4. Kapitel
And hear you not the thrushes calling,
Calling us away?
O Cool Is The Valley Now– James Joyce
Crys
Die Wolken rollen über den nachtschwarzen See wie ein unheilvolles Omen, das für mich bereits zu spät kommt. Ich habe mich bereits seit einiger Zeit gefragt, wann es so weit sein wird. Wann sie mich dazu zwingen werden, meine Gabe einzusetzen.
»Wieso ich?« Mein Atem beschlägt die Scheibe. Die steinernen Wände der Abtei, die einem Teil des russischen Militärs als Unterschlupf in Irland dient, halten die Wärme nur schwer in den Räumen. Mich fröstelt, und ich ziehe mir meine Strickjacke enger um die Schultern.
»Weil du etwas kannst, das sonst niemand kann.« Michails Stimme ist genauso dunkel wie die von Cam. Jedes Mal, wenn ich mit ihm spreche, würde ich mir am liebsten die Ohren zuhalten. Der Schmerz in mir ist zu groß und die Last auf meinen Schultern ebenso. Ich soll einen Krieg für Russland gewinnen? Dass Michail das überhaupt noch ansatzweise erwägt, müsste mich eigentlich in schallendes Gelächter ausbrechen lassen.
Nach außen hin bleibe ich ruhig. Denn meine Emotionen haben mich erst an diesen Punkt gebracht. Der Wunsch nach mehr als einem Verrotten in der Anstalt. Das tiefe Band zu meiner Schwester. Die Liebe zu Cam. Gefühle zu zeigen bringt mich nur in Schwierigkeiten. Und obwohl Michail der Vater von Cam, Riley und Liam ist, traue ich ihm nicht über den Weg. Bis jetzt haben weder er noch Cynthia mich in irgendeiner Form schlecht behandelt, genauso wenig wie die Handvoll von Vertrauten, die in diese Operation eingeweiht sind. Doch ich wusste, sie würden Forderungen an mich stellen, irgendwann. Wieso hätten sie sonst diese hohe Summe für mich bezahlt? Sicher nicht, um mir aus Nettigkeit die Freiheit zu schenken.
»Ich habe keine Wahl, nehme ich an.« Mit einem tiefen Seufzen drehe ich mich endlich zu Michail um, der zusammen mit Sergej an dem riesigen Esstisch aus Mahagoni sitzt. Vor ihnen sind Pläne von Dublin ausgebreitet, auf denen rote Kreuze und Pfeile eingezeichnet sind.
»In diesen Zeiten hat niemand eine Wahl, Crystal.«
In Gedanken korrigiere ich ihn.
Michails Stirn liegt in Falten, während er die Hände auf der Tischplatte verschränkt. »Wir müssen einen Feind nach dem anderen ausschalten. Und wenn wir Irland haben, stehen wir kurz vor dem Sieg. Hier hat der Krieg begonnen, und hier wird er auch enden. Verstehst du das? Eine Schlacht um die andere. Einen Sieg um den anderen. Schlacht und Sieg. Das ist unser Leitsatz, der uns hilft, nicht unterzugehen.«
Sergej bleibt wie immer stumm. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass er unsere Sprache nicht versteht oder ob er einfach nichts zu sagen hat. Hätte ich die Wahl, würde ich wohl auch den Mund halten.
Als ich nichts erwidere, fährt Michail fort: »Die Irish Army plant etwas Großes. Sie haben unseren Informanten umgebracht, bevor er irgendetwas Nützliches an mich weiterleiten konnte. Er ist spurlos verschwunden, Gott weiß wo sie seine Leiche verscharrt haben.« Er reibt sich über das Gesicht. »Wir müssen erfahren, was vor sich geht. Wenn wir ihnen zuvorkommen, können wir vielleicht dazu beitragen, dass der Krieg endet.«
Und dass Russland gewinnt, setze ich in Gedanken hinzu. »Ich bin nicht die Richtige, um diesen Krieg zu beenden. Es gibt tausende von Soldaten, die dafür besser qualifiziert wären.« Nur mal, um das Offensichtliche laut auszusprechen. Mir fehlt Kampferfahrung. Und Mut obendrein. Wieso will er mich also allein losschicken? Ich bin kein Spion, wurde nie vom Requiem ausgebildet.
Ich verschränke die Arme und nehme einen tiefen Atemzug. Eigentlich verlange ich nicht viel vom Leben. Ich will nur in Ruhe gelassen werden und, wenn ich ehrlich mit mir selbst bin, meine Wunden lecken. Den Schmerz verarbeiten, den ich über all die Jahre erfahren und zugefügt habe. Um ihm zuvorzukommen, um vielleicht irgendwie ein Stück von mir zu retten.
Doch als sich Michail an die mit rotem Stoff gepolsterte Rückenlehne lehnt, weiß ich, dass Widerspruch zwecklos ist. Das russische Militär hat sein Vorgehen schon festgelegt, und ich bin fixer Bestandteil des Plans. Wie lange wird es wohl dauern, bis er mir einen direkten Befehl erteilt, dem ich nicht widersprechen kann? Robert hat mir meinen freien Willen geraubt, und auch wenn ich mich jetzt der Illusion hingeben kann, dass es nicht so ist, dass ich über mich selbst bestimmen kann, ist es bloß eine Frage der Zeit. Vielleicht sind es nur mehr Stunden. Tage. Vielleicht Wochen - bis Michail mir sagt, was ich zu tun habe. Er wird es mit einer Bestimmtheit in der Stimme befehlen, wie sie auch gerade in seinem Blick liegt, als er mich betrachtet, und ich werde mich nicht wehren können.
Die dunkelgrüne Uniform lässt das Braun seiner Augen leuchten. »Die Irish Army darfst du dir nicht als eine Armee im großen Sinne vorstellen. Sie sind eine kleine Gruppe von Terroristen, gut organisiert, eng miteinander verbunden. Wir haben Männer von uns dahin geschickt. Viele. Doch immer wenn wir dort waren, waren unsere Ziele wie vom Erdboden verschluckt. Ein Mann von uns hat wochenlang in einer der Einrichtungen darauf gewartet, jemanden zu Gesicht zu bekommen. Nur ein Mann von uns war dort.« Er hält den Finger in die Höhe. »Einem von uns haben sie sich gezeigt, dann ist sofort der Kontakt zu ihm abgebrochen. Das war ihre Botschaft an uns.«
Ich schlucke. »Und wie soll ich, wenn der Soldat …«
»Du bist stärker. Deine Gabe kann Schaden anrichten. Und sie kennen dich nicht, du bist in keiner militärischen Datenbank. O’Leary hat mir versichert, dass sämtliche Daten aus der Anstalt zu deiner Person vernichtet wurden. Du existierst nicht mehr. In den nächsten drei Tagen wird man dich auf den Einsatz vorbereiten und dich anschließend nach Dublin bringen, an einen sicheren Ort, von dem aus du agieren wirst. Wir werden ein Auge auf dich haben. Dir soll nichts passieren.«
»Ich bin nicht die Richtige.«
»Du wirst uns in dieser Sache helfen. Du wirst die Informationen beschaffen.«
Da ist er, der Befehl. Irgendein Schalter legt sich um, und obwohl der Protest schon von meiner Zungenspitze springen will, fällt er wie gelähmt zusammen, bis ich die Worte runterschlucke. Ich versuche es noch einmal, ein klares Nein in Gedanken. Mein Mund öffnet sich, doch kein Wort dringt heraus.
»Das ist dann alles.« Als Michail mich entlässt, gehe ich ohne ein weiteres Wort aus dem Raum. Die Stufen ins Erdgeschoss. Vorbei an den wachsamen Augen einiger Soldaten einfach zur Tür hinaus.
Ich bin dankbar, dass sie mich lassen. Erst als ich draußen im Regen stehe und mein Gesicht zum Nachthimmel strecke, kann ich wieder ruhiger atmen. Die Tropfen auf meiner Haut waschen für einen wundervollen Moment jede Schuld von mir. Nehmen die Pein mit sich, als sie über mein Haar gleiten wie ein liebevolles Streicheln.
Ich will schreien, doch nicht einmal das geht. Der Widerwille ist in mir eingesperrt. In meinen Fingern, die meine Haare raufen wollen, aber nicht können. In den Beinen, die rennen wollen, um zu sehen, wie weit ich komme. Aber mein Körper ist gelähmt, mir entrissen, während mein Geist fast an seiner Wut erstickt. Dabei glauben sie, es ist Angst. Angst, die mich vor ihrem Auftrag zurückschrecken lässt. Aber nicht die Irish Army wirft ihre langen Schatten voraus, sondern ich.
Diese Dunkelheit in mir … Sie ist unheimlich, weil ich sie nicht einschätzen kann. Ist da noch irgendetwas von Crys übrig?
Nein. Ich habe keine Angst vor dem Krieg, nicht mehr.
Was ich fürchte, bin ich selbst.
Ace
Ich träume oft von Crys. Außer heute. Heute liege ich wach, und obwohl es fast schon Mitternacht ist, genieße ich die Ruhe in meinem Körper. Die Schmerzfreiheit, wenn meine Zellen sich zumindest für ein paar Stunden schlafen legen, damit sie am Tag darauf wieder gegen die Leukämie kämpfen können. Auch wenn mich Violets Wärme in meinem Bett beruhigt, bin ich froh, allein zu sein.
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