Somit trank Lambert kaum länger als zwei Jahre von den Vorquellen der Wissenschaft, die seine Mutter ihm durch persönliche Fürbitte — und da sie beim Domkapitel in guter Erinnerung stand — so kostenlos eröffnet hatte. Dann begann er den Unterricht zu schwänsen, bekam Hiebe und blieb ganz weg. Er trieb sich während der Schulzeit am Hafen und auf den Schiffen umher und vermochte zu Hause mehrere Wochen lang harmlos zu tun, als sei alles in Ordnung und er der Fleißigsten einer unter dem hohen Marienturme. Bis denn sein Vater ihn am Hafen schnappte auf einem Schiff, das frisch von der Werft gekommen war und an der Takelung den letzten Trimm erfahren sollte. Da saß der Bengel Lambert oben in der Saling des Großmastes und hielt einen der Bootsleute in der Arbeit auf, indem er ihm die Geschichte von seinem gewaltigen Großvater Imel Abdena erzählte und eine Menge dazu erfand, zum Beispiel, daß der Alte keineswegs selber im Teufelsturm gesessen, sondern einer seiner Knechte, der ihn befreit und sich dann mit seinem Barte für ihn dahin gesetzt; denn so treue Knechte habe sein Großvater viele gehabt. Und keiner habe den Umtausch gemerkt, selbst Ratsherr Prigge nicht. Und wo er jetzt sich aufhalte, Imel? Herzog Imel? Oder vielleicht schon König Imel? In Indien natürlich, woher sie das Muschelhorn hätten, und man könnte jeden Tag damit rechnen, daß Kaiser Imel unverhofft angesegelt käme und Rache nehmen würde bei gewissen Leuten. Er würde aber auch allerhand Gutes mitbringen, Rosinen und Messer und Stiefel und silberne Rüstungen, auch Pferde und echte Mohren und Papageien und Hammelbraten und eine Kerze für den Dom dick wie der Mast, aber länger.
Dirik pfiff sich den Märchenerzähler auf Deck herunter und verabreichte ihm eine Ohrfeige, die merkwürdig gelinde ausfiel. Denn Dirik hatte vor der Schule wohl insgeheim eine abergläubische Hochachtung, und wäre sein Sohn nur etwas mehr äußerlich der seine gewesen, so hätte der väterliche Stolz wohl verletzter sich gezeigt als jetzt. — Dir wäre wohl erst richtig, wenn das Kind einen Buckel hätte wie du! So hatte Sebalda geschrien, als er sie damals schlug. — Aber dieser dünne Flaps, der schon jetzt aussah wie ein hungriger Magister, sollte nicht eines Tages von oben auf den anders gearteten Erzeuger herabblicken. Und somit nahm er den Jungen von da ab mit zur Werft und erwarb das Einverständnis des Oldermannes entgegen der wohlwollenden Meinung der Domherren und entgegen Sebaldas Meinung, aber mit Zustimmung dessen, der eine höhere Laufbahn damit für immer ablehnte.
Und sonderbar, in der harten Arbeit auf Spantenplatz und Helling veränderte sich Lamberts Schmachtigkeit in kurzer Zeit. Er wuchs in die Breite und wurde sturnackig und schwerfüßig und seinem Vater ähnlich mit dem Unterschied, daß der einen Buckel, flachsige Borstenhaare und zudem einen Zimmermannsbart trug, der aus Hobelspänen hergestellt schien.
Es hätte nun Sebaldas Triumph sein können zu sagen: Siehst du allmählich ein, daß es nichts als dein Sohn ist? Aber Dirik merkte es selber, welch unnützen Lärm er vollführt hatte, und wurde nur noch verdrossener und schweigsamer deswegen. Sebalda hatte nichts mehr, daran sie sich begeisternd entzünden konnte. Sie hatte zwei klobige Bären zu füttern, die gerade soviel ins Haus brachten, um dort wohnen zu bleiben, wo man schon so lange gewohnt. Immerhin hatten die beiden eines Wintertages, als die Arbeit auf dem Brook wegen des Frostes und mangelnder Aufträge zu ruhen begann, Balken und Bretter zum Dachboden heraufgeschleppt und schweigend und gemessen den Raum mit schabenden knirschenden und krachenden Geräuschen erfüllt, so daß selbst Sebaldas Haare einen blonden Schimmer bekamen vom Staub des klingend trockenen Föhrenholzes und der Haferbrei nach Sägemehl schmeckte.
Sie zogen Wände und setzten Türen ein, wodurch drei getrennte Räume entstanden, das heimliche Gemach, das nach außen über das Fleet hing, ungerechnet, das hatte Dirik schon gleich nebst dem offenen Herd beim Einzug eingefügt, da der Speicherboden beim Bau Zum Wohnen nicht geplant gewesen.
Seitdem hatte Sebalda eine richtige Kammer für sich, und auch die Küche war für sich, und die beiden Männer hausten zusammen auf der andern Seite der Küche auch in einem abgeschlossenen Raum. Sebalda gedachte da ihres Rosenkranzes, kramte die Perlen hervor und zog sie auf eine neue Schnur, die sie, wie alles Bindgarn zum Hausgebrauch, eine Treppe tiefer aus dem unerschöpflichen Lager zupfte, und sie betete auch gleich in alter Andacht, die sie so lange vernachlässigt hatte, indem sie einen eigenen und minder schönen Rosenkranz gleichsam als eine heimliche Anklage gegen das höchste Gut und in lauer Gewohnheit gebraucht hatte. Nun wurde der alte unbenutzbar gemacht, da er einige seiner Holzperlen herleihen mußte für die Korallentropfen, die derzeit zuschanden gekommen waren. Sie wollte nicht mehr daran denken. Das Geräusch der Tischlerei hatte sie oft genug in diesen Tagen an die zerberstenden kleinen Kugeln erinnert, von denen Propst Middelmann gemeint hatte, auch in ihnen hätten einst tief in der See kleine Lebewesen gehaust.
Da die Männer Zeit genug hatten in den flauen Wochen und das Holz das Jahr wohlfeil war, verschalten sie auch noch die morschen Dachsparren, doch erst, nachdem sie sowohl in Sebaldas wie ihrer Kammer je eine richtige Gaupe in die Pfannen gestoßen und fachmännisch gerichtet und bekleidet, so daß es je wie ein kleiner Sonderverschlag war, sie auch die gehörigen Fensterrahmen selber zuschnitten, verzargten, mit eisernen Winkelbändern versteiften und mit Angeln und Riegel versahen.
Sebalda war wirklich drauf und dran, sich für die beiden Zauberer neu zu erwärmen, und nur, daß es die Tage, da noch kein Glas beschafft war, um die Kälte abzuhalten, heftig zu schneien und hereinzublasen begann und die plötzlich entstandene schöne Aussicht auf die Spitzdächer bis nach Sankt Jakobi hin wieder mit Latten zugestellt werden mußte, dämpfte ihre Begeisterung, und auch, daß Dirik sich nur mürrisch das Kinn kratzte und an ihr vorbeisah, als sie sachte davon anfing, daß man nun wohl auch an ein paar Vorhänge denken müßte. O ja, er hatte ihre Verwunderung und Freude über die endliche Ausgestaltung des scheußlichen Loches, das ihr und ihm und Lambert so lange hatte zur Wohnung dienen müssen, heimlich und zutiefst eingesogen. Mochte daraus werden, was wollte. Aber an Vorhänge hatte er nicht gedacht. Vorhänge waren schwer zu beschaffen; denn Geld hatte er keins außer dem bißchen, was für Essen und Trinken draufging und für die Bittkerzen zu Imels fraglichem Seelenheil. Sebalda trug — zu seiner innersten Beschämung — auch noch immer dieselben Gewänder, die sie sich von der stillen Einkunft aus der Schreibarbeit am Dom erworben hatte. Für sich selber und Lambert übrigens besorgte Dirik das derbe Arbeitszeug bei seiner Brüderschaft, die für ihre Mitglieder ein Lager hielt, wo es jedoch nichts Feineres gab. Die Beträge gingen vom Lohn ab. Für best hatte er selber nichts als das alte fadenscheinige Wams, das noch aus Friesland stammte. Lambert aber, da er herangewachsen war, mußte sogar in einem sauber gebürsteten Werktagskittel zur Kirche; denn der hatte vorerst überhaupt keine bare Münze ausgezahlt erhalten; im Gegenteil, solange er Lehrling und Putzlaputz war, mußte sein Vater noch für ihn beisteuern, und die Gebühr der Aufnahme mußte auch abgedient werden.
Nach diesem Winter jedoch stand der erste klingende Löhnungstag für Lambert in Aussicht. Und da gerade kam es heraus, daß all das gute Holz, welches er so treuherzig mit in die Wohnung verbaut hatte, ohne Berechtigung vom Lagerplatz abgefahren worden sei. Gewiß, Dirik hatte im Herbst wohl den Oldermann deswegen gefragt, der aber hatte keine Möglichkeit gesehen, von dem knappen Verdienst Diriks und eben vor dem an Arbeit mageren Winter die Kosten einzustreichen.
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