Die Niederlage der bürgerlich demokratischen Revolution 1848/49 und die Festigung der preußischen Hohenzollern-Monarchie wie der österreichischen Habsburgermonarchie separierten die deutsche Bevölkerung Österreichs von der sich rasant entwickelnden deutschen Nation. Mit seiner Einschätzung der historischen Langzeitfolgen des überholten politischen Systems und mit seiner Betonung der gestaltenden ökonomischen Geschichtskräfte geriet A. R. in Widerspruch zu Srbiks Interpretation der Metternichschen Ära. Srbik kommentiert in dem in der Nationalbibliothek überlieferten Typoskript von A. R. eigenhändig: „Wenn Sie schon polemisieren, dann bitte ehrlich! Srbik“. Es spricht für Srbik, dass er A. R. keine Steine in den Weg legte, was mit dem universitätsinternen antisemitischen Netzwerk „Bärenhöhle“ möglich gewesen wäre. 77Nach Approbation seiner Dissertation bereitete sich A. R. auf die Ablegung der strengen Prüfungen vor und promovierte am 23. Mai 1928 zum Dr. phil. Die Drucklegung seiner Doktorarbeit unterblieb, doch findet sie sich im 1954 (!) erschienenen dritten Srbikschen Metternich-Band annotiert. 78
Gutachten von Alphons Dopsch und Heinrich Srbik über die Doktorarbeit von Arnold Reisberg (1927)
Die vorgelegte Arbeit hat außer der gedruckten Literatur, über welche das Verzeichnis am Schlusse (S. 177 ff u. bes. 188 f) Aufschluß gibt, archivalische Quellen der Wiener Staatsarchive verwertet. Sie gibt eine übersichtliche Darstellung der Bestrebungen Österreichs, den wirtschaftlichen Anschluß an Deutschland, will damals sagen den deutschen Zollverein, zu gewinnen. Das Scheitern dieser Versuche, für welche mit der Krise des Zollvereines Anfangs der 40er Jahre, zunächst günstige Vorbedingungen auftraten, wird wohl zu einseitig beurteilt (vgl. S. 53) u. dabei zu wenig auf die politischen u. verfassungsrechtlichen Auswirkungen Rücksicht genommen. Die zweite Phase stellen die Wirtschafts-Verhandlungen mit Preußen nach der Einverleibung Krakaus in die Habsburgische Monarchie (S. 55 ff) dar.
Als Kernpunkt der Arbeit kann die Geschichte der Gründung des deutschen Postvereines bezeichnet werden (S. 72 ff), welche durch Österreich angeregt worden ist u. bisher keine entsprechende Behandlung gefunden hat, obwohl derselbe als Vorläufer des Weltpostvereines zu betrachten ist.
Der Verf. hätte vielleicht an verschiedenen Stellen etwas mehr Zurückhaltung in der Äußerung subjektiver Urteile beobachten sollen, da dies die persönliche politische Einstellung zu deutlich erkennen läßt. Im ganzen bekundet er aber eine zureichende Vertrautheit mit den Grundsätzen historischer Methodik u. hat es auch verstanden, das vielfach spröde Quellenmaterial zu einer lesbaren Darstellung zu verarbeiten.
Ich glaube daher, daß diese Dissertation genügt, um den Verf. zu den strengen Prüfungen zuzulassen.
Wien 10. Oktob. 1927 A. Dopsch m.p.
Ich schließe mich obigem Gutachten an und lehne gleichfalls die – zum Teil mit den Quellen geradezu unvereinbaren – Werturteile der im übrigen fleißigen und recht brauchbaren Arbeit ab, soweit der erste Hauptteil (Zollvereinsfrage) in Betracht kommt.
Wien 13. Oktober 1927 Srbik m.p.
III Vortragender, Agitator und Organisator in verhängnisvollen Jahren
„Ein Geistesarbeiter, der drüben marschiert,
der ist in Wirklichkeit deklassiert,
nutzt euer Wissen und eure Kraft
im Dienst der kämpfenden Arbeiterschaft!
Erst in der neuen Welt, nicht in der alten,
kann des Geistes Arbeit sich voll entfalten!“
Erich Weinert (1890–1953) 79
Die Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft von A. R. lebt davon, dass er den Marxismus-Leninismus nicht angelernt, sondern mit ihm gehandelt hat. Er war Revolutionär, was bedeutet, dass er ausgesetzt und engagiert war, dass er richtend und gerichtet war. Seinem großartigen Werk über Lenin hat A. R. eine seine Bescheidenheit kennzeichnende Rückerinnerung vorangestellt: „Doch sei mir gestattet, hier einen bescheidenen Dank an den Menschen abzustatten, dessen Ideen mein ganz bewusstes Leben bestimmt haben, seit ich als siebzehnjähriger Gymnasiast – mehr zufällig im Protokoll des Gründungskongresses der Kommunistischen Internationale zum ersten Mal kennengelernt habe. 1923 Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes Österreichs, 1924 Mitglied der Kommunistischen Partei Österreichs geworden, habe ich seither kein höheres Ziel gekannt, als Lenins Gedanken, den Marxismus-Leninismus, zu propagieren, unter den Arbeitern und der studierenden Jugend zu verbreiten. Ich war immer stolz darauf, ein treues Mitglied der Kommunistischen Partei, der kommunistischen Weltbewegung zu sein, und will auch mit diesem Buche einen Beitrag zur Verbreitung ihrer Ideen leisten“. 80Mit Lenin denkt A. R. die russische Revolution als großen geschichtlichen Bezugspunkt mit. Der einige Jahre weltweit gehuldigte Kultintellektuelle Karl Popper resümiert sein intellektuelles Erweckungserlebnis: „Mit siebzehn Jahren war ich Anti-Marxist“. 81Immerhin, Popper empfand Lenins Buch über den Empiriokritizismus als „ganz ausgezeichnet“. 82Popper richtete sein persönliches Leben in der „Zivilisation des Reichtums“ komfortabel und parasitär ein, ganz anders als jenes parallele Leben von A. R., für den die Begegnung mit dem Marxismus-Leninismus nicht zu einem intellektuellen Bildungserlebnis hinabsank, sondern dessen Erkenntnisse ihm Motivation gaben, seinem Leben den Sinn des Kampfes für die Befreiung der Arbeiterklasse und mit ihr der Armen von Unterdrückung, Sklaverei und Krieg zu geben. Für sein militantes Engagement nahm er aus seinem politischen Kampf herrührende Konflikte an und erbrachte viele, den historischen Zeitumständen geschuldete und nur mit seiner Überzeugung durchhaltbare persönliche Opfer.
Zu dem am 2. März 1919 in Moskau beginnenden Kongress hatte das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Russlands konspirativ Vertreter revolutionärer Parteien zur Beratung über die Frage der Gründung der Kommunistischen Internationale (III. Internationale) eingeladen. Etwa 50 Delegierte aus 30 Ländern Europas, Asiens und Amerikas kamen auf gefahrvollen Wegen durch die Fronten des Bürgerkrieges und der Interventen nach Moskau. 83Das Protokoll des I. Kongresses der Kommunistischen Internationale (Moskau, 2. – 19. März 1919) war noch druckfrisch, als es A. R. zufällig in die Hände bekam. 84Die am 3. November 1918 gegründete kommunistische Partei von Deutsch-Österreich war mit den Parteien von Russland, Deutschland, Ungarn, der Balkanföderation, der Schweiz und Skandinavien im ersten Exekutivkomitee vertreten. Von Anfang an war die Komintern bemüht, Funktionäre aus allen Ländern heranzuziehen. A. R. war es wichtig, das festzustellen, weil es ihm ein Beleg dafür ist, dass die Sowjetische Partei trotz der moralischen Autorität aufgrund ihrer siegreichen sozialistischen Revolution die Internationalität hochhielt. Das Schlusswort von Lenin auf diesem I. Kongress war voll Hoffnung: „Mag die Bourgeoisie der ganzen Welt noch so wüten, mag sie die Spartakusleute und Bolschewiki ausweisen, einkerkern, ja ermorden, dies alles hilft ihr nichts mehr. Dadurch werden die Massen nur aufgeklärt, von ihren alten bürgerlich-demokratischen Vorurteilen befreit und zum Kampf gestählt. Der Sieg der proletarischen Revolution in der ganzen Welt ist sicher. Die Gründung der Internationalen Räterepublik wird kommen“. 85A. R. war intellektuell offen und brachte das ihm zufällig in die Hände gefallene Protokoll der Gründung der III. Internationale mit den ihn umgebenden Bedingungen in einen Zusammenhang. Es beschäftigte ihn immer wieder, 40 Jahre später sollte A. R. in der Berliner Zeitung Neues Deutschland einen Leitartikel Zum 45. Jahrestag der Gründung der Kommunistischen Internationale. Ein Werk im Geiste W. I. Lenins schreiben und darlegen, dass mit der III. Internationale der Grundstein für die Wiederherstellung der jahrelang vom revisionistischen Einfluss zersetzten und 1914 auseinander gebrochenen Internationalen Arbeiterbewegung geschaffen worden war. 86Die KI wurde im Kriegsjahr 1943 aufgelöst. Der Entscheidung lag die Realität zugrunde, dass seit der Gründung der KI die kommunistischen Parteien in asiatischen und lateinamerikanischen Ländern, in China ohnehin auf sich selbst gestellt inzwischen zu wichtigen nationalen Faktoren geworden waren. Und in den europäischen Ländern waren während des Weltkrieges die kommunistischen Parteien zu kraftvollen nationalen Faktoren des Widerstandes geworden. In seiner Studie über Die Hilfe der Kommunistischen Internationale bei der ideologischen Festigung der kommunistischen Parteien in der Zeit der revolutionären Nachkriegskrise 1919–1923 beschreibt A. R. die Umstände, weshalb es in den kapitalistischen Ländern noch nicht gelungen war, eine entscheidende Veränderung der Kräfteverhältnisse zugunsten der revolutionären Arbeiter durchzusetzen: „Die Fehler der Kommunistischen Internationale waren Irrtümer von Menschen, begangen im Feuer des Klassenkampfes, begangen im erbittertsten, aufopferungsvollen Kampf um die Befreiung der Arbeiterklasse vom Joch des Imperialismus. Sie waren Fehler im Rahmen einer richtigen revolutionären Politik. Die ‚Fehler‘ der rechten Sozialdemokratie dagegen waren das Ergebnis ihrer falschen, arbeiterfeindlichen, auf die Zusammenarbeit mit der Bourgeoisie zur Erhaltung des kapitalistischen Systems gerichteten und daher notwendigerweise antikommunistischen Gesamtpolitik“. 87A. R. war offen und frei im Denken, er hatte Phantasie. 88Gute Bücher können einen schon in Gang gekommenen Prozess strukturieren, wenn sie einen solchen nicht überhaupt auslösen. Davon schreibt der Widerstandskämpfer und Jurist der Arbeiterklasse Eduard Rabofsky (1911–1994) 89, dem als Autoschlosser das 1927 im Wiener Verlag der Jugendinternationale erschienene Buch Das politische Grundwissen des jungen Kommunisten von linken Intellektuellen gegeben wurde, welches für ihn Anstoß war, Kommunist zu werden. 90Das Buch ist sehr bemüht, Wesentliches lesbar darzustellen, und erklärt erläuterungsbedürftige Worte, wobei manche dieser Erklärungen hinter marxistisches Wissen zurückfallen, zum Beispiel wenn zum Wort „Nation“ die Erklärung gegeben wird: „= die Gesamtheit derjenigen Menschen, die die Sprache gemeinsam haben; Volk“. Die Diskussion, ob und in wieweit die Österreicher zur deutschen Nation gehören, war noch weit weg, obschon gerade in Wien Josef Stalin (1878–1953) seine Studien über Marxismus und Nationale Frage geschrieben und argumentiert hatte, dass die Sprache einzeln genommen zur Begriffsbestimmung der Nation nicht ausreicht. 91Stalin hatte seinen Text in klarer Sprache und verständlich geschrieben, was stets ein Grundzug von ihm war. Der Einleitung zum Grundwissen ist als Motto vorangestellt die treffende Aussage von Josef Dietzgen (1828–1888): „Das erste Erfordernis eines Arbeiters, der mitarbeiten will an der Selbsterlösung seiner Klasse, besteht darin, sich nichts wissen machen zu lassen, sondern selbst zu wissen … Die Kenntnis des Kapitals unseres gemeinsamen Gegners im sozialen Kampf ist ein allgemeines Klasseninteresse, dessen sich jeder anzunehmen hat“. Rabofsky wird, wie er dem Autor zu bestimmten Anlässen wie 1989/90 gesagt hat, daraus mitgenommen haben, dass ein Revolutionär alles vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus zu beurteilen hat und Kommunist nur werden und bleiben kann, wenn er sich möglichst viele Erkenntnisse aneignet, auf denen der wissenschaftliche Kommunismus aufbaut. Die begründete Meinung, man könne sich mit Lesen vergiften, hielt Eduard Rabofsky zeitlebens an, seine Literatur sorgsam auszuwählen und kritisch einzuschätzen. Das kommt gut in einer Buchwidmung an Walter Hollitscher zum Ausdruck: „Man schlage ihnen ihre Fressen mit schweren Eisenhämmern ein … François Villon [(1431–1463)], Bert Brecht [(1898–1956)] und auch anderen“. 92Der junge Lenin las in seiner zehn Monate dauernden Verbannung in Kokuschkino viele Bücher leidenschaftlich. Der großrussische Demokrat Nikolai Gawrilowitsch Tschernyschewski (1828–1889), der fast die Hälfte seines Lebens in Verbannung und im Kerker verbrachte und alles der revolutionär demokratischen Idee unterordnete, wurde in diesen Monaten der „liebste Autor“ von Lenin 93und übte auf seine weitere Entwicklung „eine entscheidende Wirkung“ aus. 94Mit seinem dialektischen Denken hat Tschenyschewski Einsichten über die Widerspiegelung objektiver Sachverhalte in wissenschaftlichen Theorien eröffnet, die für die Wissenschaftsentwicklung prinzipiell sind. 95So wies Lenin mit Tschernyschewski in seiner 1908 abgeschlossenen Arbeit über Materialismus und Empiriokritizismus 96den idealistischen Reduktionismus zurück und ging davon aus, dass alle Erscheinungen der Welt wechselseitig miteinander zusammenhängen. Jede Wechselwirkung ist in diesem Sinne Widerspiegelung einer Erscheinung durch andere Erscheinungen. Natürlich hatten schon Marx und Engels Tschernyschewski, der ein Vorläufer von ihnen gewesen war, als einen „großen russischen Gelehrten und Kritiker“ sehr geachtet, er hätte die bürgerliche Ökonomie nach John Stuart Mill (1896–1873) „meisterhaft beleuchtet“. 97Der Verlag der Sowjetischen Militärverwaltung in Berlin gab 1947 eine von Nikolai Beltschikow (1890–1979) eingeleitete deutsche Übersetzung des Buches Was tun? von Tschernyschewski in der illusionären Hoffnung auf einen neuen deutschen Menschen heraus. 98Georg Lukács (1885–1971) analysierte das Wesen der schöpferischen Persönlichkeit von Tschernyschewski. 99Lenins Leben mit Büchern war A. R. „die personifizierte Verbindung der russischen mit der gesamten europäischen Kultur“. 100
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