Louise Kringelbach
Der Sorgenzerstäuber
aus dem Dänischen von Janina Hoth
Lindhardt & Ringhof
Zwei Schreie durchschnitten den frühen Spätsommermorgen an zwei Enden der Stadt. Der eine kam vom einem der oberen Balkone eines roten Wohnhauses und war eine langgezogene, leidvolle Aufwallung eines älteren Mannes mit leerem Blick in den Augen und grauem Haar in den Ohren. Da die Nachbarn an das Geräusch gewöhnt waren, reagierte niemand. Für viele war dieser tägliche Ruf Teil der morgendlichen Begrüßung geworden, auch wenn dies nicht immer so gewesen war.
In der Zeit, nachdem der ältere Mann in das Pflegeheim eingezogen war, hatten die Nachbarn eine Unterschriftensammlung gestartet, um etwas gegen die Brüllerei zu unternehmen. Doch weder eine zugesperrte Balkontür noch stärkere Medizin hatten das Problem beseitigen können.
Nach der Beendigung des Guten-Morgen-Grußes blitzte kurz Leben in seinen Augen auf und ein Lächeln zog sich über seine Lippen. Vorsichtig schlich er wieder in die Wohnung zu seinem Guppy und schloss die Balkontür sanft hinter sich zu. Den Schrei vom anderen Ende der Stadt bemerkten die Nachbarn sehr wohl. Unerwartet hallte er wider und machte seine tiefe Verzweiflung noch weit entfernt spürbar. Darüber hinaus erklang er aus einem gelben Haus in einer Villengegend, die als abgeschieden bekannt, doch an jenem Morgen voll mit Menschen und Sirenen war. Der Himmel wurde erleuchtet von der blauen Farbe der Polizeisirenen. Der verzweifelte Ruf war von einer Frau mit lila gefärbtem Haar gekommen, die ein Polizist nun diskret in ein Polizeiauto wegführte.
Die Gartenpforte, die äußerst groß war und schwer demoliert aussah, wurde von zwei Polizisten untersucht. Schief an ihr hingen zwei kleine Schlösser, je vierzig Zentimeter breit. Die Türangeln waren ausgehebelt und die grüne Farbe abgeblättert. Im Allgemeinen sah der Schauplatz aus, als hätte sich irgendein großes Etwas wiederholt gegen die Pforte gepresst. Die Polizisten gingen durch die Pforte hindurch weiter zur Eingangstür des Hauses. Auch dort war versucht worden, etwas Großes hindurchzudrücken.
Neugierig sah der eine Polizist, ein großer Mann mit einem erfahrenen Blick, auf die Tür und fragte seinen Kollegen: »Ob ein kleiner Gartentraktor dieses Chaos hinterlassen hat?«
Der zweite Mann, mit weniger Streifen auf den Schultern seiner Uniform, antwortete mit einem »Hmmm - möglich, aber hier sind keine Fahrspuren«, und beide blickten auf den platt getrampelten Rasen, auf dem keine Blumen wuchsen, sondern nur ein paar Bäume, krumm und schief. Das Haus selbst war voll mit Menschen. Zwei Sanitäter trugen gerade eine Bahre hinaus, auf der eine zugedeckte Person lag, während die Polizisten dabei waren, Proben zu nehmen und akribisch das gesamte Erdgeschoss fotografierten. Mitten im Wohnzimmer stand ein großes, zerfleddertes Doppelbett. Über die Zeit war eine Seite des Bettes niedergedrückt worden, auf der wahrscheinlich eine beachtlich schwerere Person gelegen hatte als auf der anderen Seite. Eine Rechtsmedizinerin machte sich Notizen. »Was glauben Sie, was passiert ist?« fragte der jüngere Polizist.
»Nun, das ist eine gute Frage. Auf den ersten Blick kann ich keine eindeutige Erklärung geben. Erst die Proben werden eine bessere Antwort liefern können. Was wir wissen ist, dass der Hausbesitzer, ein Mann in den Vierzigern, tot in seinem Bett aufgefunden wurde. Die Todesursache ist Erdrosseln, der Todeszeitpunkt circa 7:30 Uhr vorgestern. Scheinbar ist etwas Schweres über ihn herübergerollt. Noch habe ich keine Ahnung, was ihn erdrosselt hat, möglicherweise eine sehr schwere Person. Vielleicht ein Liebhaber? Haben Sie die ältere Frau gesehen, die vorhin weggeführt wurde?«
Beide Polizisten nickten. Sowohl die Frau als auch ihre Verwirrung waren nur schwer zu ignorieren gewesen. Wie ein angeschossenes Tier mit schweren Schmerzen hatte sie geschrien. Sie war es auch gewesen, die am Morgen die Polizei gerufen hatte.
»Die Mutter des Verstorbenen«, sagte die Rechtsmedizinerin weiter, »ihr zufolge hatte er keinen Partner und nur wenige Freunde. Andererseits weiß sie vielleicht nicht alles über sein Tun und Lassen. Da bleibt uns nur, Ruhe zu bewahren und abzuwarten, was die Proben zeigen werden.«
»Ich komme wegen...«, mit einer diskreten Kopfbewegung wies die ältere Dame auf einen ergrauten Wolf, der mit hungrigem Blick neben ihr auf dem Boden saß. Der Mann, der ihr gegenüber auf einem gepolsterten Lehnstuhl saß, war ruhig und entspannt und nickte nur freundlich und verständnisvoll. »Immer ist er so furchtbar hungrig - er zehrt an mir und ich weiß weder ein noch aus.« Die Frau saß auf der äußersten Kante ihres Stuhles. Ihre Stimme, die von Anfang an dünn war, wurde immer schwächer, während sie ihre Lage schilderte. Das letzte Wort war nur mehr ein Flüstern, kaum hörbar. Ruhig und aufmerksam betrachtete Dr. Thor Moslav, der Mann im Lehnstuhl, seine Patientin. Die Dame war ungefähr siebzig Jahre alt, 165 Zentimeter groß und wog nicht mehr als fünfzig Kilogramm. Auf dem Kopf trug sie einen braunen Filzhut, unter dem einige glatte und schneeweiße Haare hervorlugten. Ihr Gesicht und ihre Hände hatten dieselbe Farbe. Gekleidet war sie in ein beiges Kostüm, das maßgeschneidert aussah, jedoch für eine größere Person als sie. An ihrer Seite saß ein mittelgroßer Wolf mit blutunterlaufenen Augen. Wachsam und wütend blickte er Dr. Moslav an. Nach langer Stille übernahm Thor das Wort:
»Frau Violet Vedl, ich kann gut verstehen, dass das für Sie nicht einfach ist«, er pausierte kurz, »versuchen Sie mir von dem Moment zu erzählen, als der Wolf das erste Mal in Ihr Leben kam«. Bei dem Wort Wolf zuckte Frau Vedl kurz zusammen. Zum ersten Mal betrachtete sie den jüngeren Mann gründlich, der vor ihr saß. Sie schätzte, dass er dasselbe Alter wie ihr ältester Sohn haben müsste, also Mitte Vierzig. In ihrem Umgangskreis beschriebe man ihn als einen adretten Mann, mit seiner feinen Kleidung und der sorgfältigen Frisur. Aber augenfällig an ihm war seine Wachsamkeit. Die alte Dame hatte so etwas noch nie erlebt. Sein gesamtes Wesen war vollkommen auf sie gerichtet, als hielte er sie für den einnehmendsten Menschen auf der Welt. Gleichzeitig war er nicht anmaßend. Viele zeigten ihr Mitleid oder ignorierten sie, sobald sie das Tier an ihrer Seite bemerkten. Doch nicht Dr. Thor Moslav. Sein Interesse schien aufrichtig zu sein. Auf der anderen Seite musste es das auch sein, da er einer der berühmtesten, um nicht zu sagen bestbezahlten Sorgenzerstäuber in Dänemark war. Frau Vedl schloss die Augen, holte tief Luft und begann zu erzählen:
»Verstehen Sie, vor etwas weniger als einem halben Jahr verstarb mein Mann völlig unerwartet. Für mich war es zumindest so. Siebenundvierzig Jahre waren wir verheiratet gewesen und ich mit meiner schwachen Gesundheit hatte immer geglaubt, dass ich zuerst ins Grab gehen würde. Mein Begräbnis hatten wir schon viele Jahre geplant - mitsamt der Grabstätte, Psalmen, möglichen Sargträgern, französischen Lilien und mehr. Über die Bestattung meines Mannes hatten wir noch nicht einmal nachgedacht. Wo er doch so vieles hatte, das er noch erreichen wollte. Aber letztes Jahr wurde bei ihm Lungenkrebs diagnostiziert - dem Oberarzt Erik Vedl, der er nie geraucht hat. Ganz wahr ist das nicht. Eine Zigarre rauchte er zu Neujahr und zur Geburt unserer Kinder und Enkel, ansonsten nie. Die Proben der Ärzte zeigten, dass der Krebs sich in die inneren Organe ausgebreitet hatte und dass seine Tage gezählt waren. Wie viel Zeit ihm noch blieb, wollten oder konnten die Ärzte nicht sagen, aber das war im Grunde genommen eins. Als Oberarzt konnte mein Mann die Resultate selbst überprüfen.
Als wir nach den letzten Untersuchungen vom Krankenhaus nach Hause kamen, schoss mein Mann sich noch in derselben Nacht eine Kugel in den Kopf. Erik war ein bestrebter Anhänger des Heimatschutzes und besaß ein ganzes Waffenarsenal. Die meisten waren ausgesuchte, zum Teil antike Stücke mit schönen Ornamenten. Es wundert mich nicht, dass er ein doppelläufiges Gewehr wählte, wo Erik einer der wenigen war, die eine spezielle Zulassung für eine solche Waffe hatten. Alle Umstände miteinbezogen hat er sehr umsichtig gehandelt. Ich meine damit, dass er eine furchtbare Unordnung angerichtet hätte, wenn er eine normale Flinte genommen hätte. Tage hätten wir gebraucht, um alles zu entfernen und das wäre ein Alptraum gewesen.«
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