1 ...7 8 9 11 12 13 ...17 «Ach, Junge! Warum warst du denn nur die ganze Zeit weg? Frohes neues Jahr, übrigens!»
Er wurde steif unter mir. Ich sah in ein Gesicht, das sich vor Entsetzen verzerrte. «Nein!» jammerte er. «Herrgott! Wie spät ist es?»
«Nun beruhig dich doch. Mach nicht so ein Gesicht!»
Er riß sich von mir los und sprang aus dem Bett. «Es ist Viertel vor eins! Ich sollte doch in der Kirche das Eingangsgebet vorlesen!» Er zog sich in Windeseile an.
Ich sprang auch auf. «Jetzt hör doch auf, Magnus! Es ist sowieso schon zu spät, und außerdem können auch noch andere lesen. Beruhig dich doch! Wir stehen jetzt beide auf, und ich mach uns Tee. Und dann reden wir in Ruhe über alles. Wir haben uns doch so lange nicht ...»
Aber er war schon im Flur und sprang in seine Stiefel. «Ich muß los. Muß losrennen! Zu Hause sind sie sicher stinksauer auf mich. Ach, was soll ich denn bloß sagen?»
«Magnus, du darfst nicht! Du bleibst jetzt hier. Heute kommt hier keiner nach Hause, wir müssen doch reden. Du darfst jetzt nicht weglaufen!»
Er versuchte, sich den Mantel anzuziehen, aber da warf ich mich auf ihn und hielt ihn von hinten fest. «Du kommst hier nicht weg!»
«Laß mich los, Yngve! Laß mich los, dann sag ich dir auch, was los ist ...»
Seine Stimme war heiser und scharf. Ich drehte ihn herum, und er drückte mich auf einen Stuhl. Und dann kam’s: «Du bist schuld, daß ich meinen einzigen Neujahrsvorsatz gebrochen habe. Ich hatte Gott versprochen, dich nie mehr zu treffen. Weil es eine Sünde ist, Yngve! Was wir tun, ist eine Widerwärtigkeit vor Gott!»
«Nein, nein, nein! Hast du denn den Verstand verloren? Es ist keine Sünde! Weißt du nicht mehr, in der Mittsommernacht ...»
«Ja, genau, und weißt du was? Gott gab uns ein Zeichen! Aber wir haben es nicht verstanden! Konnten es nicht deuten. Wir sahen ein rotes Licht! Yngve, die Sonne war rot! Und das bedeutet stopp!»
«So was Bescheuertes hab ich noch nie gehört!»
«Na gut. Leb du nur weiter in Sünde und spotte Gott! Aber nicht mit mir. Nie mehr mit mir!»
«Magnus!»
«Laß, Yngve. Es nützt nichts. Es ist aus. Ich werde um Verzeihung bitten, bis Gott mich erhört ... und es beten ja noch viele andere für mich. Komm mit zu den Kreuzrittern, Yngve, dann kommst du auch drüber weg.»
«Magnus, sie haben dich kaputtgemacht! Sie lügen, sie lügen! Das stimmt doch alles nicht. Glaub das doch nicht!»
«Halt doch den Mund! Es steht in der Bibel, Christian hat’s mir gezeigt ...»
«Christian! Den bring ich um!»
«Das tust du nicht, Yngve. Ich werde für dich beten.» Und dann war er fort. Magnus nach der Gehirnwäsche.
Ich will gar nicht erst versuchen, diesen Winter zu beschreiben. Ich schaff es doch nicht. Ich hab mich damals nur nicht umgebracht, weil ich immer noch eine Hoffnung hatte. Die verzweifelte Hoffnung, daß Gott gut sei. Außerdem hatte ich Harald. Er war der einzige, dem ich mich anvertrauen konnte. Er half mir, so gut es ging. Harald hatte begriffen, daß es wichtiger war, mit mir zu reden, als für mich zu beten. Er hatte genug Zuneigung, mit ihm erlebte ich eine echte Bruderschaft.
Ich will nur ein paar Episoden aus dieser Zeit erzählen: In der Schule will ich allein sein. Es hat auch keinen Zweck, mich Magnus zu nähern. Er geht mir aus dem Weg. Eines Tages stehe ich in der Pause mit Frode in meiner Ecke, und Magnus kommt mit Vera Auswendig aus der Tür. Hand in Hand! Sie gehen Hand in Hand über den Schulhof. Ich bin schon wieder kurz vorm Kotzen. Frode sieht mich an. Er hat es sich natürlich längst gedacht. «Kannst du meine Tasche mit nach Hause nehmen? Ich muß ein bißchen laufen», frage ich schnell und gebe ihm mein Pausenbrot.
«Kümmer dich doch nicht um die, Yngve», sagt Frode.
Ich gehe. Renne. Mechanisch bewege ich mich über den vom Schnee geräumten Weg auf Magnus’ Haus zu. Ich sehe seine Mutter durch das Küchenfenster. Sie bekommt einen Schreck, als sie mich bemerkt, und macht eine abwehrende Handbewegung. Sie wirft mir einen traurigen und verständnisvollen Blick zu. Ich drücke auf den Klingelknopf.
Der mächtige Vater steht in der Tür: «Guten Tag, junger Mann.»
«Tach ...»
«Und womit kann ich dem Herrn behilflich sein?»
«Ich möchte gern Magnus sprechen.»
«Ich bedaure, aber Magnus hat im Moment so viel für die Schule zu tun, daß er dem Lernen all seine Zeit opfern muß. Wäre das nicht übrigens auch für andere eine gute Idee?»
«Ja, aber, ich muß mit ihm reden ...»
«Dann finde ich, ehrlich gesagt, daß du wieder zum Jugendclub gehen solltest, Yngve. Du wirst da von vielen vermißt, und da kannst du reden, mit wem du willst ...»
Ich stehe im Gebüsch bei der Pastorenwohnung. Im Gürtel unter dem Mantel habe ich ein Messer. Christian kommt nach Hause gejoggt. Ich stehe und stehe. Dann gehe ich zur Tür und fühle nach. Abgeschlossen. Ich schelle. Der Pastor öffnet einen Spalt – so weit, wie die Sicherheitskette es erlaubt. Christian mit dem Flammenschwert.
«Was willst du?»
«Mit dir reden.»
«Ich hab keine Zeit. Jetzt nicht, und auch sonst nie.»
«Weißt du, was du getan hast?»
«Das weiß ich sehr gut, und es hat keinen Zweck, hier herumzuschreien. Verschwinde und komm nicht wieder her!»
Knall. Klick.
Ich gehe. Ich renne. Ich kann keinen töten.
Es ist Nationalfeiertag. Alle gehen mit im Festzug. Ich mag nicht. Ich gehe allein spazieren. Früh am Abend kommt Frode und überredet mich, mit zum Jugendclub zu gehen. Ich war bei keinem anderen Fest mehr, mir ist alles egal.
Alle freuen sich sehr, mich zu sehen. Mir ist alles egal. Magnus kommt zu uns herüber, auch er freut sich. Mit seinen Augen stimmt irgendwas nicht. Da ist etwas Schreckliches. Er verspricht mir einen Spaziergang, damit wir uns aussprechen können.
Wir
gehen spazieren. Er redet. Ich spreche das Unaussprechliche aus: «Kriegst du das denn nicht in deine Birne? Du weißt ganz genau, daß wir füreinander gemacht sind! Wir sind homosexuell!»
Er schreit. Er schlägt. Er geht.
Ich bin wieder ganz unten. Ich weine. Ich renne.
Jetzt fliehe ich in den Wald! Jetzt komme ich zu unserem Stein! Jetzt sehe ich den Sonnenaufgang! Allein! Rotes Licht! Yngve, der Verkehrssünder.
Aber es passierte etwas Unerwartetes. Eines Tages Anfang Juni schellte Magnus an meiner Tür. Zuerst wollte ich ihn nicht hereinlassen, denn er war so verändert. Er versuchte ein fröhliches Lächeln, aber in seinen Augen sah ich etwas anderes. Etwas Schlimmes. Dann sprach er. Es tue ihm alles so leid. Er sei so müde und überarbeitet gewesen und habe es nicht so gemeint. Wir müßten weiter wie Freunde zusammenhalten und uns nicht mehr streiten. Meine Skepsis schmolz dahin, je länger er sprach. Es tat so gut, seine Stimme zu hören. Schließlich war ich so hingerissen, daß ich höchstens die Hälfte von dem verstand, was er sagte. Als er ging, umarmte er mich, eine kleine, aufmunternde Umarmung. Aber da hatte ich ihm schon versprochen, mit dem Jugendclub ins Sommerlager zu fahren. Als Unterhaltungschef.
Ich zitterte vor Hoffnung.
Strandholmen
Die Ferienstätte Strandholmen liegt wunderschön am inneren Oslofjord. Es ist ein ansehnliches Gelände mit mehreren hundert Metern Strand und fünf großen Gebäuden. Norwegens christlicher Jugendbund bekam es zu Anfang der sechziger Jahre von irgendeinem reichen Macker vermacht.
Als am 16. Juni die Lagerteilnehmer aus Oslos Satellitenstädten zu Schiff das Paradies erreichten, bot sich ihnen ein merkwürdiger Anblick. Am Strand, ein Stück vor der Landungsbrücke, war ein großer Sperrmüllhaufen aufgeschichtet, der offenbar ein Johannisfeuer werden sollte. Aber es war nicht irgendwelcher Müll. Es waren Möbel. Zerschlagene Schränke, Tische und Stühle aus Mahagoni und Birke. Polierte Möbelsplitter lagen verstreut umher. Lagerleiter Eirik hatte eine Woche früher Quartier genommen, «um ein wenig aufzuräumen». Er sagte das selbst in unbestimmbar konservativem Westnorwegisch. Das Haupthaus war voll gewesen von altem Plunder und schweren unmodernen Möbeln – die sich nicht anders wegschaffen ließen als mit einer Axt. Eirik war ein Gottesdiener der Tat. In wenigen Tagen war aus dem alten, ehrwürdigen Gebäude alles entfernt, was der Mann beim Kampf um die Rettung sündiger Jugendlicher für hinderlich hielt. Hinein kamen Stahlrohrstühle und Resopaltische.
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