Er seufzte: „Die kleine Babette kann ja nichts dafür, aber Sie dürfen mir glauben, für uns bedeutet das Kind eine riesige Last. Man ist nicht mehr jung und elastisch genug für so ein Menschlein, und eigene Kinder haben meine Frau und ich nicht gehabt. Wir schwanken immer noch, ob wir die Kleine nicht ins Waisenhaus stecken sollen, denn ganz davon abgesehen, dass einem so eine Kleine mancherlei Last und Umstände macht, denkt man schon daran, was soll aus dem Kinde werden, falls einem etwas zustösst. Ich bin sechzig, meine Frau ist nicht jünger. Und dann hat man das Wurm ins Ausland geschleppt.“
Günter sah ihn fragend an.
Der Fremde lächelte ein wenig.
„Ach ja, Sie wissen ja weiter gar nichts von mir als das, was Sie eben hörten. Meine Frau und ich waren durch lange Jahre hindurch ein beliebtes und sehr gutbezahltes, gefeiertes Tanzduett, Ueber alle grossen Varietébühnen des Kontinents und vieler überseeischer Länder sprangen und hüpften wir, bis —“ Er lachte kurz auf. Es klang unfroh und fuhr fort: „Bis wir zu alt wurden für diese erstklassigen Etablissements. Die Varietés zweiten Ranges kamen an die Reihe und die dritten Ranges. Zum Schluss krebsten wir durch Singspielhallen niedrigster Ordnung, bis uns unser Selbstbewusstsein schliesslich ein energisches Halt zurief. Gerade in London kamen wir auf die Idee, unser Können für Unterrichtszwecke zu verwenden, und auf diese Weise bringen wir uns seitdem dort ganz gut durch. Wir unterrichten im Gesellschaftstanz, aber bilden ebenso für die Bühne aus. Einige Spargroschen liegen auch schon auf der hohen Kante, aber so ein Kind bedeutet eine erhebliche Störung. Wenn es wenigstens ein paar Jahre älter wäre! Meine Frau stösst sich nur an das Versprechen, das sie der Nichte gegeben, gut für das Kind zu sorgen, sonst hätte ich schon Umschau gehalten, wo es unterzubringen wäre. Auch ist’s ein allerliebstes Ding und tut einem leid. In kurzer Zeit werden wir abreisen und müssen es wohl schliesslich mitnehmen. Wir fühlen uns hier im allgemeinen doch nicht so wohl, wie wir hofften und allzu lange darf unsereins auch keine Ferien machen.“
Beim Plaudern war er gemächlich neben seinen Zufallsbekannten hergegangen, nun aber verhielt er den Schritt.
„Jetzt sage der Dame ein schönes ‚Grüss Gott‘ zum Abschied, Babette, nun müssen wir unseren Weg allein fortsetzen. Wir wohnen nämlich ganz abseits und wollen hier links einbiegen,“ wandte er sich an das Ehepaar. „Uebrigens mein Name ist Brown, früher, ehe wir uns naturalisieren liessen, wurde er zwar genau so ausgesprochen, doch ‚Braun‘ geschrieben. Ein häufig vorkommender Name ist’s, dort in England ebenso wie hier. Ich stamme aus der Ulmer Gegend, aber nun lebt niemand mehr dort.“
Karola neigte sich zu dem Kinde nieder.
„Gott segne deine Zukunft im fremden Lande, kleine liebe Babette!“
Als das volle rosige Gesichtchen dem ihren ganz nahe war, konnte sie nicht widerstehen, sie küsste die Kleine und ein paar heisse Tränen fielen auf die Wange des Kindes nieder.
Die Kleine zwitscherte verweisend: „Du darfst doch nit immer gleich heulen!“
Der alte Tänzer nahm schnell das Kind bei der Hand und zog es mit sich fort in den Seitenpfad.
„Komm, Babettchen, die Grosstante wartet auf uns.“
Er hatte bemerkt, wie fassungslos die schöne junge Frau war, weil sie wahrscheinlich wieder an ihr krankes Kind dachte, und er wollte ihr schnellstens den Anblick der Kleinen entziehen, damit sich die Aermste nicht weiter mit Vergleichen abquälte.
Karola aber schaute dem Mädelchen noch lange nach, das ein paarmal den Kopf wandte und Kusshändchen warf.
Sie sass dann wieder neben ihrem Manne im Auto und nach langem Schweigen, währenddessen beide ihren Gedanken nachhingen, sagte Karola voll Bitternis: „Weshalb ist nur alles so ungerecht verteilt auf der Welt? Die kleine Waise ist so übergesund, dass sie davon abgeben könnte, und unser Trautchen läuft wie ein Gespenstchen umher, wird täglich kraftloser, löst sich förmlich auf. Wir würden doch wer weiss was dafür geben, wenn unser Kind gesund wäre, und dieses andere Kind bedeutet für die Menschen, bei denen es leben soll, eigentlich nur eine Last. Wäre es da nicht gerechter, so ein Waisenkind, dem niemand besonders wohl will, wäre krank und stürbe, anstatt dass Trautchen vielleicht gehen muss, die so unendlich viel für uns bedeutet?“
Ihr Mann schüttelte abwehrend den Kopf.
„Solche Vergleiche passen nicht zu deinem guten Wesen und deiner anständigen Gesinnung.“
Karola verkrampfte die Hände ineinander.
„Du bist ein Mann und empfindest manches anders wie ich. Aber es hat ja auch keinen Zweck, sich gegen das Schicksal aufzulehnen. Die kleine Babette besitzt in Ueberfülle, was unserm Trautchen fehlt, besitzt alles, was unser Liebling entbehren muss. Ach, Günter, es war so eigen, so überwältigend, als ich vorhin plötzlich das Mädelchen vor mir sah mit Trautchens Augen und Haar, mit ihrem Mund und Näschen, mit ihren Bewegungen. Es war, als stände Trautchen leibhaftig vor mir, aber als völlig Gesunde. Ich beneide das alte Paar, das sich seines grossen Glückes gar nicht bewusst ist, und mein Herz tut doppelt weh, wenn ich mir nun Trautchen vorstelle.“
Nach einem Weilchen begann sie wieder:
„Wenn sich Trautchen, wie wir gehofft, hier erholt und so dicke rote Bäckchen bekommen hätte wie das Waisenkind, brauchte mir nicht vor der Heimreise bangen.“
Günter Overmans sann traurig darüber nach, dass die Begegnung mit der kleinen Babette seine ohnehin schon so erregte Frau völlig durcheinandergebracht hatte.
Die Autofahrt nach Schluchsee, von der er sich ein Ruhigerwerden Karolas versprochen, wäre besser unterblieben.
Zu Hause erzählte dann Karola dem Doktor sehr lebhaft und mit zitternder Stimme von der Begegnung, betonte immer wieder die auffallende Aehnlichkeit zwischen den Kindern, machte Just Frank schliesslich neugierig.
Ihn interessierte die so übergesunde kleine Doppelgängerin Trautchens ebenfalls ausserordentlich.
Heinrich Braun, oder wie er sich seit seiner Naturalisation nannte, Harry Brown, sass an einem wundervollen Sommerabend vor der Tür des kleinen, mit einem Staketenzaun umgebenen Häuschens, das die Nichte seiner Frau hinterlassen, und atmete tief die reine Bergluft ein, in die harziger Tannenduft verwoben war, die köstliche Schwarzwaldluft, die so stark und rein ist und so eigen, dass alle, die in dem herrlichen Bergland geboren sind, sie nie vergessen, selbst nicht am fernsten Ende der Welt.
Ueberallhin verfolgt das Kind des Schwarzwaldes das Heimweh nach dem frischen Gottesodem, der über die mit Tannen bedeckten Berge und über die anmutigen Täler streicht.
Und so war es auch Helene Braun, oder wie sie jetzt hiess, Nelly Brown, ergangen, die ein Dorfmädel des Schwarzwaldes gewesen, auf kurios gewundenen Zickzackwegen eine Varietétänzerin geworden und mit dem Manne, dem sie sich verbunden, kreuz und quer durch die bunte Welt gezogen war, die immer dort gelebt, wo es am lautesten und buntesten hergegangen.
Immer wieder hatte sie ihre Heimatssehnsucht unterdrücken müssen, immer wieder, bis sie nun als alternde Frau doch endlich einmal heimkehren durfte, wenn auch nur für kurze Zeit.
Aber sie war fremd geworden in der Heimat durch die langen Jahre, nur ein paar alte Leute erinnerten sich ihrer noch.
Sie trat mit dem Kind an der Hand aus dem Hause, setzte sich neben ihren Mann auf die Bank, während die kleine Babette in überquellender Lebensfreude die Aermchen hochreckte und einen Juchzer ausstiess.
Das Häuschen von Babettes Mutter war versteigert worden mit allem Mobiliar, aber das Kind ahnte nichts davon, wie bald es hier zum letzten Male durch das kleine Gärtchen rennen würde, ahnte nicht, dass seine Mutter niemals wiederkehren würde von dem Besuch im Himmel.
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