1 ...6 7 8 10 11 12 ...20 Er entschied sich so schnell, dass Zweifel und Gewissenhaftigkeit keine Zeit hatten, ihre Argumente vorzutragen. Er schnappte sich seine gefütterte Jeansjacke, steckte die Autoschlüssel ein und ging nach kurzem Zögern an das Bargeld, das er in einer Blechkiste mit doppelseitigem Klebeband an die Unterseite seines Schranks gepappt hatte.
Zwei Minuten später fuhr er vom Hof. Das Verdeck des Spitfire war offen, obwohl es erst Ende August war. Phoenix ärgerte sich jetzt schon über das verschwendete Benzin, aber er trat dennoch das Gaspedal durch und schoss mit quietschenden Reifen davon.
***
Der Wind peitschte über das Wasser und trieb es über die übliche Uferlinie hinaus ins Naturschutzgebiet. An manchen Stellen waren die Wege überschwemmt und unter dem ständigen Angriff der Feuchtigkeit matschig geworden.
Phoenix war nicht weit gekommen. Sein erster Impuls war gewesen, nach Melbourne in die City zu fahren, vielleicht zu den Docklands, dorthin, wo das Leben tobte. Aber dann hatte er sich umentschieden. Ihm war nicht danach, vom Riesenrad aus über die Stadt zu blicken oder den Pinguinen bei St. Kilda dabei zuzusehen, wie sie an Land gewatschelt kamen. Also war er noch vor Williamstown rechts abgebogen und befand sich nun westlich der Stadt; dort, wo man Fauna und Flora etwas Platz zur Entfaltung gelassen hatte.
Es war eine gute Entscheidung gewesen. Phoenix sah die fernen Lichter von Williamstown und wusste, dass sich dahinter ein paar der beliebtesten Strandabschnitte Melbournes verbargen. Aber ihm war nicht nach Menschen zumute. Die wenigen Spaziergänger und Jogger, mit denen er sich die Dämmerung im Naturschutzgebiet teilte, reichten ihm.
Der Südwind strich ihm über die glatt rasierte Wange. Die Brise vom Meer war bissig, aber nicht angriffslustig, und sie schmeckte bereits nach dem kommenden Frühling. Phoenix nahm sich vor, an einem der ersten warmen Abende hierher zurückzukommen, aufs Wasser zu blicken, vielleicht ein Eis zu essen und den Wandel willkommen zu heißen.
Es war falsch zu glauben, dass der Frühling stets etwas Neues mit sich brachte, dass aller Kummer und alle Sorgen vom übersprudelnden Erwachen der Natur fortgespült wurden. Schon Lady Macbeth hatte feststellen müssen, dass man Blut nicht abwaschen konnte.
Aber Phoenix hatte jedes Mal das Gefühl, dass der Frühling etwas mit ihm anstellte, ihn mit neuer Energie versorgte und ihm zuraunte, dass jetzt, genau jetzt der rechte Zeitpunkt sei, um etwas zu bewegen. Hoffentlich würde er dieses Jahr seine geflüsterten Versprechen halten. Es musste sich dringend etwas tun. Phoenix musste sich bewegen.
Fröstelnd stellte er den Kragen seiner Jacke auf und zog den Kopf zwischen die Schultern. So schön das Naturschutzgebiet mit seinen Freiflächen, dem niedrigen Uferbewuchs und dem allgegenwärtigen Plätschern der Wellen war, Phoenix war für einen längeren Spaziergang nicht richtig angezogen.
Er verbuchte seinen Ausflug dennoch als Erfolg. Immerhin kannte er nun nicht nur die Werkstatt, einen Supermarkt und einen Friseur in seiner neuen Wahlheimat, sondern auch einen Ort, an dem man in der Sonne sitzen oder ein bisschen laufen konnte, falls er sich dazu aufraffen konnte.
Auf dem Rückweg zu der Straße, an der er sein Auto geparkt hatte, kam Phoenix ein Pärchen entgegen. Sie hielten sich an den Händen, schienen sich jedoch zu streiten oder wenigstens zu kabbeln. Drei knöchelhohe Winzhunde tobten vor ihnen her und jedes Mal, wenn der junge Mann versuchte sie zurückzurufen, belehrte seine Freundin oder Frau ihn, dass die Hunde ihm nie gehorchen würden, wenn sein Tonfall eine höfliche Bitte statt eines Befehls ausdrückte.
Irgendetwas an dieser Debatte begleitete Phoenix zurück zum Wagen, hallte in seinem Hinterkopf wider, während er über die Beifahrertür hinweg das Handschuhfach öffnete und eine Zigarettenschachtel hervorholte. Er wusste weder, wie alt die Packung war, noch warum er auf einmal das Bedürfnis hatte zu rauchen.
Als er mit der Zigarette zwischen den Lippen an der Tür lehnte und den ersten Zug nahm, hatte er zumindest eine Antwort: Die Packung musste steinalt sein, da die Zigaretten eher nach Handschuhfach als nach Tabak schmeckten, und seine Lunge verpasste ihm ob des ungewohnten Rauchs das Äquivalent zu einem Schlag auf den Hinterkopf. Phoenix hustete, rang nach Atem und trat die Zigarette ebenso schnell aus, wie er sie angezündet hatte.
Nein, das war nicht der richtige Weg, um sich besser zu fühlen. Essen war derzeit auch kein Heilsbringer, da sein Magen nach wie vor Zicken machte, Alkohol kam aus denselben Gründen nicht infrage. Zigaretten hatten sich ebenfalls erledigt und von Drogen hielt er nichts. Selbst wenn, hätte er sich derzeit davon ferngehalten. Es gab wohl kaum einen schlechteren Zeitpunkt, um Kokain oder Amphetaminen zu verfallen, als wenn man vergessen wollte.
Was blieb, war… Sex.
Guter, hemmungsloser Sex mit jemandem, der mithalten konnte. Mit jemandem, der sich ihm entgegenwarf. Mit und für ihn lachte und stöhnte. Jemand, der ihn vergessen ließ.
Für einen verrückten Moment wollte Phoenix nach dem Handy greifen und Kyle oder Paxton anrufen. Er hatte sich in den letzten Jahren regelmäßig mit ihnen getroffen, um Dampf abzulassen. Manchmal auch mit beiden auf einmal. Bodenständige Jungs Ende zwanzig, Anfang dreißig, die über die Probierphase hinaus waren und genau wussten, was und wen sie wollten. Und manchmal war es eben Phoenix gewesen, den sie in ihrem Bett haben wollten.
Es war für alle eine gute Lösung gewesen. Für Kyle, weil er neben seiner offenen Beziehung Auslauf bekam, ohne sich und seinen Freund durch allzu viele Partnerwechsel zu gefährden. Für Paxton, weil er nach einer anstrengenden Schicht im Krankenhaus immer wusste, wen er anrufen konnte, um sich gründlich durchvögeln zu lassen. Und für Phoenix, weil niemand Erwartungen an ihn stellte, die über ein gemeinsames Wochenende und ein offenes Ohr bei Sorgen hinausgingen.
Er hatte nichts gegen Beziehungen. Tatsächlich hielt er sogar sehr viel von ihnen. Nur war er überzeugt, dass eine Beziehung Zeit und Aufmerksamkeit brauchte und man es sich und seinem Partner schuldig war, sein Bestes zu geben. Phoenix' Bestes hatte jedoch jahrelang Webber's Workplaces gehört. Die Firma war eine gierige Geliebte gewesen, die ihn bis aufs Mark ausgesaugt hatte. Wahrscheinlich hätten seine ehemaligen Angestellten sich totgelacht, wenn er sich entsprechend geäußert hätte, aber er war nicht bereit, jemandem mit einem Du, es tut mir leid. Ich glaube, wir wären ein tolles Paar, aber ich habe einfach keine Zeit für dich das Herz zu brechen.
Nun hatte er Zeit. Und so viel Aufmerksamkeit zu verschenken wie nie zuvor. Darüber hinaus hatte er jedoch nicht mehr viel zu bieten.
Also belassen wir es bei Sex. Bei Sex und… etwas anderem.
Es lag Phoenix auf der gedanklichen Zunge, aber er konnte es nicht formulieren. Alte Sehnsüchte, Vorstellungen, mit denen er bisher nur gespielt hatte, wenn er allein war. Auch etwas, das einen gewissen Einsatz forderte und aus denselben Gründen zurückgestellt worden war wie die Suche nach einem Lebensgefährten.
In Gedanken sah er Paxton vor sich, wie er auf dem Bett kniete, der feste, leuchtend weiße Hintern hoch erhoben, der flehentliche Blick über die Schulter, der sagte: »Nimm mich heute Abend auseinander, Phoenix. Ich kann erst schlafen, wenn du mir den Verstand geraubt hast. Lass mich vergessen, was ich heute im OP gesehen habe. Kümmer dich um mich.«
Phoenix hatte es genossen und gewusst, dass er seinen Job gut gemacht hatte, wenn Paxton anschließend in seiner Armbeuge gelegen und selig geschnarcht hatte. Am nächsten Morgen hatte er sich jedes Mal halb verlegen, halb verschmitzt bedankt. Phoenix hatte das immer für überflüssig gehalten. Er hatte nichts geleistet oder verschenkt, sich nicht geopfert, sondern Paxtons Hingabe und Vertrauen geliebt – und hatte die Nase für den Rest des Tages noch ein wenig höher getragen als sonst.
Читать дальше