„Guten Morgen, Großmutter Silva.“ Ich erwidere ihr Lächeln und sehe mich um. Jedes Mal wenn ich hier bin, fühle ich mich willkommen und mehr zuhause, als in meinem eigenen Zelt, das mir fremd und kalt erscheint. Es duftet nach allerlei Kräutern und Blüten, aber auch nach getrocknetem Fleisch und nach Leder. Zu Sträußen gebündelte Pflanzen hängen an Fäden von der Decke und überall stehen Mörser, Tiegel und Fläschchen herum. Durch das Lüftungsloch in der Kuppel fällt das Sonnenlicht herein und lässt alles noch geheimnisvoller aussehen. „Ich war noch vor Sonnenaufgang im Schimmerwald und bin gerade zurückgekommen“, teile ich ihr mit. „Und nun muss ich mir wieder die üblichen Sprüche anhören, von wegen ich bin wie mein Bruder und treibe mich herum, um Ärger zu machen.“ Ich seufze und zucke mit den Schultern. „Ich habe keine Lust, mit denen zu frühstücken. Sie werden mir ohnehin nichts übriggelassen haben.“
„Oh mein Junge“, antwortet Silva mitfühlend. „Dann komm, ich mache dir jetzt erstmal einen heißen Kräutertee. Außerdem habe ich noch Dörrfleisch und Brot da.“
Ich nicke dankbar und halte meine Hände über das Feuer. Mir ist zwar nicht kalt, aber ich habe das Gefühl, die Wärme könnte das Eis in meiner Brust schmelzen, das mein Herz umgibt, seit mein Bruder fort ist.
Nachdem ich gefrühstückt habe, bitte ich Großmutter Silva, meinen Heiltrank aufzufüllen. Ich nehme das Lederband ab und reiche ihr die Phiole. Als sich ihre knochigen Finger um das Glas schließen, reißt sie die Augen auf und starrt mich an.
„Was hast du getan?“, fragt sie mich. Es klingt mehr ungläubig, als wütend und ich bin kurz davor, ihr alles zu erzählen. Doch ich schüttle schweigend den Kopf und senke den Blick. Silva seufzt und wendet sich von mir ab, um die Phiole neu zu befüllen. „Du überrascht mich, Hektor“, sagt sie leise. Als sie sich wieder umdreht, sind ihre Augen plötzlich dunkel, wie der Ozean in der Nacht. „Ich hoffe, du weißt, dass du mit dem Feuer spielst. Du hast es ohnehin nicht leicht im Clan und ich will nicht, dass dir etwas geschieht.“
Ich trete einen Schritt zurück und hebe abwehrend die Hände.
„Ich habe eigentlich gar nichts damit zu tun, Großmutter Silva. Ich habe einer Freundin geholfen, das ist alles. Mehr werde ich nicht machen, versprochen.“
„Versprich nicht, was du nicht halten kannst“, erwidert Silva streng. „Du bist bereits viel zu sehr involviert, denn auf dich kann man sich als Freund verlassen. Du bist ein guter Mann, genau wie dein Bruder und wie dein Vater.“
Ich schüttle vehement den Kopf. „Aber ich …“
„Hab’ Vertrauen in dich selbst, Hektor“, unterbricht sie mich. „Du wirst den richtigen Weg gehen, dessen bin ich mir sicher. Aber sei stets auf der Hut.“
****
Nach dem Gespräch mit Großmutter Silva denke ich noch lange darüber nach, was sie genau gemeint hat und was sie von mir erwartet. Ich hasse die Menschen und werde nicht mein Leben für sie riskieren, daran hat sich nichts geändert.
Am darauffolgenden Tag versuche ich mehr denn je, mich in die Gemeinschaft der Zentauren einzubringen und nicht an Lilaja und die Menschen zu denken. Ich habe beschlossen, sie heute nicht zu besuchen und verbringe stattdessen viel Zeit mit Nox. Dieser merkt jedoch schon bald, dass ich ständig mit den Gedanken woanders bin. Am Nachmittag trainieren wir gerade mit unseren Bögen, als ich seinen bohrenden Blick auf mir spüre.
„Was ist eigentlich los mit dir, Hektor?“, fragt er mich, als ich zum dritten Mal mein Ziel verfehle.
„Was soll denn los sein?“, frage ich schroffer, als beabsichtigt und rudere sofort zurück. „Entschuldige, ich bin vermutlich einfach nur müde.“
Nox nickt verständnisvoll und wir beschließen, das Training für heute sein zu lassen.
„Hey“, sagt er, als wir uns vor meinem Zelt verabschieden. „Du weißt doch, dass du mir alles erzählen kannst, oder?“
Das nicht, lieber Nox, denke ich wehmütig, als ich dankbar nicke. „Natürlich. Aber ich bin wirklich nur müde.“
Am Abend wandere ich ruhelos meinem Zelt hin und her und weiß nicht, was ich tun soll. Ich bin wütend auf Lilaja, weil sie mich in diese Sache mit hineingezogen und mir keine Wahl gelassen hat. Sie weiß, wie sehr ich die Menschen hasse und dass ich mir mit der Geschichte meines Bruders noch weniger einen Fehler erlauben darf, als jeder andere. Auf der anderen Seite plagt mich das schlechte Gewissen, weil ich sie als Freund im Stich lasse. Vielleicht sollte ich mich darauf fokussieren, den Menschen um Lilajas Willen zu helfen und meinen Groll ihr zuliebe beiseite zu schieben? Ich bin völlig hin und hergerissen, weil ich nicht sicher bin, ob ich das kann. Sobald ich an die beiden Menschen denke, überfällt mich wieder diese unbändige Wut und ich kann nicht mehr klar denken. Irgendwann muss ich wohl eingeschlafen sein, denn ich schrecke im Morgengrauen auf und fasse endlich einen Entschluss. Ich hoffe nur, ich werde es nicht bereuen …
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