Der Lagerhalter aber, Angestellter der Brüderschaft, schob die Verfehlung allein auf Dirik, der ihm eines Abends eine schriftliche Anweisung vom Domkapitel vorgezeigt habe. Gelesen habe er sie nicht, er könne auch nur seine eigenen Ziffern und Krähenfüße lesen, aber er habe keinen Grund gesehen, Dirik zu mißtrauen, obwohl der Buckel ihn hätte vorsichtig stimmen sollen, der leichtlich das geheime Gemach irgendwelcher Gefährlichkeit sein kann, wie man wohl zu sagen pflegt. Er habe sich auf die Unterschrift verlassen. Dirik hatte aber einfältig einen Zettel hingehalten, den er zu Hause hatte umherliegen sehen und der nichts war als eine Aufforderung an Sebalda — noch von dem alten Propst her und ihr derzeit von einem der Domschüler überbracht — sich zu einer Abschrift einzufinden. Eine Entzifferung war zwar Dirik auch nicht gegeben, aber er wußte um den Inhalt, denn derzeit war Sebalda noch mitteilsam gewesen. Unverkennbar jedenfalls daran war das Sigili der Kurie, welches dem Namen unterfügt war und das niemandem unbekannt sein konnte, auch dem Lagerhalter nicht. Und der hatte im Frühling sodann die Rechnung für drei Klafter Bauholz verschiedener Stärken ins Stift geschickt und eine verwunderte Rückfrage erhalten.
Dirik stand ungeschlacht vor den Älterleuten, deren einige schon im Winter Verdacht gesponnen hatten, es aber bis zur Ostersitzung auf geschoben; denn es lief ja nicht weg. Der Sünder verteidigte sich nicht auf ihre kopfschüttelnden Vorwürfe, er sah verdrossen zu Boden, er, der immer noch Knecht war auf der Werft trotz der langen Jahre ausgezeichneter Erfüllung seiner Pflicht und trotz seiner unzweifelhaften Tüchtigkeit. Und das war wohl die Ursache, daß er sich sein bißchen Aufwand erschwindelt hatte, diese Aussichtslosigkeit in seinem Alter. Er war ein Opfer des Unglücks, dem sein Vater erlegen war. Sein Vater hatte hoch hinaus gewollt, ein Adler mit Taubenflügeln, dessen Sturz selbst mit dem Tode noch nicht beendet schien, so daß sein Sohn noch für ihn weiter hinab mußte in die unersättlichen unübersehbaren Abgründe der geheimnisvollen Unerbittlichkeit, die sich Schicksal nennt. Man hatte ihn, Dirik, nicht zum Meister, nicht einmal zum Altgesellen ernennen mögen; man war zwar nie prüde in Hamburg, wenn persönliche Werte gegen allgemeine Gesetze abzuwiegen waren, aber des Menschen sündenumlauertes Dasein, das noch wenig Leidenschaften, diese aber desto heftiger kannte, brauchte derzeit strenge Fügungen, um das Leben in der Gemeinschaft erträglich zu erhalten. Wohin sollte es hinaussprießen, wenn man Söhnen von Verbrechern oder von zumindest gefänglich und sogar ohne Reue und Absolution Verstorbenen zu Ämtern und Ehren verhelfen würde? Es mußte schon als Ausnahme und pure Barmherzigkeit gelten, wenn man solch Nachfahren eines zumindest unzweifelhaften Dauergastes des Fegefeuers das bloße Brot gönnte, und nur Diriks bislang tadellose Haltung und eine unausgesprochene Spur menschlichen Verständnisses bei den Behörden hatten seinen Aufenthalt in der Freien und Hansestadt erduldbar gemacht. Und siehe da, hier schien die Vorsicht wieder einmal zu Recht bestätigt. Nun hatte alle Nachsicht zu schweigen. Denn eine angeblich vorbedachte und auch schon angebotene Abarbeitung des unter betrügerischen Umständen entwendeten Holzes stand jetzt schon gar nicht mehr zu Erörterung, zumal nicht für den Anstifter selber. Betreffs des Sohnes wollte man annehmen, daß er nur in gutem Glauben und kindlichem Gehorsam zu unbewußter Mittäterschaft gediehen sei, und ihm denn, Lambert, solle füglich gestattet werden, den leidigen Anlaß durch Fleiß und Tadellosigkeit zu tilgen.
Dirik Abdena aber hatte die Stadt innerhalb zweier Sonnenuntergänge und bis zum Angelusläuten zu verlassen.
Nach Diriks Verschwinden schienen viele Jahre in völliger Ereignislosigkeit hinzugehen, so war es Sebalda nachträglich. Sie hatte wohl in flüchtiger Aufwallung hervorgestoßen, sie wolle ihr armes Bündel gleichfalls schnüren, und Dirik hatte sogar den Mund deswegen verzogen und zum erstenmal mehr von seiner verkapselten und verwundbaren Seele gezeigt, indem er aussah, als sei er ein Kind, das aus tiefem Schlaf geweckt wird und nicht weiß, ob es lachen oder weinen soll. Er hatte die Nacht wie sonst in der Kammer geschlafen, wo auch Lambert schlief, und den guten Geruch des frischen Holzes geatmet, der noch immer und bei steigender Sonne wohl noch lange die Wohnung füllte und sich mit dem des Farböls mischte, das er an den Fenstern und an den Außenwänden gegen das Eindringen der Nässe verwandt hatte und über dessen Herkunft glücklicherweise nichts bekannt geworden war. Er hatte es einfach bei den Malern gestohlen. Und sonderbar, er bereute es nicht, er freute sich noch diese letzte Nacht in seinem mageren Bette diebisch darüber, nicht so sehr der gelungenen Tat, sondern daß Lambert nicht auch noch dafür gerupft werde. Und nur dieser Umstand, daß Dirik selber wenig mehr als Mühe davon gehabt, mildert seine Verworfenheit, die denn im Himmel vielleicht als verborgene Anhänglichkeit an die, die er liebte, gewertet werden mag, wenn eben Liebe wirklich das ist, was so oft bloß nachgeredet wird, nämlich das Größte.
Den anderen Mittag, kaum daß er noch Sebaldas große Speckpfannkuchen nebst Sauerkraut in aufgeräumterer Art denn je gewürdigt hatte, wurde Dirik vom Fronvogt abgeholt, der ihn vors Tor zu geleiten hatte. Da blickte er sich noch einmal verkniffen schätzend und geradezu schmunzelnd in den Räumen um, lobte die Arbeit, schlug dem Sohne auf die Schulter, bedauerte, daß er nun vorerst um den brav verdienten Gesellenlohn geprellt werde, und empfahl ihm, dennoch bald die gewünschten Vorhänge für die Mutter zu beschaffen. Dirik war es gegönnt worden, daß er sein Handwerkszeug mit in die Fremde nehmen dürfe, so daß Sebalda sein Bündel zünftig schnüren konnte, indem sie die Habseligkeiten, die sie für nötig befand — obgleich er nur mit der Axt von dannen wollte — um den Axtstiel und das Richtscheit rollte und anordnete: sein verschlissenes Sonntagswams, in Eile noch einmal gesäubert und nachgesehen, ein paar leichtere Schuhe, ein Bettlaken, etwas Unterwäsche, ein paar Filzsocken, auch Brot und Käse und — heimlich — den Rosenkranz aus Korallen mit dem schwarzen Kreuz. Es sah aus wie eine Art Liktorenbündel, darüber sie zu gutem Halt das rote wollene Halstuch schlang, das noch von Lamberts Kinderzeit da war. An den Wulstenden verknotete sie es fest und dennoch unschwer lösbar mit einer derben Hanfschnur, von dem unerschöpflichen Speicherlager hergeliehen, und es wurde zugleich ein Tragriemen, der um die Schulter reichte. Auch die Wasserflasche, die seine tägliche Begleiterin zur Werft gewesen, fand Platz daran, von Lambert noch einmal mit der klaren Frische aus der Feldbrunnenleitung Ecke Cremon gefüllt. Zuguterletzt brachte noch ein Nachbar voll neugierigen Mitgefühls und gleichsam als Eintrittsgeld für die hart betroffene Stube einen derben Knotenstock, der einem seiner Vorfahren als Hirtenzeichen und Hundeschreck gedient hatte und unnütz im Winkel faulenzte.
Somit war Dirik fertig für die Wanderschaft, die keine Rückkehr haben durfte in diese Stadt. An der Schluchzenden vorbei mit einem kurzen Blick auf das trübe dahinsickemde Fleet murmelte er etwas von dem zu früh weggeworfenen Muschelhorn und ging, ohne ihr die Hand zu reichen, denn dann wäre ihm wohl allzuschwer geworden, so rasch wieder loszulassen, das sah man ihm an, wie er nun vor dem Fronknecht auf die Stiege trat und der Schädel ihm starr wie ein Pfropfen in die Schultern geschlagen schien, und er ins Dunkel tauchte und — schon meinend, es sähe keiner mehr — sich mit geballter Faust hart übers Gesicht wischte.
Sebalda entsann sich dieser Bewegung lange. Es hatte ausgesehen, als reiße er mit Gewalt alles zunichte, was ihm an Gewesenem allhier und je vor Augen gestanden hatte. Und sie bog sich daraus ihre Entschuldigung zurecht und gleich für Lambert mit, daß sie beide wie angewurzelt zurückgeblieben seien in der hübschen Wohnung, für die er nun ins Elend ging; sie warf sich innerst auf, daß er alles vorbedacht habe, um ja auf zwangsläufige Weise endlich von ihr wegzukommen, und stand nicht an, es ihm bitter übelzunehmen, daß die Leute aufs neue Stoff zu hämischen Bemerkungen hatten und sie sich kaum mehr auf die Straße wage. Sie war ihn los, Dirik, den buckligen Brummerjahn, der erst fröhlich wurde, als er ging, und die Nachbarweiber hatten manchen Tag noch über einen Ausspruch gelacht, den die schielige Dürten Brackebüdel tiefsinnig hinter ihm her gezetert hatte: Den hätten sie auch lieber geköpft oder gehenkt, wenn er man bloß einen Hals hätte! Und Sebalda hätte so gern schon das Recht der Witwen auf einen untadeligen Nachruf für den Abgeschiedenen beansprucht.
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