Und was hast du gemacht, Vater?“ fragte ich.
Er blickte in das erlöschende Kaminfeuer und strich mir über den Kopf.
„Es war kein Gesicht unter dem Hut, nur Schwärze“, murmelte er.
Er war erfüllt vom Geist dieses Landes, das von Geheimnissen und uralten Rätseln umhüllt ist. Als er nach Hause zurückkehrte, folgte ihm eine junge Frau. Sie trug ein blaues Gewand. Sie trug ein rotes Gewand. Und ihr goldenes Haar fiel dicht über ihre Schultern herab und reichte weit auf den Rücken hinunter. Sie trug ein weißes Gewand. Und er nahm sie zur Frau, und ich wurde geboren, als sie starb.
Dieselben Menschen, wieder und wieder: Ich bin neunhundert Jahre alt.
„… Er hielt es für nötig, mich in die
komplizierten Familienverhältnisse
auf dem Hof, wo er geboren wurde,
einzuweihen …“
Mit wunden Füßen Felsen erklimmen und umherirren, ausgehungert; vom furchtbaren Schweigen des Landes erdrückt, durchdrungen von der Kälte des ewigen Frostes … und feindselige Geister flüstern mir mit archaischen Worten Verwünschungen zu; allein schlage ich mein Lager in einer abgeschiedenen Höhle auf; draußen pfeifen die Winde, und ganz nahe heulen Wölfe; ganz nahe ertönt Hufschlag; ganz nahe verbergen sich Wegelagerer …
Excelsior!
Auf raschen Pferden in hellen Nächten durch ein herrliches Tal reiten. Den Nachkommen der Sagahelden Gunnar und Njál begegnen und den Menschen, welche die Lieder der Edda überliefert haben und in sich noch ihren Geist tragen, die Nachkommen von Sigurd dem Drachentöter und Gudrun. Jene Stelle betreten, wo Gunnar umkehrte. Das Althing besuchen, auf dem freie Bauern in Brüderlichkeit ihre Entscheidungen trafen und keiner über den anderen erhaben war. Den Geysir sehen und die Kraft der unbändigen Natur spüren, die niemandem gehorcht außer den Geboten Gottes oder des Teufels. Die Nachkommen von Odin selbst treffen!
Während uns die Kutsche durch das Gedränge und den Lärm der Stadt trug, saßen wir uns gegenüber, schweigsam, und schienen beide eine unruhige Nacht verbracht zu haben. Widersprüchliche Gefühle rangen in mir. Immer noch schien es, als würde ich auf etwas warten – ein Wort – eine Andeutung – einen Blick –, das diese Fahrt trotz jahrelanger Vorbereitung zunichte machte. Charlotte. Charlotte. Charlotte. Meine Stute, mein Wildpferd: Sie ist anders als die blassen und geistlosen Herrentöchter, denen man auf Gesellschaften begegnet. Sie lacht mich aus. Unsere erste Begegnung: Robert stellte mich ihr vor, und ich beugte mich zu ihrer Hand hinab und spürte ihren Zeigefinger rasch und ganz leicht über mein Kinn streichen … danach gab es für mich kein Zurück mehr. Dabei hätte ich mir eine Junggesellenzeit unter jungen Mädchen meines Standes verdient …
Wußte Robert, wohin es sie des Nachts trieb?
Während uns der Pferdewagen durch die Stadt nach King’s Cross trug, versuchte ich, alle unangenehmen Erinnerungen an ihn aus meinem Gedächtnis zu tilgen. Ich sah sie die ganze Zeit an. Schwarze Locken waren der Spange entschlüpft und fielen über ihre zarten Wangen. Weiße Handschuhe ruhten im Schoß und verbargen kleine Hände. Die grünen Augen ruhten auf den Gestalten draußen, sie war blaß. Trotz des Schweigens war eine Unruhe in ihr, die ich zu meinem Bedauern nicht zu besänftigen vermochte. Vor dem Fenster sah ich die Zweige den Himmel umarmen, Blumen, die die Erde umarmten, Vögel, die den Wind umarmten. Und Kinder. Sie waren herausgeputzt, und die Sonne umarmte sie alle. Alles liebt und umschwärmt sich.
Weiß ich, wohin es dich des Nachts treibt?
Alles Gepäck war bereits im Zug verstaut, und ich war in Hochstimmung, wie gut Cameron und ich alles bedacht hatten, sowohl was den Proviant als auch die Ausrüstung betraf. Wir sind auf alles vorbereitet. Jetzt können wir uns nur noch auf uns selbst verlassen, denn auf Island wird es keine Bediensteten geben, welche die Dinge für uns erledigen. Wir müssen unser Essen selbst zubereiten, unseren Tee kochen, unser Lager aufschlagen. Es wird ein Abenteuer.
Ich hatte Cameron rasch am Bahnhof erspäht, wie er stattlich und mit dunklem Haar eine Versammlung von alten Tanten überragte, die gekommen waren, ihm Lebewohl zu sagen. Er schien über die Maßen froh, mich zu sehen, und beeilte sich, die alten Damen zu verabschieden. Der Isländer Jón Hólm war dagegen nirgends zu entdecken. Wir kauften drei Fahrkarten und mußten uns mit der dritten Klasse begnügen, weil es keine anderen Plätze mehr gab. Ich sagte zu Cameron, es sei nur angebracht, die Reise auf diese Weise zu beginnen, da uns später wohl noch größere Unbequemlichkeiten erwarten dürften. Er meinte, es seien in der Tat verlockende Aussichten, dritter Klasse zu reisen. Ich hatte das Gefühl, er wolle mich verspotten. Nirgends auch nur eine Spur von Hólm. Cameron begann die Beherrschung zu verlieren und machte mir Vorwürfe, daß ich einem Einheimischen so sehr vertrauen konnte. Die Isländer seien ein gutgesittetes und altes Kulturvolk, sagte ich, und Hólm hätte ein außerordentlich gutes Zeugnis von Leuten erhalten, denen ich unbedingt vertraue. Cameron sagte, ich hätte den Mann dennoch vorher treffen und ihn mir ansehen sollen. Darauf wußte ich keine Antwort, und ich war heilfroh, als ich eine Minute vor Abfahrt einen Mann im offenen Wagen kommen sah, auf den die Beschreibung von Hólm paßte. Die Freude schlug allerdings rasch in Entsetzen um, als er mit dem Kutscher um den Fahrpreis zu feilschen begann, gerade so, als ob es keinen Grund zur Eile gäbe. Ich lief zu ihnen hin, und nachdem ich mich vergewissert hatte, daß es sich um jenen Jón Hólm handelte, der es übernommen hatte, unser Reisebegleiter zu sein, bezahlte ich dem Kutscher, was seiner Meinung nach noch auf den Fahrpreis fehlte – er sah mir unheimlich aus, hatte den Hut tief ins Gesicht gezogen, so daß nichts als ein häßlicher, zahnloser Mund zu sehen war, der sich zu einem schmierigen Grinsen verzog, als ich ihm das Geld hinhielt.
Dann verschwand er, als hätte ihn die Erde verschluckt.
Hólm schien das hingegen nicht im geringsten zu kümmern, und es hatte den Anschein, als hätte er sich aus reiner Langeweile auf diesen Streit eingelassen. Trotz allem machte der Mann im ganzen einen sympathischen Eindruck auf mich, und sein Handschlag war fest. Er scheint ein guter Vertreter seines Volkes zu sein. Er hat ein ungewöhnlich schönes Gesicht und wirkt auf seine Art weltmännisch und gleichzeitig jungenhaft, wie sein Schnauzbart, der üppig gewachsen ist, aber vielleicht doch besser in das reifere und ausdrucksvollere Gesicht eines etwas älteren Mannes passen würde. Er ist groß und kräftig, stämmig und muskulös, und sein ebenmäßiges Gesicht strahlt Aufrichtigkeit und Eifer aus, wie er mir so im Zug gegenübersitzt und ebensowenig Schlaf zu finden scheint wie ich.
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