Eine dritte, in der Literatur nur selten genannte Erklärung ist ein Wandel in der religiösen Organisation. Wir haben bereits festgestellt, dass die Religion, also eine Art Anspruch auf Nähe zu den Göttern, möglicherweise die früheste Grundlage für Ungleichheit und daraus folgernd für Herrschaft gewesen ist. Das aber gilt nicht für die Welt, wie sie sich in den homerischen Epen darstellt. Vielmehr präsentiert uns die Ilias zwei Priester, Chryses (der Vater der Chryseis) und Kalchas. Beide dienen den Göttern, beten zu ihnen und erhalten gelegentlich Antwort auf ihre Gebete. Keiner von beiden ist freilich göttlicher Abkunft, und keiner von ihnen herrscht über irgendwen oder irgendetwas. Mit seinem Flehen, Agamemnon möge ihm seine Tochter zurückgeben, gibt insbesondere Chryses eine geradezu klägliche Figur ab. Die homerischen Heerführer dagegen, und das gilt auch für die, die angeblich von Göttern abstammen oder göttergleich sind, begründen ihren Herrschaftsanspruch keineswegs explizit mit dieser Tatsache. Genauso wenig verhalten sie sich als ihre eigenen Hohepriester. Ihre Autorität ist weltlich, nicht religiös.
Wann, warum und wie die homerischen Anführer ihre besonderen Bindungen an die Götter aufgaben und ihre weltliche Herrschaft nicht länger mit göttlichem Rückhalt rechtfertigten, ist völlig unbekannt. Eindeutig aber war es ein Schritt, und zwar ein sehr wesentlicher Schritt, hin zum klassischen Stadtstaat und der Art von Gleichheit, die dort manchmal vorherrschte. Die Amtsträger, die die Stadtstaaten regierten, verdankten ihre Stellung in der Regel nicht den Göttern. Und griechische Priester wiederum waren meist Amtsträger wie alle anderen. 12Die Liste der Erklärungsversuche für die Entstehung der Polis ist damit noch lange nicht vollständig, doch keiner ist so überzeugend, dass er jedem Widerspruch standhalten würde. So sollten wir denn die Polis, den selbstverwalteten Stadtstaat, als gegeben nehmen und daran die Natur und die Entwicklung unseres Themas Gleichheit nachzeichnen.
In der Praxis konzentrieren wir uns dabei auf zwei von mehreren hundert Stadtstaaten: Sparta und Athen. Sparta, weil dort in gewissem Sinn die Gleichheit weiter vorangetrieben wurde als irgendwo sonst – eine Leistung, für die es neben der viel gefeierten militärischen Stärke in ganz Griechenland berühmt war; und Athen, weil relativ umfassende Zeugnisse zugänglich sind und weil es in seinen eigenen und in den Augen anderer häufig als »Schule von Hellas« galt. Außerdem verstand man schon in der Antike die beiden Städte als radikal unterschiedliche, ja gegensätzliche politische Systeme und Lebensformen. Eine Untersuchung beider Städte ist das beste Mittel, sie auch beide zu verstehen.
Sowohl in Athen als auch in Sparta bestand der große Schritt in Richtung Polis vor allem im plötzlichen oder auch nur schrittweisen Abbau früherer, auf Abstammung beruhender Organisationsformen. An ihre Stelle trat eine einzige Regelung auf Grundlage von geografischer Lage und Bürgerschaft. In Sparta wurden diese Reformen angeblich von Lykurg durchgeführt. Ob er wirklich existiert hat und wenn ja, wann, ist völlig unklar. Obwohl aristokratischer Abstammung, war er kein Herrscher; Plutarch, der etwa 800 Jahre nach den Ereignissen wirkte, erklärt: »in ihm aber erkannten sie die echte Führernatur und die Fähigkeit, die Menschen zu leiten.« 13Über das Leben in Sparta vor Lykurg wissen wir ebenfalls sehr wenig. Herodot und Thukydides deuten beide an, um die Mitte des 7. Jahrhunderts habe es eine Zeit der Unruhe und des Bürgerzwists gegeben; Herodot zufolge war Sparta vor der Reform»die am schlechtesten regierte Stadt ganz Griechenlands«. 14
Was die Gründe dafür angeht, verfügen wir über das Zeugnis des Thukydides, eines gut informierten Realisten ersten Ranges. Er erklärt: »von je war ja in Sparta der Sinn fast aller Maßnahmen die Sicherheit vor den Heloten«, also jener halb versklavten Volksgruppe, die wahrscheinlich in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts vor Christus in der Folge der Kriege gegen eine andere peloponnesische Stadt, Messenia, entstanden war. Aristoteles schrieb im 4. Jahrhundert, die geknechteten, misshandelten Heloten in Sparta »lauern gewissermaßen ständig auf deren Unglücksfälle«. 15Um sie an dem Versuch einer Selbstbefreiung zu hindern, machten die Spartaner ihre Stadt zu einem einzigen Wehrlager. Sie müssen sich ganz zurecht gefühlt haben, als säßen sie auf einem Pulverfass.
Immer noch nach Plutarch, dessen Bericht bei Weitem am detailliertesten ist, bestand der kritischste Punkt zur Gleichstellung der homoioi (»die sich gleichen«) oder Spartiaten darin, allen privaten Landbesitz zu enteignen und dem Staat zu übergeben. »Denn da eine furchtbare Ungleichheit bestand, viele besitz- und erwerbslose Menschen dem Staat zur Last fielen und der Reichtum in ganz wenige Hände zusammengeflossen war, so ging er daran, Übermut, Neid, Verbrechen, Schwelgerei und die noch bedeutsameren und größeren Gebrechen eines Staates, Reichtum und Armut, auszutreiben. Er überredete die Bürger, den gesamten Grund und Boden zur Verfügung zu stellen und ganz neu aufzuteilen, um danach alle gleich unter gleichen Lebensbedingungen zu leben und einen Vorrang nur durch Tüchtigkeit zu erstreben, da kein Unterschied und keine Ungleichheit unter ihnen bestehen sollte außer derjenigen, welche der Tadel schlechter und das Lob guter Taten bewirkt.« 16Jedes Flurstück war groß genug, um einen Mann und seine Frau zu ernähren, aber mehr auch nicht.
Zu jedem Flurstück kam eine Anzahl von Heloten, die für ihren spartiatischen Herrn das Land bebauten. Damit konnten die Spartiaten ihr Leben vollständig dem militärischen Training widmen. Sie lernten das Vorrücken, den Rückzug und den besten Einsatz ihrer Waffen und wurden damit »die größten, bewährtesten Meister in allen Künsten des Krieges«. 17Da Lykurg sich nicht mit halben Sachen zufriedengab, ließ er auch beweglichen Besitz sammeln und umverteilen. Um die Rückkehr der Ungleichheit durch Handel und Vorratshaltung zu verhindern, wurden Gold und Silber verbannt. Fortan mussten die Spartaner eine eiserne Währung verwenden, die unhandlich und nur für die kleinsten Käufe verwendbar war. Außerhalb Spartas war sie wertlos und wurde dort auch bald mit Hohn und Spott bedacht. Mit der Abschaffung des Grundeigentums, so Plutarch, verschwand auch jede Art von Laster. Nicht nur Genusssucht, sondern auch Wegelagerei, Hurerei, Täuschung durch Wahrsager und andere Gesellschaftslaster waren im Nu Vergangenheit.
Lykurgs Gleichheitsstreben führte zudem direkt zu einer weiteren, »erlesenen« Reform: nämlich der Einrichtung von Tischgemeinschaften (syssitia) oder, um einen Begriff aus der modernen Anthropologie zu verwenden, von Männerhäusern. Hier nahmen die Spartiaten ihre Mahlzeiten ein und verbrachten die Nächte. Diese Gewohnheit mussten sie sogar nach ihrer Hochzeit noch eine Zeitlang beibehalten und ihre Frauen also heimlich besuchen. Voraussetzung für die Aufnahme in die Syssitien und allgemein für die Anerkennung als Vollbürger war die Absolvierung eines langjährigen Erziehungssystems, der so genannten agoge . Sie begann im Alter von sieben Jahren und dauerte bis etwa zwanzig. Dort ging es so rau und beschwerlich zu, dass Aristoteles befand, diese Zucht eigne sich eher für Tiere als für Menschen. Um die eigene Tischgemeinschaft zu unterstützen, musste jedes Mitglied seinen Nahrungsbeitrag leisten. Männer, die aus dem einen oder anderen Grund ihr Flurstück verloren hatten und nichts mehr beitragen konnten, fielen aus dem System heraus. Das wiederum hatte zur Folge, dass sie ihren Status als Spartiat verloren.
Lykurg erachtete die Gleichheit für so wichtig, dass er sie sogar auf den Tod anwendete. Er verbot nicht nur die Bestattung jeglicher Gegenstände bei ihrem Eigentümer, sondern auch die namentliche Kennzeichnung der Gräber. Einzige Ausnahmen von dieser Regel waren Männer, die in der Schlacht getötet worden waren, und Frauen, die den Tod im Wochenbett gefunden hatten. Seine sozio-ökonomischen Reformen ergänzte Lykurg auch durch politische. Sparta, so Plutarch, war lange von zwei basileis beherrscht worden. Doch »die Könige, so meinten [die Spartaner], hatten ja vor der Menge nur den Namen und die Ehre, sonst nichts voraus« und erlagen derselben menschlichen Schwäche. 18Daher neigte die Stadt bald zu den Exzessen der Tyrannei, bald zur Instabilität der Demokratie. Um dieses Problem zu beheben, richtete Lykurg einen Ältestenrat ein, dem achtundzwanzig Männer über sechzig Jahren auf Lebenszeit angehörten. Wenn einer von ihnen verstarb, bestimmte die Volksversammlung, also alle männlichen spartanischen Vollbürger, per Akklamation einen neuen. Sie sollte stabilisierend auf das Staatsschiff wirken, es in ruhiger Fahrt halten.
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