1925 erschien Heinrich Ritter von Srbiks (1878–1951) Darstellung über den Staatsmann und Menschen Metternich 72und enfachte unter Historikern eine lebhafte Diskussion. Metternich galt in allgemeiner Wahrnehmung bis dahin als Feind aller liberalen und nationalen Bewegungen in Europa, als Repräsentant des feudalabsolutistisch gesetzmäßigen Zustandes. Srbik ließ die spezifisch „österreichische Note“ Metternichs, der sich um den Bestand Österreichs als eines stabilisierenden Faktors in Europa gesorgt habe, deutlich werden. Der Srbik des Metternich-Buches erinnert da und dort an ironische Passagen in Robert Musils (1880–1942) „Der Mann ohne Eigenschaften“ über den eher zu Depressionen als zu hysterisch nationalistischen Ausfällen neigenden österreichischen Patriotismus, weniger an den von Karl Kraus geschilderten aggressiv-tödlichen Habsburgerchauvinismus. Dopsch mag bei der Lektüre des Srbik-Buches aufgefallen sein, dass die ökonomischen Zusammenhänge des Vormärz in ihrem Bezug auf das Verhältnis der Habsburgermonarchie zu Deutschland separat herausgearbeitet werden müssten. Vielleicht wurde Dopsch durch A. R. an den aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie stammenden und vielfältig deutschnational tätigen Historiker Heinrich Friedjung (1851–1920) erinnert, der ein Bündnis zwischen Österreich und Deutschland favorisierte. Es gab eine eigene, von Přibram und Hartmann gegründete „Friedjung Gesellschaft“, die mit ihren zeitgeschichtlichen Vortragsambitionen keine Wirkung erzielte. Eine Zeit lang war der aus einer ungarisch jüdischen Familie stammende Friedrich Engel-Jánosi (1893–1978) ihr Vorsitzender. 73Wie überheblich das jüdische Bildungsbürgertum sein konnte, zeigt die Bemerkung von Engel-Jánosi über Bürgermeister Karl Seitz (1869–1950), man merke diesem „ehemaligen Volksschullehrer seine geringe Schulbildung in keiner Weise an“. 74Dopsch ließ seinen Schüler A. R. nachforschen, weshalb es im Vormärz nicht zu einem gemeinsamen Zollverein und gemeinsamen Postwesen von Österreich und Deutschland gekommen war. A. R. arbeitete gründlich, er lernte mit archivalischen Quellen umzugehen. Unter erstmaliger Heranziehung von Materialien im Haus-, Hof- und Staatsarchiv sowie des Finanzarchivs legte A.R. 1927 als Dreiundzwanzigjähriger seine maschinenschriftliche Dissertation Der wirtschaftliche Anschluss Österreichs an Deutschland in den Jahren 1840 bis 1848 (189 Seiten) vor. 75In den Wiener Archiven herrschte eine benutzerfreundliche Atmosphäre, worauf der Chefarchivar Ludwig Bittner (1877–1945), der sich früh den Nazis anschloss, Wert legte. Das Typoskript von A. R. umfasst 189 Seiten (Folioformat) und gliedert sich in zwei Hauptteile: Österreich und der deutsche Zollverein (Österreich und der Zollverein bis 1840 – Der Plan eines deutschen Schifffahrtsbundes – Die Krise des Zollvereines und die Zollreform in Österreich – Krakau und der Handelsvertrag mit Preußen), sowie Österreich und die Gründung des deutschen Postvereines (Die Agitation für die deutsche Postreform – Die österreichische Briefportoreform – Die Vorbereitung des Postvereines – Einzelverhandlungen mit den deutschen Staaten – Eine Ruheperiode – Ein süddeutscher Postverein? – Die erste deutsche Postkonferenz).
Die deutschen Österreicher waren ein Teil des deutschen Volkes und mit diesem durch Geschichte, Sprache und Kultur verbunden. Auf diese Merkmale kommt A. R. nicht zu sprechen, weil die ökonomischen und politischen Faktoren für die kapitalistische Entwicklung entscheidend wirksam geworden sind. A. R. konzentriert sich auf politische Versäumnisse des österreichischen Regierungssystems, die den „großdeutschen“ kapitalistischen Nationalstaat verhinderten: „Die günstige Stimmung in Deutschland konnte nicht ausgenützt werden, die Krise des Zollvereines ging vorüber, ohne dass es Österreich gelungen wäre, irgendeinen Einfluss in Deutschland zu erreichen, oder auch nur einen handelspolitischen Vorteil zu erlangen. […] Nie mehr wieder ergab sich eine so günstige Gelegenheit, den Anschluss an Deutschland zu erreichen, wie sie diesmal so schmählich verpasst wurde. Srbik versucht die Schuld an dem Misslingen der Zollreform [Franz Anton von] Kolowrat [(1778–1861)] und [Franz von] Hartig [(1758–1865)] zu zuschreiben, die, von den Industriellen beeinflusst, Widerstand geleistet hätten. Dies ist jedoch unrichtig. Kolowrat und Hartig haben wohl, den Fabrikanteneinflüssen nachgebend, die Bedeutung der Zollreform abzuschwächen geholfen, dass aber nicht einmal diese verschlechterte Reform ins Leben getreten ist, dass sie die endgültige Ablehnung zugelassen haben, daran trifft sie nicht mehr Schuld, als die übrigen Mitglieder der Staatskonferenz, als Metternich und [Karl Friedrich von] Kübeck [(1780–1855)]. Die hauptsächlichste Schuld trug das österreichische Regierungssystem […].“
Das Metternichsche System, dessen realpolitischer Zusammenhang sich auf die Person des Kaisers reduziert, verhinderte der Argumentation von A. R. zufolge den wirtschaftlichen Anschluss Österreichs an Deutschland. Die Geschichte Europas hätte einen anderen Verlauf genommen, doch welcher Verlauf dies gewesen wäre, kann und will A. R. hier gar nicht andeuten: „Aber der wirtschaftliche Anschluss Österreichs an Deutschland im vorigen Jahrhundert und der Anschluss Österreichs von heute haben miteinander nur mehr den Namen gemeinsam. Schon politisch hat sich das Bild ganz geändert. Damals war der Anschluss Österreichs an Deutschland eine rein deutsche Frage, deren Lösung nur durch die beiden deutschen Partner erfolgen sollte. Heute steht dem Anschluss, sei er auch nur rein wirtschaftlich, außer den inneren Hindernissen hier und in Deutschland, noch das harte Machtgebot der Sieger von 1918 entgegen. Aber der wichtigste Unterschied ist der wirtschaftliche. Heute ist Österreich ein armer Staat, der in dem Anschluss an Deutschland seinen letzten Rettungsanker sucht; damals war es wirtschaftlich eine achtungsgebietende Macht, deren Anschluss beiden Teilen zumindest den gleichen Vorteil gebracht hätte. Der Zusammenschluss zweier so mächtiger Wirtschaftsgebiete wäre ein Ereignis geworden, das imstande gewesen wäre, die wirtschaftliche Gestaltung Europas zu verändern. Heute würde der Anschluss höchstens die Rettung der Wirtschaft Österreichs bringen. Zweimal stand im vorigen Jahrhundert die Frage vor Österreich. Das erste Mal in der Metternichschen Periode zur Zeit der Gründung und Konsolidierung des Zollvereines, das zweite Mal nach der Revolution als ein Teil des Bruck-Schwarzenbergschen Planes 76des ‚70 Millionen Reiches‘. Beide Male scheiterte der Anschluss. War es in der zweiten Periode vor allem der durch den politischen Gegensatz Österreichs und Preußens hervorgerufene Widerstand des letzteren Staates gewesen, der den Anschluss verhindert hat, so hielt in der ersten Periode vor allem das Unverständnis der österreichischen Staatslenker Österreich von dem Anschluss ab. Als man in der Metternichschen Periode erkannte, wie notwendig der Anschluss gewesen wäre, machte das eingerostete Regierungssystem eine Umkehr und den Anschluss an den Zollverein unmöglich. Aber die Lehren aus den Niederlagen, die der Zollverein bereitet hat, suchte man auf dem Gebiet des Postwesens zu verwerten. Doch auch diese Reform verzögerte die ‚Staatskunst‘ Metternichs, so dass sie erst nach der Revolution vollendet wurde.“
Zu Beginn des zweiten Teiles seiner Dissertation resümiert A. R.: „War das Verhalten Österreichs gegenüber der deutschen Handelseinigung keineswegs einem Range als deutsche Großmacht entsprechend, verhinderten hier diplomatische Unfähigkeit, durch die Augenblicksinteressen beschränkter Horizont seiner Regierungsmänner sowie Nachgeben gegenüber dem Geschrei profitsüchtiger Kapitalisten einen Anschluss an den deutschen Zollverein, so spielte es doch auf einem anderen wichtigen Gebiete der materiellen Interessen Deutschlands eine rühmlichere Rolle. Österreich ist der Vorkämpfer und der Initiator der Einigung Deutschlands auf dem Felde der Postverhältnisse gewesen“.
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