»Ich weiß schon, aber so habe ich mir das doch nicht vorgestellt. Einfach toll. Endlich mal ’ne Stadt, wo niemand was gegen Ausländer hat.«
Sabine dämpfte ihre Begeisterung. »Ganz so ist es nicht. Es heißt, die Schweizer seien ausgesprochen fremdenfeindlich.«
»Das glaube ich einfach nicht.«
»Wir werden es erleben. Natürlich ist ein Saudi, der sein Geld ausgeben will, überall willkommen. Bei einem armen Schlucker sieht das anders aus.«
»Vermies mir nicht den ganzen Spaß, Maman! «
»Das hatte ich auch nicht vor, Liebling. Ich wollte dich nur darauf aufmerksam machen, daß der Schein auch trügen kann.«
Stefanie blieb stehen. »Sieh mal, da ist ja unser rosa Zuckerbäckertempelchen von vorhin! Schau doch, bitte, was in deinem schlauen Buch darüber steht!«
Sabine blätterte in ihrem Heftchen. »Das muß das Grabmal des Herzogs von Braunschweig sein.«
»Wirklich? Der ist hier begraben?«
»Scheint so.«
»Begreif ich nicht.«
»Der gute Herzog hat sich das Recht auf diese prominente Grabstätte durch Spenden an die Stadt Genf erkauft«, erklärte Sabine.
»Da haben wir es wieder: Geld regiert die Welt! Aber da hat er wohl eine Menge blechen müssen.«
»Anzunehmen.« Sabine zog ihre Strickjacke über.
»Wird dir nicht auch kalt, Liebling?«
»Ich friere überhaupt noch nicht. Sieh mal da drüben!« Sie lenkte die Aufmerksamkeit ihrer Mutter auf ein hohes modernes Gebäude aus Stahl mit dunkel getönten Fenstern. »Noga Hilton Hotel Casino« war in riesigen Lettern auf seiner Front zu lesen. »Ob das ein echtes Casino ist – wie in Monte Carlo?«
»Sehr wahrscheinlich«, meinte Sabine.
»So ein Luxus, das hältst du im Kopf nicht aus. Das müssen wir uns aus der Nähe anschauen, ja?«
»Nicht gerade heute«, wehrte Sabine ab, »ich möchte lieber weitergehen.«
Schon bald hatten sie die Menge der abendlichen Spaziergänger hinter sich gelassen. Eine schmale Landzunge, die an ihrer Spitze von einem Leuchtturm und einer mächtigen Platane beherrscht wurde, ragte ungefähr hundert Meter in den See hinein.
»Bains de pâquis« , las Stefanie mühsam und mit deutscher Aussprache, »Entrée cinquante centimes.«
»Scheint sich um ein Freibad zu handeln«, erklärte Sabine, »der Eintritt kostet…« Sie sprach es richtig aus. »….cinquante centimes. Aber was soll ›Pâquis‹ heißen? Ich kenne nur ›Pâques‹ , und das heißt Ostern.«
»Sehr beruhigend, daß du auch mal passen mußt, Maman.«
Später sollten sie erfahren, daß Pâquis der Name des Viertels war, das sich unterhalb des Bahnhofes bis zum See hin erstreckte.
Hier draußen, so nahe am Wasser, war es wirklich frisch geworden, und Stefanie zog sich jetzt auch ihre Jacke an.
Es wurde allmählich dämmrig, und sie beschlossen, zum Hotel zurückzukehren, aber nicht am See entlang, sondern durch die Stadt. Sie wollten sich ein nettes Lokal suchen.
Schon bald, an der Place de Navigation, wurden sie fündig. Das Restaurant »Tamaris« pries seine türkische Küche an. Sie traten ein. Außer einem Herrn um die fünfzig waren sie die einzigen Gäste. Anscheinend wurde in Genf um diese Zeit noch nicht zum Abendessen gegangen.
Gemeinsam studierten sie die Speisekarte, bestellten sich Salat mit Ziegenkäse und Oliven und als Hauptgericht Fleischspießchen. Ein schwarzgelockter junger Kellner servierte, ein weißes Tuch um die Hüften geschlungen. Es schmeckte köstlich; der Salat war frisch und knackig und die Fleischstücke scharf gewürzt. Sabine gönnte sich ein Glas Rotwein und Stefanie eine Cola. Während des Essens plauderten sie halblaut und angeregt über ihr ersten Eindrücke von Genf.
Gerade als Sabine die Rechnung verlangen wollte, kam der Herr vom Nebentisch zu ihnen herüber; er trug einen weißen Leinenanzug und, um den Hals, ein hellblaues Seidentüchlein. Sein kahler runder Kopf war gleichmäßig gebräunt.
»Würden die Damen mir die Freude machen, sich zu einem Minzetee einladen zu lassen?« fragte er mit einer Verbeugung in fast akzentfreiem Deutsch.
»Wirklich, das ist sehr liebenswürdig, aber wir wollen gerade aufbrechen «, stotterte Sabine verwirrt und merkte zu ihrem Entsetzen, daß sie rot wurde.
»Aber, gnädige Frau, das können Sie mir nicht antun! Orientalische Gastfreundschaft darf man nicht abschlagen.« Ohne Aufforderung nahm er sich einen Stuhl und setzte sich zu ihnen an den Tisch. »Darf ich mich vorstellen? Ich heiße Latif, stamme aus Kuweit und lebe schon seit fünf Jahren in Genf. Dieses kleine Restaurant ist mein Stammlokal. Tamaris, ein wundervoller Name, nicht wahr? Wissen Sie, was das bedeutet? Nein? Das ist der Name eines Baumes, der in der Mittelmeerregion wächst, aber auch in den Oasen meiner Heimat. Kommt von ›tamar‹ , was auf arabisch Dattel bedeutet. Oh, wie vermisse ich die Oasen meiner Heimat!«
Sabine starrte den Mann verwundert an. War das seine Masche, sich an Frauen heranzumachen? Stefanie amüsierte sich.
»Fünf Jahre bin ich schon in Genf«, wiederholte der Fremde, »aber noch nie habe ich so entzückende Damen in diesem Restaurant gesehen.«
»Wir sind heute erst angekommen«, erklärte Sabine, die nicht wußte, ob sie sich über diesen Mann ärgern oder ihn charmant finden sollte.
»Dann hat das Schicksal uns zusammengeführt!« behauptete er mit übertriebenem Pathos.
In diesem Moment wurde der aromatisch duftende Tee in einer kleinen Silberkanne mit drei bunten Gläschen serviert.
Latif gab dem Kellner ein Zeichen und schenkte selber ein. »Vorsicht, der Tee ist sehr heiß!« warnte er.
»Und was machen Sie hier in Genf, Herr Latif?« wollte Stefanie wissen.
Sabine warf ihr einen tadelnden Blick zu; ihrer Ansicht nach bestand kein Grund, den aufdringlichen Fremden durch Fragen noch zu ermutigen.
»Ich arbeite natürlich bei der UNO – ohne Amt und Würden, als Beobachter sozusagen, sehr wichtig für meine Nation.«
Stefanie war beeindruckt. »Und wir sind…« begann sie.
Sabine fiel ihr ins Wort. »….gerade erst angekommen und zu Besuch bei Verwandten.«
»Aber wir können uns wiedersehen?«
Sabine nippte an ihrem Tee; er war stark gesüßt. »Das ist leider unmöglich. Wir bleiben nur ein paar Tage und sind völlig ausgebucht.«
»Woher können Sie so gut Deutsch?« fragte Stefanie.
»Oh, ich spreche viele Sprachen – acht? Oder neun? Habe ich gelernt in der Schule und an Universitäten in meiner Heimat. Sonst wäre ich nicht geschickt worden zu UNO.«
»Finde ich toll.«
Sabine leerte hastig ihr Glas. »Trink aus, Stefanie, wir müssen.« Sie winkte dem schwarzgelockten jungen Kellner, zahlte und stand auf. »Komm jetzt!«
Gehorsam erhob sich Stefanie und reichte Latif die Hand. »Es war nett, Sie kennenzulernen.«
»Das Vergnügen lag ganz auf meiner Seite!« Latif wandte sich wieder an Sabine. »Kann ich Sie denn wenigstens nach Hause bringen?«
»Nein, danke!« erwiderte Sabine härter als beabsichtigt.
In dem Gesicht des Fremden glaubte sie echte Enttäuschung zu sehen. Mit einem versöhnlichen Lächeln fügte sie hinzu: »Jedenfalls vielen Dank für den Tee.« Sie trat in die laue Nacht hinaus.
Stefanie folgte ihr. In der Tür drehte sie sich noch einmal um und sah Latif, der trübsinnig in sein leeres Teeglas starrte. »Warum hattest du es denn so eilig, Maman?« fragte sie. »Wir haben doch alle Zeit der Welt. «
»Weil ich keine Lust hatte, diesem Märchenerzähler weiter zuzuhören.«
»Nicht einmal deine Zigarette hast du geraucht! «
»Das hätte er als Entgegenkommen auffassen können.«
»So ein Quatsch!«
Sabine blieb stehen und sah ihre Tochter strafend an. »Stefanie, bitte!«
»Aber es ist doch wahr. Du hättest nicht so grob sein sollen. Ich fand ihn nett.«
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