Was konnte einem dagegen eine Non-Stop-Show bieten, die nur Sex, Sex, Sex aber keine Liebe versprach? Sex würde es auch nur in kleiner Dosis geben, die sofort als Überdosis wirken würde, als intensives Gefühl, das 100 Sekunden dauerte. Dann war Schluss. Man konnte nachwerfen, dann währte es noch einmal 100 Sekunden, war aber nicht mehr so intensiv und ohne Überraschungseffekt.
Der Betrachter war einer intimen Begegnung so nah, wie das bisher nicht möglich war und gleichzeitig weit von Berührungen und Küssen entfernt. Ihm wurde Zugang zu einem Teil gewährt, das Ganze jedoch verweigert. Der Betrachter befand sich in einer Kabine wie in einem Sciencefiction-Film, bei dem man in so eine Kabine tritt, um eine Zeitreise zu starten. Er hatte keinerlei Gemeinsamkeit mit den Nackten im Paralleluniversum. Die Räume waren streng getrennt, die Zeit verrann, der Countdown lief. Die beiden hatten den Weg, der zu einer vertrauten Nähe führt, nicht mehr persönlich und auch nicht gemeinsam zurückgelegt. Sie waren angekommen, ehe sie aufgebrochen waren. Aus so einer Begegnung würde keine Liebe folgen. Es war Sex pur. Es stimmte vorne und hinten nicht. Die Voraussetzungen waren falsch, und es gab keine Folgen. Die Intimität hatte kein Vorher und kein Nachher, sie war echt und unecht zugleich.
Es war eine neuartige Nacktheit. Sie kam unvermittelt. Raymond Chandler, der bekannt dafür ist, besonders kunstvoll ausformulierte Krimis zu schreiben, nutzt als Stilmittel gerne den Effekt der plötzlich hereinbrechenden Gewalt – » bring the man with the gun« –, um einen Schockeffekt zu erzielen. »Schockierend« war ein beliebtes Modewort der späten Sechziger, Orange galt als Schockfarbe. In Pornofilmen gehört der unvermittelte Schnitt – als täte sich jäh ein Abgrund auf – zur gängigen Dramaturgie, das Fehlen jeglicher Nuancen gehört zum Wesensmerkmal solcher Filme, zum Schockeffekt: eine Hausfrau bittet einen Handwerker in die Wohnung – Schnitt –, schon sie nur noch mit Strapsen bekleidet und beide sind mitten im Geschlechtsakt.
Mir kam das vor wie ein falscher Gebrauch von Starthilfekabeln. Solche Kabel wurden damals noch häufig gebraucht: Sie wurden mit Klammern an die Batterie des einen Autos angeschlossen, dann an die Batterie des anderen Autos, das so mit Energie versorgt wurde. Wenn man die Kabel nicht an dem zweiten Auto anbrachte, sondern gegeneinanderhielt, entstand ein Kurzschluss, der sich an einem Funkenflug entlud. Eine Energieübertragung fand nicht statt. Das zweite Auto kam nicht in Fahrt.
So wirkte die unvermittelte Nacktheit: Der Betrachter wurde ruckartig mit einer intimen Situation konfrontiert, als wäre es ein Kommunikationsangebot, doch es war nicht dazu gedacht, eine Verbindung – eine Energieübertragung – herzustellen. Es war kein echtes Entgegenkommen, es sah nur so aus. Es war ein falsches Signal wie bei einer Baustelle, wenn ein Verkehrslicht freie Fahrt signalisiert, die Strecke aber weiterhin gesperrt bleibt. Die Begegnung war folgenlos und banal, sie erinnerte nur noch vage daran, dass zu anderen Zeiten und unter anderen Umständen weit reichende Bedeutungen damit verbunden waren, die nun alle fehlten.
Zu Zeiten des Vormärz wurden in einigen Städten verbotene Bücher der jungdeutschen Bewegung unter der Bevölkerung verteilt. Das bekannteste und umstrittenste war Wally, die Zweiflerin von Karl Gutzkow, ein gotteslästerliches Buch, ein »unsittlicher Anschlag auf die Religion«, wie es von Kritikern genannt wurde. Die tragische Heldin Wally kann den Mann, den sie liebt, nicht heiraten, sie ist für eine Konvenienz Ehe vorgesehen. In ihrer Verzweiflung begeht sie Selbstmord. Der Skandal der Geschichte ist vergleichbar mit dem, den einst die Leiden des jungen Werther von Goethe losgetreten hatten – auch bei Gutzkow geht es um die Grundsatzfrage, ob ein Selbstmord gerechtfertigt sein kann und ob die Liebe immer der Leitstern für alle Handlungen sein muss.
Es gab eine für damalige Verhältnisse geradezu unvorstellbare Szene: Wally zeigt sich dem Mann, den sie liebt, aber nicht heiraten kann, vollständig nackt und verbindet sich dadurch mit ihm wie in einer biblischen Szene, indem sie durch ihre ungeschützte Blöße symbolisch eine intime Beziehung mit ihm eingeht, selbst wenn die lediglich in dieser einen flüchtigen Begegnung liegt, bei der ihr Geliebter sie so sehen kann wie sonst niemand.
Zwischen der verzweifelten Nacktheit von Wally und der von den Modellen auf einem Peep-Show-Karussell, die nur noch in ein Gewand aus Popmusik gehüllt sind, liegt mehr als ein Jahrhundert. Die neue Nacktheit hatte keine Bedeutung mehr – einen Preis, aber keinen Wert. Sie war aller Zusammenhänge entkleidet. Es fehlte nicht nur die Wäsche und die Unterwäsche, es fehlte die Möglichkeit einer Beziehung, einer Verbindung, einer Sinnstiftung. Sie hatte keine Aussage mehr, kein Versprechen, keine Tragik, sie hatte nicht einmal einen Kunstwert. Sie war Betrug. Eine Bettelei um Kleingeld: Haste mal ne Mark?
Eines der charakteristischen Modeworte der frühen siebziger Jahre, als es noch keine Bio-Läden – nur Reformhäuser – gab, war ein inflationär gebrauchtes Füllsel, mit dem das grün-alternative Lebensgefühl eingeläutet wurde: das lässige »echt«, das schnell zu seiner eigenen Parodie wurde. Zigarettenwerbung war noch selbstverständlich, da hieß es: »Für das Echte gibt es keinen Ersatz«. Es sollte echt sein. Unverfälscht. Ohne Zusatzstoffe. Die Beschwörung des Echten ging dem Gütesigel »Bio« voraus, das sich wenig später durchsetzen sollte.
Nackte Tatsachen gelten als wahr. Sandro Botticelli stellte sie um 1490 allegorisch dar: Wir sehen auf seinem Gemälde Die Verleumdung des Appelles eine nackte Frau, die mit einer Hand lässig ihre Scham bedeckt und die andere hochhält und mit ausgestrecktem Finger in den Himmel zeigt, als würde sie einen Schwur leisten. So wurde seinerzeit die »nackte Wahrheit« gesehen und auch verstanden. Sie war nicht nur unbekleidet, was bedeuten sollte, dass sie nichts zu verbergen hatte, sie verwies auch auf etwas Höheres, sie stand nicht für sich allein. Dagegen symbolisierte ein Modell in einer Peep-Show die »nackte Unwahrheit«. Wenn sich heute Femen, nackte Demonstranten von Extinction Rebellion, barbusige Radlerinnen, die für bessere Verkehrswege in die Pedale treten oder Teilnehmerinnen auf Schlampen-Paraden Sprüche auf die nackte Haut malen, dann vermittelt sie damit stets eine zusätzliche Botschaft. Auf der nackten Haut von solchen Frauen steht mit unsichtbarer Schrift geschrieben: Wer hier hinguckt, ist ein Sexist und hat sich mit seinem Blick bereits strafbar gemacht.
Wie echt sind Pornofilme? Wie wahr? Gerade bei den billigen Streifen, bei denen es keinerlei Drumherum gibt, kann man nicht sagen, dass die Darsteller einem etwas vorgaukeln. Die Darsteller geben nicht bloß vor, den Geschlechtsakt zu vollziehen – sie tun es wirklich. Trotzdem ist es nicht echt. Sie sind auch keine Darsteller im herkömmlichen Sinne, sie stellen etwas dar, indem sie es tatsächlich tun. Deshalb stellt sich auch die Frage nicht, ob sie gute, mittelmäßige oder schlechte Schauspieler sind. Sie sind gar keine. Im dekadenten Rom gab es Aufführungen, bei denen auf der Bühne jemand umgebracht wurde (die Rolle musste jedes Mal neu besetzt werden), so dass der bedauernswerte Sklave, der die Rolle zugewiesen kriegte, einen »nur gespielten«, aber zugleich »echten« Tod starb. Wie bei Pornofilmen: Sie »spielen« einerseits »nur«, sie »tun« es andererseits »wirklich«, sie begehen einen nur gespielten und gleichzeitig echten Verrat – an wem auch immer (Sie werden schon im stillen Kämmerlein ihres Gemüts wissen, an wem). Sie teilen intime Momente nicht mit Menschen, die ihnen lieb sind, sie tun es demonstrativ für ein anonymes Publikum, das ihnen gleichgültig ist oder das sie sogar verachten. Sie praktizieren ein Liebesspiel, das nicht zur Liebe führen soll, sondern für ein Publikum gedacht ist, das ausgeschlossen ist von richtiger Liebe und auch von einem Liebesspiel.
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