»Und?«
»Dann bin ich mit der Stellvertreterin zusammengestoßen. Ist sie okay?«
»Einigermaßen«, nickte Møller. »Sie wird schon wieder. Sie war es, die Alarm geschlagen hat.«
»Was ist denn passiert?«
»Sie hat nur ein paar Haare verloren und steht unter Schock, aber ansonsten ist ihr nichts passiert. Du hast dir den Kopf am härtesten angeschlagen und bist vermutlich ohnmächtig geworden.«
»Stell dir nur mal vor … Ida«, hörte man eine aufgeregte Stimme draußen auf dem Gang. »Dem Schwein sollten sie den Schwanz abschneiden.«
»Wir sind gezwungen, dein Alibi zu überprüfen«, fuhr Møller fort.
Tränen rannen Mads’ Wangen hinab. Wie konnten sie glauben, dass er … Schluchzend vergrub er sein Gesicht in seinen Händen. Møller sah die roten, striemenähnlichen Abdrücke an den Handgelenken, wollte aber nicht gerade jetzt danach fragen.
»Was ist mit denen, die sauber machen? Das sah mir aus wie Wischwasser«, schluchzte Mads. »Vielleicht gibt es Spuren auf dem Mopp. Der Vorsitzende des Elternbeirats ist auch manchmal abends hier. Und ich habe jemanden oben auf dem Wall gesehen, ich glaube, es waren Langzeitarbeitslose … oder vielleicht Obdachlose.«
»Wir werden das Ganze untersuchen«, sagte Møller.
Er wartete einen Augenblick, bevor er Mads eines der Papiertaschentücher reichte, die er immer zu diesem Zweck mitbrachte. Bloß kein Stress. Bei einer Befragung war es, wie in allen anderen Situationen des Lebens, letztendlich war es besser, den Leuten die Zeit zu geben, die sie brauchten.
Martin hatte gut Farbe im Gesicht bekommen, sagte aber glücklicherweise nichts und verhielt sich zurückhaltend.
Møller räusperte sich, Mads trocknete sich die Augen und blickte auf, während er das Taschentuch in seiner rechten Hand zerknüllte.
»Du hast das Mädchen also gefunden«, sagte Møller. »Und du kennst es?«
»Ja, das ist … Klein-Ida.«
»Klein-Ida. Ida Thomsen?«
»Ja«, antwortete Mads so leise, dass die Stimme der Stellvertreterin aus der Küche zu ihnen drang und ihn fast übertönte: »Ich will nicht mehr, dieser Ort, das ist zu viel, und sie ist in London, ich kann nicht mehr.«
»Gibt es auch eine große Ida?«, fuhr Møller fort.
»Die große Ida«, nickte Mads. »Sie wird fast immer von dem philippinischen Au-Pair gebracht und abgeholt. Aber an ihren Nachnamen kann ich mich nicht erinnern.«
»Du hast heute die Bastion geöffnet und …«
»Kinderbastion.«
»Ja, und wie lange warst du allein? So ungefähr.«
»Ich glaube … vielleicht eine Viertelstunde.«
»Was hast du hier als Erstes gesehen?«
»Den Sandsack … Also, es war ja keiner, auch keine Elfe, aber ich dachte zuerst … Nein, falsch, als erstes bemerkte ich, dass die Tür nicht verschlossen war, dann etwas, was von der Decke hing, ich konnte nur nicht erkennen, was es war, bevor …«
»Bevor?«, wiederholte Møller so freundlich wie möglich und versuchte, ihm da durchzuhelfen.
»Ja, also, bevor ich das Licht einschaltete, und dann … Ida? Ich habe sie erst gar nicht erkannt, ich wusste nicht, dass sie das war. Zunächst stand ich nur da. Dann versuchte ich, sie hochzuheben. Ich habe es nicht geschafft. Ich lief in die Küche, um ein Messer zu holen, ich kann mich fast nicht mehr dran erinnern.«
»Du hast sie da runtergeholt, nicht wahr?« »Ja, selbstverständlich, das musste ich, das war so … Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« »Du hast die Handschuhe anbehalten?« »Die Handschuhe«, sagte Mads und drehte und wendete seine Hände, als würde er erst jetzt entdecken, dass er sie noch immer trug. »Ich … Ja, das habe ich wohl.«
»Wir müssen dich bitten, sie uns zu geben«, sagte Møller.
Mads streifte sie ab, Martin Sørensen nahm sie entgegen und legte sie in eine durchsichtige Plastiktüte. Mads verfolgte den Weg der Handschuhe mit den Augen.
»Warum hast du nicht 112 angerufen?«, fuhr Møller fort.
Mads richtete sich ein wenig auf. Zum ersten Mal sah er Møller direkt in die Augen.
»Oft kommt ihr sowieso nicht, wenn man euch anruft. Ich habe von mehreren Einbrüchen gelesen, wo die Polizei überhaupt nicht …«
»Okay, Mads, du hast wohl Recht damit, dass es da Probleme geben kann, aber das lassen wir mal beiseite. Wir konzentrieren uns auf heute Morgen, okay? Wollen wir uns darauf einigen?«
»Ja, das stimmt.«
»Warum hast du das getan?«
»Was getan?«
Die Panik in Mads’ Stimme war nicht zu überhören, die Frage versetzte ihn eindeutig in Unruhe. Møller sprach gefasst weiter. »Sie dort runtergeholt.«
»Ich wollte das … sie nur befreien.«
»Hast du überhaupt nicht daran gedacht, auf uns zu warten?«
»Ich konnte es nicht ertragen, den Kopf in dem schmutzigen Wasser«, sagte Mads.
»Ja, ja«, sagte Møller. »Die Techniker sind nicht wirklich begeistert. Sie werden einige Proben nehmen, auch von dir. Und du musst mit auf die Wache und eine detailliertere Aussage abgeben.«
Mads nickte, Tränen traten ihm wieder in die Augen, er murmelte: »Klein-Ida, ihr Kopf … die Mütze … Entschuldigung.«
»Ähm, ich glaube, er steht unter Schock«, flüsterte Martin Møller zu.
Nebenan in der Küche hatte die Stellvertreterin wieder angefangen, laut zu weinen. »Die Krisenhilfe ist unterwegs«, hörte Møller jemanden beruhigend auf sie und den Rest des Personals einreden.
»Ich glaube übrigens, dass es ein Seil aus Randers war, Randers Reb«, sagte Mads wie in Trance.
Eine der Erzieherinnen klopfte an und öffnete die Tür. Neben ihr stand eine ältere, dickliche Frau, die einen scheuen Eindruck machte. Sie hielt einen Teller in der Hand.
»Ja, Entschuldigung, dass wir stören, ich bin Pernille und das ist Marie, unsere Köchin, sie wollte nur …«
Mit einem kleinen, freundlichen Schubs bugsierte sie Marie über die Türschwelle und weiter in den Raum hinein. Die runde Brille konnte nicht die tränennassen Augen der kleinen Frau verbergen, als sie zu Mads ging und den Teller mit Brötchen und Käse vor ihm hinstellte.
»Versuch jetzt ein wenig zu essen, ich weiß ja, dass du zu Hause nie was bekommst«, sagte sie.
7
Sanne Berg bat den Taxifahrer, vor dem Café Oven Vande anzuhalten, das im Erdgeschoss des »Christianshavnergården«-Hauses lag und auf Christianshavns Kanal hinausging. Es war zur Gewohnheit geworden, dass sie hier immer ein Sandwich kaufte, wenn sie von einer ihrer Dienstreisen nach Hause kam.
Sannes Penthousewohnung, der »Gipfel«, lag im selben Gebäude wie das Café. Die Wohnung war nicht groß, aber es gab eine Terrasse, und aus diesem Grund hatte Sanne zugeschlagen und sie gekauft, als alles andere in ihrem Leben auseinanderzubrechen schien. Es war Sommer gewesen, die Terrasse platzte vor Üppigkeit des Grüns und der Blumen in allen Farben. Die überwältigende Schönheit, die herrlichen Düfte, die Ungestörtheit, die Aussicht, das Ganze hatte sie wie eine große tröstende Chance verstanden: Wenn sie sich jemals mit Saras Tod würde abfinden können, dann im »Gipfel« mit dieser paradiesischen Terrasse.
»Na, zum Teufel, da sind die Bullen«, sagte der Fahrer in einem Ton, als ob schon die Tatsache selbst eine Gefahr darstellte.
Gott weiß, ob er gesucht wird oder einfach nur paranoid ist, dachte Sanne. »Das macht dann 190«, fügte er hinzu.
Sanne gab ihm 200 und stieg aus dem Wagen. Sie reiste immer so leicht wie möglich, am liebsten nur mit Handgepäck, das sie im Taxi auf dem Rücksitz behielt. Sie hatte nicht die Geduld, länger zu warten als absolut notwendig.
Ein paar uniformierte Beamte und Falck-Leute hatten auf der Snorrebrücke Stellung bezogen, die sich schräg vor dem Café Oven Vande über den Kanal erstreckte. Sie waren dabei, etwas durch die Schollen und den Eis- und Schneematsch hochzuziehen. Sannes Neugier behielt über Hunger und Kälte die Oberhand. Sie überquerte die Straße und ging zu den Männern hinüber.
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