Dem „Jüdischen Revolutionär aus Galizien“ war im Verhältnis zu den vorab genannten Remigranten das härteste Leben beschieden. Man ist versucht, von ihm als von einem Märtyrer zu sprechen. Zum Märtyrer gemacht durch die eigenen Genossen! Als Zwanzigjähriger (mosaischen Glaubens) war er in die Kommunistische Partei Österreichs eingetreten, hatte später als ein in Wien Promovierter die Propagandaabteilung beim ZK der KPÖ geleitet. Zuvor mehrfach aus politischen Gründen inhaftiert, wurde er 1934 als polnischer Staatsangehöriger aus Österreich ausgewiesen. Er emigrierte in die Sowjetunion, wo er zunächst als Lektor an der Internationalen Leninschule arbeitete. 1937 wurde er wegen angeblich antisowjetischer Propaganda verhaftet, aus der KPÖ ausgeschlossen, zu fünf Jahren GULag verurteilt und 1949 für weitere fünf Jahre nach Ostsibirien verbannt. Rehabilitiert wurde er 1955, nach achtzehn Jahren Unterjochung. Da Österreich dem inzwischen zum sowjetischen Staatsbürger gewordenen galizischen Juden ein Visum verweigerte, übersiedelte er 1959 wunschgemäß in die ihn dann einladende DDR, wo er fortan lebte, forschte, sich 1964 habilitierte und in Permanenz publizierte. Streng wissenschaftliche, aber auch propagandistische Literatur. Mit einem Ehrendoktorat versehen sowie dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold, auch dem Banner der Arbeit, ausgezeichnet, starb er nach schwerer Krankheit am 20. Juli 1980.
Im Mittelpunkt des literarischen Werkes von Arnold Reisberg, zugleich im Zentrum seiner – wie Oberkofler es nennt – „Glaubenskraft“ stand Lenin, der russische Revolutionär, dessen deutsche und jüdische Wurzeln von Reisberg (anders als von vielen anderen) nicht verschwiegen werden. Über ihn und die internationale Arbeiterbewegung hat er wissenschaftliche Literatur zuhauf publiziert. Überdies hat er auf mehr als eintausend Seiten Lenins Leben und Wirken dokumentiert, wie von keinem anderen aus den Originalquellen erarbeitet, versteht sich.
Reisberg war sich bei seiner Würdigung Lenins im Klaren darüber, dass von fast allen, die sozialistisches Denken sozialdemokratisieren oder „transformationsideologisch“ in eine bürgerliche Weltanschauung integrieren wollen, Lenin nicht als getreuer Nachfolger von Marx charakterisiert, sondern nur noch als Wegbereiter späterer GULag-Verbrechen diffamiert wird. Reisberg aber war entgegengesetzter Auffassung. In seiner den Lenin des Jahres 1917 darstellenden Monographie rechtfertigt er ohne Wenn und Aber Lenins radikalsten Text Staat und Revolution, dieses, wie Oberkofler es zutreffend einschätzt, geniale Werk.
Reisbergs außergewöhnliche Wertschätzung Lenins stimmt mit der Meinung vieler intellektueller Größen dieser und jener Art überein: Stefan Zweig (Lenins Fahrt aus seinem Schweizer Asyl nach Petrograd im versiegelten Zug 1917 ist eine Sternstunde der Menschheit); Paul Loebe (Lenin ist einer der ersten Plätze in der Geschichte der menschlichen Gesellschaftsentwicklung gesichert); Arthur Hollitscher (Lenin war das erwachte Gewissen der Menschheit, in seiner Todesstunde stand das Herz der Menschheit für einen Augenblick still); Maximilian Harden (aus Lenins Gruft ruft sein Genius mit prometheisch unbrechbarem Trotz); Heinrich Mann (Lenins Größe wird mir immer begreiflicher, wenn ich sehe, was aus Deutschland wurde); Thomas Mann (Lenin war ohne Zweifel eine säkulare Erscheinung); Bernhard Shaw (Lenin war der größte Staatsmann in ganz Europa); Romain Rolland (durch alle Stürme steuerte er sein Schiff mit vollen Segeln der Neuen Welt entgegen); Karl Kautsky (Lenin war eine Kolossalfigur, wie ihrer nur wenige in der Weltgeschichte zu finden sind); Martin Andersen Nexö (Lenin personifizierte die größte Idee in der Entwicklung der Menschheit, getragen von den Geringsten in der Weltgeschichte).
Aber nicht mit der Hochschätzung Lenins durch die Vorgenannten, die er voller Genugtuung auch zitiert, oder durch andere Rühmenswerte (Einstein: ich verehre in Lenin … er hat seine ganze Kraft für die Realisierung sozialer Gerechtigkeit eingesetzt) begründete Reisberg seine eigene Auffassung. Selbst wenn er die inzwischen herrschend gewordenen, sich zwar nicht auf den Inhalt von Lenins Auffassungen, wohl aber auf deren internationalen Rang beziehenden Einschätzungen noch hätte erleben können, wonach Lenin einer der „politischen Großdenker aller Zeiten“, ein „Klassiker der Staatsphilosophie“ sei (vgl. Lenin, Der Marxismus über den Staat. Staat und Revolution, von Hedeler und Külow edierte Kritische Neuausgabe, Berlin 2019, S.1–23), hätte er diesen historischen Respekt nicht als Begründung für seine eigene Sichtweise genutzt. Reisbergs Überzeugungskraft, so Oberkofler, komme nicht aus angelesenen Marx-Texten oder den glorifizierenden Meinungen anderer, sondern aus seinem von ihm selbst erlebten, als wahr erkannten und von ihm durch eigenes Handeln in Gebrauch genommenen Marxismus.
Auch Pauschalurteile waren Reisbergs Sache nicht. Er hatte sich sein Leninbild aus den Urtexten hart erarbeitet. Hunderttausend Einzelheiten hat er über Lenin zusammengetragen und quellenmäßig belegt. Er stellte sich aus kommunistischer Überzeugung in den Dienst Lenins. Von sich selbst sagte er: „Ich habe kein höheres Ziel gekannt, als Lenins Gedanken zu propagieren, unter den Arbeitern und der studierenden Jugend zu verbreiten. Ich war immer stolz darauf, ein treues Mitglied der Kommunistischen Weltbewegung zu sein.“
Den geneigten Lesern von Oberkoflers Reisberg-Biographie sei abschließend wiederholt gesagt: Diejenigen – ob Frauen oder Männer, ob Juden oder Christen, Muslime oder Atheisten –, die durch das Lesen dieser Biographie Reisbergs Leben mitgelebt haben, werden danach andere sein, als sie es vorher waren.
Hermann Klenner
August 2020
„Es gibt keine Möglichkeit, der Geschichtlichkeit von Ort und Zeit zu entgehen, obwohl es wiederum auch nicht unausweichlich ist, in den Grenzen dieses Ortes und dieser Zeit eingesperrt zu verharren.“
Ignacio Ellacuría (1930–1989)
Lebensbeschreibungen von Menschen, die sich voll und ganz dem Kampf für die Befreiung der Menschen von Armut und Unterdrückung gewidmet haben, sind keine einfache Angelegenheit. Immer nimmt die Geschichte einen Anteil an der realen Biografie, der unpersönlich bleibt. Aber auch wenn Geschichtliches und Biografisches zusammenfließen, ist das Individuum in seiner kurzen Lebenszeit kein bloßes Instrument der Geschichte. Was bestimmt die Entwicklung von solchen Persönlichkeiten wie Arnold Reisberg, dass sie so und nicht anders denken und handeln? Das ganze Leben von Arnold Reisberg spiegelt eine unerhörte Glaubenskraft wider, er war in finsteren Zeiten Zeuge und Märtyrer seiner kommunistischen Überzeugung.
Der Autor dankt Helga Hörz, Herbert Hörz, Hermann Klenner und Thomas Kuczynski für die Aufmunterung, diese Biografie zu schreiben. Mario Kessler, Ilko-Sascha Kowalczuk, Günther Grabner, Wilfried Bader, Charlotte Rombach und Willi Weinert haben Materialien zur Verfügung gestellt und nützliche Hinweise gegeben. Während des Lockdowns und der altersbedingten Quarantäne in Wien haben mir aus dem Universitätsarchiv Wien Thomas Maisel, aus dem Stadtarchiv Wien Stefan Spevak, aus dem Archiv des Wiesenthal Institute for Holocaust Studies René Bienert und aus dem Bundesarchiv Berlin Brigitte Fischer in sehr entgegenkommender Weise Aktenkopien übermittelt. Victoria Eisenheld hat mein Typoskript mitgelesen, Ilona Mader hat mich im Verlag initiativ und kompetent betreut. Die freundschaftliche Verbundenheit mit Markus Hatzer hat mir auch diesmal ermöglicht, auf vorauseilende Selbstzensur zu verzichten.
Gerhard Oberkofler, Wien
I Die Familie Reisberg flüchtet 1914 nach Wien
Das Ehepaar Ruchel Laja (auch Lea) Reisberg geborene San (Sann) (geboren in Obzanica, 3. April 1882) und Berl Reisberg (geboren in Mikulince, 23. Juni 1880) wird wegen seiner ostjüdischen Religiosität und wegen seines Aussehens alle möglichen Vorurteile von Polen, Ukrainern, Russen oder Deutschen auf sich gezogen haben. Berl Reisberg war zuerst Volksschullehrer im heute ukrainischen Borislau (Borislav, Boryslaw), dem Geburtsort seines erstgeborenen Sohnes Arnold (*17. Februar 1904), das – inmitten einer bettelarmen Bauernregion gelegen – durch seine Naphthawerke in der Monarchie bekannt war, weniger durch das immense, durch Grubenunglücke verschärfte Arbeiterelend. 1Polnische Schriftsteller wie Józef Rogosz (1844–1896) oder der unter dem Pseudonym Sewer schreibende Ignacy Maciejowski (1835–1901) haben über die galizische Naphtha-Hölle geschrieben. 2Im Februar 1919 sollen von dort „ernste Arbeiterunruhen ausgegangen (sein), die besonders in Borislav bolschewistischen Charakter angenommen haben“. 31941 bis 1944 begingen Österreicher und Deutsche an Einwohnern von Borislav mörderische Verbrechen. 4Wiener Polizisten waren in und um Borislav so wie in ganz Polen als „Liquidatoren“ der jüdischen Bevölkerung eingesetzt, was 1946 in der Österreichischen Presse durch ein paar Verhaftungen bekannt wurde. 5Berl Reisberg unterrichtete an in Galizien institutionalisierten „Baron Hirsch Volksschulen“, zuletzt in Horodenka und Kolomea (Kolomyja). Der sagenhaft reiche jüdische Bankier Moritz (Maurice de) Hirsch (1831–1896) ermöglichte in Galizien wie in Palästina den Bau jüdischer Volksschulen. Er bemühte sich auf Wunsch seiner Ehefrau Clara Hirsch geb. Bischoffsheim (1833–1899) mit der 1891 gegründeten Jewish Colonization Association um die massenhafte Ansiedlung osteuropäischer Juden in Lateinamerika, insbesondere in Argentinien und Brasilien, um ihnen dort ein freieres Arbeiter- und Bauernleben zu ermöglichen. 6Vielleicht war Hirsch von Legenden über die Zufriedenheit der Einwohner im „Missionsland“ des Jesuitenordens im Süden Paraguays inspiriert. Das im Gefolge der Affäre um Alfred Dreyfus (1859–1935) von dem ungarischen Juden Theodor Herzl (1860–1904) geschriebene Buch über den Judenstaat wurde 1896 veröffentlicht, der Erste Zionistische Weltkongress fand im Sommer 1897 in Basel statt. Auch Herzl wollte den Ostjuden eine Heimat geben. Für den unbeirrbaren Kriegsgegner Karl Kraus (1874–1936) war Herzl nicht mehr als ein nicht ernst zu nehmender Utopist und hochstapelnder Journalist. Ein gemeinsames Territorium von Juden schien vielen Juden in Anbetracht des immer wieder abrufbaren Antisemitismus mit seinen Pogromen eine bessere Lösung als Assimilation zu sein. In Horodenka und Kolomea ging Arnold Reisberg (A. R.) in die Volksschule. Es waren typisch kleinbürgerlich galizische, schmutzige Städte mit einem hohen jüdischen Bevölkerungsanteil. Aus bettelarmen jüdischen Familien der galizischen Städte und Dörfer wurden nicht zu verheiratende Mädchen oft jüdischen Händlern gegeben, die sie als Prostituierte bis in die Bordelle nach Argentinien verkauften. Nach der Volkszählung 1910 hatte Horodenka 92.033 Einwohner, Kolomea 124.850 Einwohner. Philosemitisch wird oft vom Shtetl (d. i. Städtchen) in Galizien gesprochen, verklärend, weil sich diese Städte und Dörfer mit ihrer eigenen Sprache vom polnischen, analphabetischen Umfeld durch Synagoge und Markt als eigener Kosmos abhoben.
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