Frau Vedl stand auf, blickte direkt herunter auf das Tier und sagte mit fester Stimme: »Das werden wir.«
Thor folgte ihr und dem Tier hinaus zu seiner Sekretärin Anna Hansen in das Vorzimmer, um einen neuen Termin zu vereinbaren. Sein Blick fiel auf einen kurzen Bericht auf der Vorderseite der Zeitung: »Sorgentier in Mordfall verdächtigt«. Doch er hatte keine Zeit mehr, den Artikel zu lesen, da die Sekretärin ihm im selben Moment eine neue Krankenakte in die Hand drückte und ihm erklärte, dass ein Patient wartete und er im Übrigen hinter dem Zeitplan lag. Mit der Schlagzeile im Hinterkopf ging er weiter ins Wartezimmer und wandte sich an Jane Bruun.
Früher an diesem Tag hatte die Gerichtsmedizinerin endlich die letzten Proben von dem noch ungeordneten Haufen an Daten analysiert. Ihren Verdacht konnte sie bestätigen und hatte nun den lang erwartenden Durchbruch erreicht. Ein allerletztes Mal ging sie alles minutiös durch und räumte dann ihren Schreibtisch auf. Sie konnte sich ihrer Überzeugung nicht sicherer werden und rief die Polizei an, um sie an ihren Entdeckungen teilhaben zu lassen. Akkurat erklärte sie, was geschehen war und wie der Mann erdrosselt worden war.
Als der große Polizist, Kriminaloberkommissar Poul Andersen, den Hörer aufgelegt hatte, fiel er zurück in seinen Stuhl, faltete die Hände zusammen und wandte sich müde an seinen jungen Kollegen:
»Das wird eine schwierige Sache werden. Das ist immer so, wenn ein Sorgentier involviert ist. Die Aussage der Gerichtsmedizinerin lässt sich so zusammenfassen, dass ein Elefant am Tod des Mannes schuldig ist!«
Der jüngere Polizist, Kommissaranwärter Eskild Karlsen, stoppte mitten in seiner Bewegung und zog die Augenbrauen zusammen: »Hmm, aber alle vernommenen Personen haben ja erzählt, dass der Mann ein Sorgentier hatte - einen Elefanten?«
»Ja«, antwortete Andersen, »aber Sorgentiere zu untersuchen ist ein schwieriges Unterfangen. Zum einen kommen solche Fälle selten vor. Zum anderen bleibt es immer streitbar, ob der Sorgentragende das Tier dazu gebracht hat, ihn umzubringen. Das wäre folglich Selbstmord. Oder waren es andere Personen, die das Sorgentier zur Tat verleitet haben? Ist es also Mord? Oder war es in Wirklichkeit das Sorgentier, das auf eigene Initiative handelte? Unglück oder Selbstmord? Anders gesagt ist es immer unheimlich schwer nachzuweisen, ob ein Tod durch ein Sorgentier ein Verhängnis oder ein Mord war.«
Aufmerksam sah Eskild Karlsen seinen Kollegen an: »Na, dann gibt es keine andere Möglichkeit, als die Ärmel hochzukrempeln und konzentriert an die Arbeit zu gehen. Soll ich nochmal welche von den Zeugen hierher beordern? Was ist mit der Mutter des Verstorbenen?«
Einige Zeit später saß die ältere Dame, die ein paar Tage zuvor ihren Schmerz herausgebrüllt hatte, gegenüber von Eskild Karlsen in einem engen Verhörzimmer. Langsam und ruhig erklärte er ihr die Resultate der Gerichtsmedizinerin. Noch bevor er seine Ausführungen beendet hatte, stand die Mutter des Verstorbenen auf. Als sie sich aufrichtete, zeigte sich zur Überraschung des Polizisten, dass sie eine beeindruckend große Frau war. Mit ihrem geschwollenen Gesicht und den blutunterlaufenen Augen sah sie aus wie jemand, der tagelang geweint statt geschlafen hatte. Die Frau legte die linke Hand ans Ohr und begann, ziellos im Raum umherzugehen. Der Polizist redete weiter, während die Frau ihre achte Runde um den Tisch drehte, bis sie stehenblieb und sagte, als ob sie mit sich selbst diskutierte: »Mein Sohn hat sein ganzes Leben lang einen Elefanten an seiner Seite gehabt und es hat nie ein Problem gegeben. Sicher war er ein wenig groß - dem lässt sich nicht widersprechen - aber warten Sie... Der Elefant ist ja deutlich kleiner geworden, verspielter und vor allem: unberechenbar.« Dann wartete sie einen Augenblick, bis es aus ihr herausbrach:
»Ich fand heraus, dass er hinter meinem Rücken begonnen hatte, einen Sorgenzerstäuber zu besuchen und seitdem waren das Tier und er wie ausgewechselt. Warum hätte er mir das nicht einfach erzählen können? Als hätte er mich aus seinem Leben ausgeschlossen... Vorher waren wir oft zusammen gewesen... Aber auf einmal war er zu beschäftigt, um mich zu sehen.« Langsam rannen die Tränen in ihrem Gesicht herab zum Kinn. Sie wirkte wie ein Hüne, der kurz vor dem Zusammenbruch steht. Während sie den Polizisten schmerzvoll anstarrte, zitterte sie und sagte: »Vielleicht sollte man den Sorgenzerstäuber ausfindig machen und ihn fragen, welche Rolle er bei der Ermordung meines Sohnes spielte?«
Eine adrett gekleidete Frau in den Dreißigern erhob sich. Mit der linken Hand fuhr sie dreimal über ihr Kleid, während sie mit der rechten ihre Frisur richtete. Drei Wespen summten träge um ihren Kopf. Glücklich lächelnd begrüßte sie Thor mit einem festen Händedruck, während sie sein Büro mit der Panoramasicht auf den großen Park der Stadt betrat. Wie gewöhnlich nahm sie im rechten Sessel Platz und machte es sich bequem. Thor betrachtete sie mit einem interessierten Blick und setzte sich in den linken Sessel.
»Seit wie vielen Jahren kommst du schon zu mir?«
Heiter antwortete Jane: »Zu viele Jahre, als dass ich die Zahl laut aufsagen mag. Aber ich bin doch eine deiner ältesten und treuesten Patientinnen.«
Warm lächelten sie einander an, bis Jane Bruun ihre Neuigkeiten nicht länger geheim halten konnte:
»Es läuft gut. Es läuft richtig, richtig, richtig gut. Ich erwarte Zwillinge - zwei Mädchen!« Ihr Gesicht strahlte so wie die Spätsommersonne draußen.
»Was für großartige Neuigkeiten! Du hast erzählt, dass ihr seit längerer Zeit daran arbeitet.«
Eifrig nickte Jane, aber dann zuckte es in ihrem Mundwinkel. Sie lehnte sich vor und sagte: »Ich möchte dich bitten, dafür zu sorgen, dass die Wespen mich während der Schwangerschaft nicht stechen und vor allem, dass sie meinen Sohn und die Zwillinge, wenn sie da sind, in Ruhe lassen. Ich möchte, dass du die Wespen zerstäubst, damit sie nicht stechen können.«
»Jane, darüber haben wir bereits gesprochen.« Thor setzte sich auf dem Stuhl zurecht. »Du weißt genau, dass du mehr von mir erwartest, als ich in Wirklichkeit zu tun im Stande bin. Ich kann versuchen, sie zu zerstäuben oder ihre Form zu ändern, aber ich kann und darf nicht versuchen, sie zu kontrollieren.«
»Aber du bist der beste Sorgenzerstäuber, Thor. Jeder weiß das. Letzte Woche habe ich mit meiner Schwägerin geredet, die mehrere Monate auf der Warteliste stand, um von dir behandelt zu werden. Ein Bekannter legt Geld von seinem Haushaltsbudget auf die Seite, für nur eine einzige Sitzung bei dir. Wenn du das nicht kannst, dann schafft es niemand. Ich bin es doch, die dich um den Versuch bittet - eine alte und sehr treue Patientin - was könnte also falsch daran sein, es zu versuchen?!« Sie ließ den Kopf hängen.
Thor blieb still.
Sie faltete ihre Hände zusammen und sagte: »Von allen Menschen müsstest du am besten wissen, wie schwer mein Dasein gewesen ist. Die ganze Geschichte mit meiner Schwester fällt mir immer noch schwer... Mir gefiel es, ein Teil der Glücklichen Drei zu sein, aber das ist Vergangenheit.«
Jane Bruun war in einer gutbürgerlichen Familie mit zwei Geschwistern aufgewachsen. Die zwei Schwestern und ihr Bruder hatten sich gern die Glücklichen Drei genannt.
Thor antwortete: »Auf deinen Schultern lastet eine gewaltsame Geschichte. Trauer erfordert Zeit.«
»Denk daran, dass ein einziger Tag alles verändern kann. Denk daran, dass es mein Geburtstag sein sollte, der alles verändert hat.« Ihre Stimme war ausdruckslos.
An ihrem neunzehnten Geburtstag wollten ihr Bruder, ihre Schwester und sie in einem Naturschutzgebiet feiern. Die ganze Familie bestand aus begeisterten Naturmenschen. Sie bewegten sich wie selbstverständlich in Flora und Fauna und konnten sich ohne Probleme eine Woche lang nur von deren Gaben ernähren. In der Gegend, in der ihre Familie jahrelang ihr Lager aufgeschlagen hatte, hatten sie ein Zelt aufstellen wollen. Am Morgen hatte Jane sich ein Stück eines Zahnes abgebrochen und sollte daher zuerst zum Zahnarzt. Der Zahn wurde gerichtet und vier Stunden später machten Jane und ihr Bruder sich auf zum Lager.
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