Nach Kriegsbeginn flüchtete das Ehepaar Reisberg mit seinen drei kleinen Kindern Arnold, Klara (*1906) und Ignaz (*1913) wie so viele Juden aus Galizien und der Bukowina aus Sorge vor Pogromen in das imperiale Wien, von wo aus mit Deutschland gemeinsam der Krieg angezündet worden war. Wien war übervölkert, es war eine Weltstadt mit über zwei Millionen Einwohnern. Zwei Drittel davon waren Immigranten der ersten und zweiten Generation, ihre Umgangssprachen waren Tschechisch, Polnisch, Ruthenisch, Slowenisch, Serbokroatisch, Rumänisch, Ungarisch und Italienisch, Jiddisch wurde nicht gezählt. 1910 wohnten in Wien rund 175.000 Juden. 7Das Verbindende dieser multinationalen Gesellschaft war die deutsche Sprache in ihrer Wiener Färbung. Der zehnjährige Judenbub A. R. war, weil es Kontinuität des psychischen Lebens eines Volkes gibt, bei seiner Ankunft schon „alt“. Franz Kafka (1883–1924) dachte als Jude die Zeitlichkeit des Individuums über die biologische Zeitlichkeit hinaus: „Wir Juden werden aber schon alt geboren“. 8Was wie ein Bonmot erscheint, ist ein tiefgehender, von Ignacio Ellacuría erläuterter philosophischer Gedanke zu Unterscheidungen vielfältiger Zeiten und zu den tiefer liegenden Phänomenen des Alters. 9Das Individuum wird von der Geschichte umhüllt. Viel später wird A. R. mit Blick auf seine Herkunft vielleicht berührt haben, dass Wladimir Iljitsch Lenin (1870–1924) in Galizien vom Sommer 1912 bis nach Kriegsbeginn 1914 zwei fruchtbare Jahre verbrachte, ehe er nach seiner Verhaftung wegen Verdachts der Spionage für Russland dank der Hilfe von Freunden und Interventionen wie jener von Victor Adler (1852–1918) über Wien in die Schweiz fahren konnte. Zu den wichtigsten in Krakau geschriebenen Publikationen von Lenin gehören Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus und Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen. 10Aus Krakau hat Lenin an seine Mutter geschrieben: „Die Juden hier ähneln den russischen, die russische Grenze ist 8 Werst entfernt (mit dem Zug sind es von Granica etwa zwei Stunden, von Warschau 9 Stunden), barfüßige Frauen in bunten Kleidern – ganz wie in Russland.“ 11
Die Reisbergs konnten in Wien zuerst in einer Flüchtlingsunterkunft in der Nordbahnstraße 20/27 unterkommen, dann wohnten sie in der Vorgartenstraße 130/1 (7. Oktober 1914–7. Dezember 1914), in der Schiffmühlenstraße 76/5 (7. Dezember 1914–17. Juli 1915) und am Sterneckplatz 21/16 (19. Juli 1915–11. März 1920) und ab 11. März 1920 in der nach dem Baumeister Bonifaz Wolmut (1505–1579) benannten Wolmutstraße 19–21/Tür 40. 12Der II. Wiener Bezirk war der Heimatsbezirk der Familie Reisberg, die 1918 mit Gisela auf vier Kinder angewachsen war. Von der Bevölkerung wurden diese ostjüdischen Flüchtlinge als fremde Bedrohung mehrheitlich abgelehnt. Die emanzipierten und assimilierten Wiener Juden sprachen, wie sich Eric Hobsbawm erinnert, von „Ostjuden“, als ob es sich um eine andere Spezies handeln würde. 13Die Spannungen waren, wie sich der aus einer jüdischen Familie in Wien kommende Karl Popper (1902–1994) im Rückblick erinnert, zum Greifen, zumal viele Juden „deutlich anders“ aussahen als die ansässige Mehrheit der Wiener Bevölkerung. 14Vom Schtetl in Galizien auf die Mazzesinsel von Wien – die Realität des Ghettos war dieselbe. Vielleicht waren es Verwandte, die den Reisbergs bei der Wohnungssuche behilflich waren, vielleicht die 1914 im II. Wiener Bezirk, Zirkusgasse 5, gegründete „Zentralstelle der Fürsorge für die Flüchtlinge aus Galizien und der Bukowina“, die, 1915 in „Zentralstelle der Fürsorge für Kriegsflüchtlinge“ umbenannt, von Rudolf Schwarz-Hiller (1876–1932) geleitet wurde. 15Die meisten der jüdischen Flüchtlinge wussten nicht, was sie essen sollten. Der wie A. R. aus dem galizischen Judentum nach Wien gekommene und mit ihm fast gleichaltrige Manès Sperber (1905–1984) erzählt davon. 16An einer Flüchtlingsschule in Wien war der Deutsch, Polnisch, Ukrainisch und Hebräisch sprechende Berl Reisberg Volksschullehrer. Nach 1918 musste er für seine jetzt sechsköpfige Familie mit vier Kindern als Schuhvertreter, seit 1930 als „Handelsangestellter“ in der Schuhbranche in der Millionenhauptstadt der kleinen Republik Deutsch-Österreich, die 1919 den Staatsnamen Republik Österreich annehmen musste, irgendwie über die Runden kommen. 1928 konnte Berl Reisberg, Schuhwarenhändler in Wien II, Molkereistraße 2, den Privatkonkurs gerade noch abwenden, indem seine Gläubiger einem Ausgleich mit 35 Prozent in zehn Monatsraten zustimmten. 17Irgendwie war er dann Vertreter im Schuhhandel.
Mit dem Einmarsch der deutschen Truppen in Österreich (12. / 13. März 1938) war die seit langem vorbereitete Annexion Österreichs durch Hitlerdeutschland Wirklichkeit geworden. Berl Reisberg, seit 15. Juli 1938 arbeitslos, musste für sich und seine Frau ums nackte Überleben kämpfen. Am 26. Juni 1938 hatte er sich für eine Auswanderung nach New York angemeldet, das bedeutete, für ein Visum anstehen und nochmals anstehen und Schikanen aushalten zu müssen. Der österreichische Schriftsteller Erich Hackl (*1954) hat diese Situation am Schicksal des ostgalizischen Juden und Wiener Kohlenhändlers Leopold Klagsbrunn (1888–1957) literarisch realistisch geschildert. 18Wovon lebte das Ehepaar Reisberg? Mit Unterstützung der Fürsorge-Zentrale der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Auswanderungsabteilung, die für ihn ein Katasterblatt angelegt hatte, gelang es Berl Reisberg nach langem und nervenzermürbendem Hin und Her mit seiner Ehefrau, die Bewilligung für die Ausreise nach Argentinien zu erhalten. Am 11. Jänner 1940 überschritt er mit seiner Ehefrau bei Arnoldstein die Grenze. Bis dahin waren sie in der Wolmutstraße 19–21/40 gemeldet. Was die Ummeldung von der Wolmutstraße 19/22 in Wolmutstraße 19–21/40 am 27. September 1939 bedeutet hatte, lässt sich nicht rekonstruieren. Die Reisbergs reisten am 2. Februar 1940 in Argentinien ein und konnten sich in Buenos Aires niederlassen. Vielleicht waren ostjüdische Verwandte der ersten oder zweiten Generation behilflich. Seine mit Walter Karolyi verheiratete Tochter Gisa (Gisela) konnte auch dorthin flüchten. Viele, viele Jahre später erhielten die alten, kranken und verarmten Reisbergs aus dem Fonds zur Hilfeleistung an politisch Verfolgte, die ihren Wohnsitz und ständigen Aufenthalt im Ausland haben (Hilfsfonds), auf ihren Antrag Ende des Jahres 1956 eine Zuwendung aus Österreich, die ihnen das nackte Überleben etwas erleichterte. Eine solche Zuwendung erhielt der mit viel Glück die Mordmaschine der deutschen Faschisten überlebende Sohn Ignaz Reisberg (*8. Jänner 1913, Kolomea). Ignaz Reisberg war Ende März 1938 in der Lassallestraße verhaftet und, nachdem ihm von der Polizei die Frontzähne ausgeschlagen worden waren, nach Dachau gebracht worden. Dort und später in Buchenwald war er bis zum 15. Februar 1939 inhaftiert. Nach Entlassung floh er über Italien nach Shanghai. Nach Ende des Kriegs glückte ihm die Emigration in die USA und Niederlassung in Los Angeles, von wo aus er im Oktober 1977 zu seinen alten Eltern in Argentinien ziehen konnte. 19
„Nicht zwingt der Schöpfer den Menschen, nicht beschließt er
über sie, dass sie Gutes oder Böses tun, sondern alles ist ihnen überlassen.“
Moses ben Maimon (12. Jh) 20
II.1 Kinder- und Schuljahre. Matura am Akademischen Gymnasium Wien I.
Curriculum vitae
Ich, Arnold Reisberg, bin am 17. Februar 1904 in Borislau, Polen als Sohn des Volksschullehrers Berl und seiner Gattin Rosa geboren. Die Volksschule habe ich in Horodenka und Kolomea in Polen besucht. Vom Jahre 1914 bis 1918 habe ich in Wien öffentlichen, sodann bis zum Jahre 1922 privaten Unterricht in den Mittelschulfächern genossen und im Oktober 1922 habe ich die Reifeprüfung am Akademischen Gymnasium in Wien I abgelegt. Im Oktober 1922 habe ich an der philosophischen Fakultät der Wiener Universität inskribiert und während meiner Studienzeit Vorlesungen aus Geschichte, Geographie und exakter Philosophie gehört.
Читать дальше