Das Seil war dick und stark. Mads bearbeitete es ein Stück oberhalb der Knöchel des Mädchens. Die Klinge des Messers fuhr an den dichtgeknoteten Strängen des Seils vor und zurück, die nur langsam nachgaben. Ich gebe auf und verschwinde von hier, dachte Mads, doch im selben Augenblick riss das Seil, und der Körper des Kindes gab der Schwerkraft nach.
Jemand schnappte geräuschvoll nach Luft. Die Stimme der Stellvertreterin drang von der Tür her zu ihm: »Mads, was ...?« Sie traute ihren Augen nicht: Mads, der mit einem großen Messer herumfuchtelte, vor ihm auf dem Boden lag ein offensichtlich lebloser Kinderkörper, über dessen Kopf ein Eimer gestülpt war. Sie schrie.
Mads fuhr herum: »Nein!«, schrie er, von Tränen erstickt.
Die Stellvertreterin stürzte zur Tür, Mads lief ihr hinterher.
»Du darfst nicht, es ist nicht so …« rief er. »Du darfst nicht!«
Er erwischte ihren Haarschopf, ergriff ihn, eine Sekunde, bevor sie die Tür erreichte, die sie nur zu öffnen brauchte, um aus der Kinderbastion zu rennen. Raus und nichts wie weg von dem lebensgefährlichen Wahnsinnigen, auf den sie gerade gestoßen war, wo sie doch geglaubt hatte, einfach wie jeden Morgen den Duft von frischgebrühtem Kaffee zu riechen und in einen ganz normalen Arbeitstag zu starten. Sie kämpfte sich weiter vor, ergriff die Türklinke. Mads riss mit aller Kraft an ihrem Zopf und schrie wieder laut auf. »Neeein!« Sie stürzte und riss ihn mit zu Boden.
Weit entfernt hörte Mads, wie eine Stimme sagte, dass die Polizei endlich angekommen sei. Danach spürte er, wie jemand ihn leicht an der Schulter rüttelte und ihm vorschlug, sich hinzusetzen.
Über ihm standen zwei Männer, der eine im mittleren Alter mit braunem Haar, ruhigen Augen und einer kleinen Narbe am Kinn, der andere nur ein wenig älter als Mads selbst.
Der Junge reichte Mads eine Hand und half ihm auf. Mit seiner hellen Mähne und den blauen Augen erinnerte er Mads an einen durchtrainierten Typen, mit dem er ab und zu im Fitnessstudio in Nørrebro Gewichte hob.
Der Ältere sagte, er heiße Hugo Møller und sei von der Kopenhagener Polizei, Mordkommission.
6
Møller wunderte sich. Während seiner mittlerweile vielen Jahre als Mordermittler bei der Kopenhagener Polizei hatte er ja schon so einiges gesehen. Aber wer zum Teufel tötet auf diese Weise ein kleines Mädchen? Mit einer Art Flaschenzug, den Kopf in einem Eimer und mit gefesselten Händen und Füßen – die Hände auf dem Rücken, mit Kabelbindern, wie sie die Polizei benutzte! Nun lag es in einer ungelenken Position auf dem nassen Boden.
Der Tatort war abgesperrt, die unmittelbaren Befragungen durchgeführt, die Institution geschlossen, das Personal in der Küche versammelt, die Kollegen von der Kriminaltechnik unterwegs, aber wegen des Wetters verspätet. Bis auf Weiteres musste Møller sich mit dem jungen Martin Sørensen zufriedengeben, der gerade erst bei der Mordkommission angefangen hatte.
Møller arbeitete die Neuen für gewöhnlich gerne ein. Dieses Mal hatte er jedoch protestiert, da Martin einen langjährigen Assistenten abgelöst hatte. Der Chef der Mordkommission hatte aufgrund von Møllers Weigerung kurz davor gestanden, Tange zu der Sache in der Kinderkrippe zu schicken. Hans Tange, den Stinkstiefel, der rein karrieremäßig mehr damit zu tun hatte, Møller im Nacken zu sitzen als Verbrechen aufzuklären.
Møller hoffte, dass der junge Martin Sørensen nicht allzu smart und forsch sein würde. Auf den ersten Blick erinnerte er mehr an ein keckes Fotomodell als an einen Mordermittler. Aber man musste fair bleiben. Bisher schien Martin ein ausgezeichneter Aspirant zu sein.
Møller wollte schnellstmöglich versuchen, sich einen soliden Überblick zu verschaffen, damit er die unterschiedlichen Mitarbeiter auf die vernünftigste Art und Weise in ihren jeweiligen Bereichen einsetzen und von da an selbst übernehmen konnte.
Unabhängig vom Motiv hinter dem Verbrechen musste es sich um eine wirklich kranke oder gestörte Person handeln. Das war der logischste Ansatz. Es würde Møller sehr überraschen, wenn nicht die eine oder andere Form von Perversion dahinter stünde.
Auf der anderen Seite setzte die ganze Szene wahrscheinlich einen Täter mit einer gewissen gedanklichen Ordnung und Struktur voraus. Auf jeden Fall ausreichend, um detailliert planen und entsprechend handeln zu können.
»Neuigkeiten von den Technikern, Martin?«, fragte Møller im Büro der Leiterin.
Martin Sørensen auf dem Gang steckte seinen Kopf zur Tür hinein. »Ähm, ich rufe die gleich wieder an.« »Schaff auch den Rechtsmediziner her.« »Das habe ich schon versucht. Kein Streifenwagen kann ihn abholen, überall in der Stadt ist der Teufel los. Er kommt mit einem Taxi.«
Es wäre auch schön gewesen, Sanne Berg für eine erste psychologische Einschätzung dabei zu haben, aber sie war wieder irgendwo mit »SOS International« unterwegs; diesmal Laos und Thailand, wie Møller bei »SOS« erfahren hatte. Außerdem hatte sie sich jegliche Form von weiterem Kontakt mit ihm und der Kopenhagener Polizei verbeten, ihn auf eine für sie eigenartige Weise abgewiesen, als er sich das letzte Mal gemeldet hatte. Als wäre sein Angebot einer weiteren guten Beratungsaufgabe etwas Persönliches. Er brauchte ihren Beistand, und wollte ihr gleichzeitig zu einer guten Freelanceaufgabe verhelfen. Was war daran falsch? Nach allem, was sie zusammen fertiggebracht hatten. Møller begriff das nicht. Und gerade Sanne, die sonst so direkt und unumwunden sein konnte. Warum spuckte sie es nicht einfach aus, wenn er etwas Falsches gesagt oder getan hatte? Er hatte sie das letzte Mal, als sie miteinander geredet hatten, geradezu um eine Erklärung angefleht, aber es hatte nichts geholfen. Møller realisierte leicht irritiert, dass Sannes kategorische Abweisung ihn gleichermaßen bekümmerte, wie sie ihm unverständlich war.
»Tag, Møller«, erklang es fast synchron von den zwei Technikern, die endlich aufgetaucht waren.
Møller war erleichtert, es waren erfahrene Kollegen, die wussten, was sie zu tun hatten. Er wies sie kurz ein und sie gingen an ihre Arbeit.
Was wäre Sannes unmittelbare Reaktion gewesen? Wie hätte sie den Tatort interpretiert, die Szene mit dem Eimer, dem Kind und der Hebevorrichtung eingeordnet? Hatte der Täter eine Signatur hinterlassen und was war in dem Fall seine Visitenkarte? Abgesehen von ihren rationalen und analytischen Gaben verfügte Sanne über eine besondere Intuition, aus der schlau zu werden verteufelt schwer war. Gefühle versus Vernunft, hatte er nachsichtig gedacht, als sie zwei das erste Mal zusammengearbeitet hatten. Später hatte er für sich selbst erkannt, dass das, was sie ab und zu spürte, sie tatsächlich oft in die zutreffende Richtung führte. Doch jetzt war es mehrere Jahre her, seit sie zusammen an einem Mordfall gearbeitet hatten.
Eins war sicher: Er würde nicht mehr betteln. Da war die berufliche Ebene, aber er musste auch auf seinen persönlichen Stolz achten. Außerdem waren da Else und die Kinder. Seit dem letzten Schub ihrer Multiplen Sklerose war Else an den Rollstuhl gefesselt. Sie brauchte ihn mehr als je zuvor. Und die Mädchen! Beim bloßen Gedanken an die Mädchen schlug sein Herz schneller. Er sah sie ganz deutlich vor sich, wie sie auf dem Foto in seinem Portemonnaie posierten, ohne dass er es anzuschauen brauchte. Er hatte das Bild letzten Sommer bei ihrem jährlichen Gartenfest geschossen und zum genau richtigen Zeitpunkt auf den Auslöser gedrückt. Hand in Hand lächelten die Mädchen und Else vor dem weißen Schmetterlingsflieder, dessen dichte Sträucher mit ihren süß und würzig duftenden Blüten gerade aufgeblüht waren. Jeanette mit der frisch erworbenen Studentenmütze, ein wenig nach hinten geschoben über dem langen, blonden Haar. Das Nesthäkchen Eva, mit hellen Locken, unschuldig, und die Überraschung ihres Lebens. Møller und Else hatten beide geglaubt, dass Else aus diesem Alter raus war. Und jetzt war Eva gerade elf geworden. Auf dem Foto guckte sie fasziniert und erwartungsvoll zu ihrer großen Schwester auf, als würden ihre großen, hellblauen Augen sowohl »Herzlichen Glückwunsch« als auch »und eines Tages bekomme ich auch so eine Mütze« sagen.
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