Dominik Riedo
Sechs Lebenserzählungen
Der Autor dankt für die Unterstützung:
Der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, die Material zur Verfügung stellte
Seiner Krankenkasse, ohne deren Hilfe er die Gesprächsmenschen – bis auf zwei – nie kennengelernt hätte
Manfred Hiefner für die Übertragung des Mottos
© 2020 Münster Verlag GmbH, Basel
Alle Rechte vorbehalten.
Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden, insbesondere nicht als Nachdruck in Zeitschriften oder Zeitungen, im öffentlichen Vortrag, für Verfilmungen oder Dramatisierungen, als Übertragung durch Rundfunk oder Fernsehen oder in anderen elektronischen Formaten. Dies gilt auch für einzelne Bilder oder Textteile.
Umschlag und Satz: |
Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld |
Umschlagsbild: |
123rf.com/Balint Roxana |
Lektorat: |
Manu Gehriger |
Verwendete Schriften: |
Suisse Serif, Suisse Int’l |
ISBN 978-3-907146-76-7
eISBN 978-3-907301-23-4
www.muensterverlag.ch
«‹Uf Facebook postet sie die ganz Ziit, wie schlächt’s ihre goht und wie chrank sie isch.› – Schomol überleit, dass das en Wäg für sie isch, en Umgang demit z’finde, das alles z’bewältige?»
«‹Sie postet die ganze Zeit auf Facebook,
wie schlecht es ihr gehe und wie krank sie sei.› –
Schon mal daran gedacht, dass das ein Weg für sie ist,
damit umzugehen und das alles zu bewältigen?»
Robin Rehmann
(SOS – Sick of Silence / Radio SRF Virus)
Die Wahre
Ich wurde gelebt
Ein Wunder
Ich bin ein Töter
Auf(recht)stehn – oder untergehn …
Grossmueti
Coda: Du wirst diesen Schmerz …
Notiz/ Widmungen
Nachweis der Erstdrucke
Hinweis: Das vorliegende eBook umfasst sechs, des ursprünglich auf acht Lebensgeschichten angelegten Werkes.
Sie weinte und schluchzte und schrie gar in jener Nacht in Genf. Ihre Kameradinnen und Kameraden wussten nicht mehr, was sie tun sollten. Sie richteten sich auf aus ihrem Schlaf, standen auf, umringten ihr Bett und beratschlagten sich. «Ich kann das nicht mehr mit anhören», sagte Pitsch dann – und stiess sie sachte an, bis sie erwachte, aufschreckend zwar aus ihrem Schlaf, aber bald geborgen umgeben von ihren Klassenkameraden, statt in der Gewalt des Einen, jenes … Drei Jahre war es her, seit sie ertragen musste, was sie nicht ertragen wollte. Es gefiel ihr zwar, wahrgenommen zu werden, umworben. Ihre Zähne hatten ihr noch nie gefallen; sie waren zu weit auseinander. Aber deswegen musste noch keiner meinen, sie wollte auch gleich mit ihm im Rossstall … Dabei war sie freiwillig dort, alle ihre Kameradinnen und Kameraden genossen die Ferien, zuhause, in den Ferienlagern. Sie aber wollte sich bilden, wollte besser Französisch reden lernen. Aber dann –
Warum das Tagebuch hier abbricht? Das kannst du dir doch vorstellen?
Ach so, okay. Dann habe ich dich falsch verstanden: Warum in der dritten Person? – Na ja, weil es doch erfunden ist.
– – –
Ich wollte eine Zeit lang mit einer Klassenkameradin einen Roman schreiben. Ich war doch in den Ferien 1991 auf einem Rosshof. Da wurde es mir abends ein wenig langweilig und ich habe schon vorgearbeitet, was ich dann zuhause –
Aber egal: Ich danke dir, dass du die Seite gefunden hast. Wo mag ich die verloren haben?
Was, was mit mir los ist? Nichts.
– – –
Wirklich nichts.
Was: Ich ein schlechtes Erlebnis gehabt? Nein. Tut mir leid, das bin ich nicht. Wirklich, nicht ich. Nein, das bin ich ganz sicher nicht. Nein, wirklich nicht. Im Sommer 1991, da waren wir ja im Semi.
Nein, also. Ja, ich bin ein Jahr eher im Welschen gewesen. Ich bin im Austausch gewesen. Aber das muss sonst jemand –
– – –
Nein, wirklich, dräng jetzt nicht mehr. Das ist doch schwierig genug.
Warum ich ‹schwierig› gesagt habe? Na ja, ich meine doch nur, für diese … also für sie, die …
Aber wart mal, wer ist denn noch im Welschland gewesen? Das muss doch irgendwie stimmen! Sag rasch, hm …
Was? – Ja.
Das stimmt, ja.
Wirklich speziell.
– – –
Mir geht es gut, ja. Tipptopp, ja. Wirklich.
Weisst du, sonst würde ich doch daran arbeiten, das alles zu beweisen und den zu bestrafen, damit … also weil man ja in der Schweiz das immer noch beweisen muss, dass man da, oder besser und meist: dass frau da –
Nein, macht nichts.
Warum ich darüber so viel weiss?
Weiss ich das?
– – –
– – –
Schau … oder hör: Ich kann dir – also weil das lässt mich wirklich nicht los jetzt, und ich möchte, dass niemand darüber denkt, als ob … als wenn das wirklich passiert wäre. Also ich gebe dir die Nummer meiner besten Freundin, du weisst doch, welche. Die rufst du bitte an und erzählst ihr das. Und dann fragst du, wie das denn damals war, was mir denn passiert ist? Oder eben: Was mir nicht passiert ist?
Was? Wie sie das wissen soll?
Ach so, was nicht passiert ist? – Hm, ja, schon. Aber glaub mir, sie wird dir sagen, dass es das nicht gegeben hat. Dass du mich verwechseln musst.
– – –
Ah, genau, noch was: Mir fällt noch etwas ein: Ich habe nie gesagt, dass ich 120 Jahre alt werden will.
Was? – Nein, wart jetzt. Ich habe gesagt, dass ich 120 Jahre alt werde. Das ist doch ein Unterschied!
Wie ich das mache? Na ja, ein Mal im Tag den Puls hochjagen lassen, gesunde Nahrung, keinen Stress, viel Ruhe, Wasser, sich bewegen, draussen in der Natur, dann reiten und –
Wie? Ja, das schon, das hast du gut in Erinnerung.
Aber nochmals: Du musst mich verwechseln! Wirklich. Ich war das nicht. – Also ich bin das nicht. Wirklich.
Das muss jemand erfunden haben.
Das mache ich doch nicht.
Als Schutz?!
Nein!
Schreib, mein Leben begann mit dem Tod. Schreib, der Tod hat meine Familie ausgelöscht, bevor ich fähig war, selber für mich zu sorgen. Schreib, dass nur der Vater übrigblieb. Er hat mich missbraucht. Jeden Tag.
Hast du das? Gut.
Schreib, dass er mich in ein Kinderheim einweisen liess. Ich wollte halt nicht mehr alles ruhig über mich ergehen lassen. Nicht mehr jeden Tag leiden. Nein, ich weiss nicht, wie das gegangen ist, dass er mich einfach einweisen konnte. Er musste auf jeden Fall erst später ins Gefängnis. Das habe ich dann noch gehört, irgendwo. Also frag nicht.
Schreib, dass das Kinderheim wegen schlechter Führung einige Jahre später geschlossen wurde. Wir Kinder haben dazu nichts mehr gesagt. Es war ja doch alles geschehen. Und die Tränen konnte man nicht mehr wieder reinpressen. Aber immerhin leidet jetzt dort niemand mehr.
Vom Kinderheim kam ich in ein Töchterheim in Zürich. Das war eine Art Ersatzfamilie. Dort lernte ich, wie man Heroin zubereitet und wie man es einnimmt. Und glitt eben in eine Sucht ab. Wie das halt so kommt. Du weisst, wie das ist.
Ne, vermutlich weisst du es nicht, entschuldige.
Im Töchterheim ging es also einige Zeit ganz gut. Ich lernte ein bisschen was, hatte Kameradinnen, die mir auch mal zuhörten, und fiel nach aussen nicht gross auf. Damals liefen ja fast alle mit gefärbten Haaren rum und überhaupt.
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