Bjarni schaut nach vorn. Er wird langsam nervös. Nach seinen Berechnungen müßten sie jetzt Land vor dem Bug haben. Können Sie sich geirrt haben und zu weit hinaus geraten sein oder haben sie die nächste Insel bei Nacht vielleicht unbemerkt passiert?
Eine Sturzwelle schlägt backbords über den Bug. Der Rudergänger umklammert die Ruderpinne, um das Schiff auf geradem Kurs zu halten. Er hat das schon oft gemacht und damit keine Probleme. Auch das Steuerruder ist aus Eichenholz, es ist in einem konischen Block angebracht, der seinerseits am Schiffsrumpf befestigt ist. Durch den Block zieht sich ein Tau – und das wiederum ist auf der Innenseite verankert und hält das Steuerruder vor dem Block fest. An der Reling wird das Steuerruder außerdem durch einen Lederriemen gehalten. Nichts ist dem Zufall überlassen worden.
Der Wind wird stärker. Der Mast ächzt, hält aber stand. Er ruht solide auf der »Alten«, einem festen Eichenblock, der auf den Spanten am Kiel befestigt ist. Außerdem wird er vom »Mastfisch« gestützt, einem Eichenblock, dessen Aussehen seinem Namen entspricht. Er liegt auf den Querbalken und hat in der Mitte Löcher für den Mast.
Leif wird aus dem Schlaf gerissen, als Wasser in seinen Ledersack strömt. Er schüttelt einen Jungen, der neben ihm schläft, und bittet ihn, nachzusehen, ob alle Ruderlöcher dicht sind. Leif folgt ihm mit Blicken, während der Junge die offenen Löcher mit kleinen runden Holzplatten verschließt. Dann schläft er wieder ein.
Als er erwacht, sieht er im Süden Land. Sein Magen knurrt, aber er mag nicht viel essen. Er hat Dörrfisch und Pökelfleisch satt und verzehrt deshalb nur zwei Bissen, die er mit Sauermilch hinunterspült. Er freut sich darauf, an Land zu kommen und Feuer zu machen. Vielleicht wird es an diesem Abend Rentierbraten geben.
Sie erreichen eine Insel, die nördlich des Landes liegt, auf das sie während der vergangenen Stunden zugehalten haben, und werfen Anker. Abermals freuen sie sich auf festen Boden unter den Füßen. Der Wind hat sich gelegt, die Sonne scheint und die Männer sind guter Laune. Einer läßt die Hand über das vom Tau feuchte Gras gleiten und steckt die Finger in den Mund. Etwas so Süßes hat er noch nie gekostet. Die anderen tun es ihm nach und sind ganz seiner Ansicht. Dieses Land, in dem der Tau wie Honig schmeckt, muß etwas ganz besonderes sein.
Aber sie müssen weiter. Hier draußen am offenen Meer gibt es keinen Schutz vor Wind und Wetter. Also segeln sie weiter und erreichen einen Sund, der zwischen der Insel und einer nach Norden zeigenden Landzunge liegt. Sie steuern einen Punkt im Westen dieser Landzunge an, doch hier ist das Wasser zu seicht, und sie bleiben ein gutes Stück vom Land entfernt im Sandboden stecken, obwohl die Knorre nur knapp einen Meter tief im Wasser liegt. Doch jetzt können sie einfach nicht mehr warten, bis die Flut das Schiff wieder flottmacht. Einer nach dem anderen springt über die Reling und läuft auf den Strand zu, wobei das Wasser wild ihre Beine umstiebt.
So weit das Auge reicht strecken sich grüne Wiesen dahin und im Fluß, der in das Meer mündet, wimmelt es nur so von Lachsen. Ein Junge hält stolz einen Fisch hoch. Den hat er mit bloßen Händen gefangen.
Sie sind am Ziel, sie haben das Land erreicht, von dem sie in langen Wintern auf Grönland geträumt haben: vor ihnen liegen Weideflächen mit saftigem Gras für das Vieh, endlose Wälder, Rentierherden, im Meer schwimmt Kabeljau und in den Flüssen Lachs. Hier können sie ein gutes Leben führen, ein viel besseres als in ihrer Heimat.
Sie warten die Flut ab, dann rudern sie zum Schiff hinaus und steuern es in den Fluß und dann weiter zu einem nicht weit vom Strand gelegenen See.
Jetzt folgt eine geschäftige Zeit. Es ist viel zu erledigen, ehe der Winter einsetzt. Zuerst bauen sie sich »Buden«, kleine Grashütten, danach machen sie sich an die Errichtung von wirklichen Häusern. Sie schneiden Grassoden aus, die acht bis zehn Zentimeter dick sind, und legen diese dann aufeinander. Die Wände sind solide, an die anderthalb Meter dick, und halten die Wärme sehr gut. Von festen Balken getragene Baumstämme bilden den Dachfirst, der mit den niedrigen Längswänden durch aus kleineren Baumstämmen gefertigte Querlieger verbunden ist. Das Dach wird mit Rinde isoliert, die dann wiederum mit Grassoden bedeckt wird.
Für das Vieh bauen sie eigene Ställe und legen sich Heuvorräte an. Jetzt kann der Frost kommen, sie sind darauf vorbereitet. Doch zu ihrer Überraschung bleibt er aus. Es ist ein milder Winter, das Gras welkt kaum und das Vieh kann weiter draußen weiden.
Als die Häuser fertig sind, sagt Leif: »Jetzt sollten wir die Mannschaft in zwei Gruppen teilen und dann das Land untersuchen. Die eine Gruppe bleibt hier bei den Häusern, die andere erforscht die Umgebung, darf sich aber nur so weit von der Siedlung entfernen, daß sie abends wieder zu Hause sein kann, und niemand darf tagsüber seine Gruppe verlassen.«
Leif findet es spannend, das neue Land zu erforschen, und wann immer er kann, schließt er sich den Wanderungen an den Stränden entlang und in die tiefen Wälder an. Er zieht gern zusammen mit dem »Türken« los, einem Südländer, den er seinen Pflegevater nennt, und der schon in Leifs Kinderjahren auf Brattahlið gewohnt hat. Niemand weiß genau, woher der Türke stammt. Vielleicht kommt er ja wirklich aus der Türkei und ist ein Nachkomme des Nomadenvolkes, das fünfhundert Jahre zuvor große Teile Zentralasiens unterworfen hat. Vielleicht kommt er auch aus Deutschland, schließlich spricht er ja Deutsch.
Leif mag den Türken sehr, denn der Mann aus der Fremde hat sich liebevoll um ihn gekümmert, als Leif noch ein Kind war. Deshalb ist er sehr besorgt, als sein Pflegevater eines Abends nach einem Ausflug ins Binnenland nicht zur Siedlung zurückkehrt. Leif macht den anderen aus der Gruppe Vorwürfe, weil sie ihn einfach so verloren haben, und er macht sich auf den Weg, um zusammen mit einigen anderen Männern den verschollenen Gefährten zu suchen. Doch sie sind noch nicht lange unterwegs, als der Türke ihnen entgegenkommt. Leif ist erleichtert, erkennt dann aber, daß mit seinem Pflegevater etwas nicht stimmt. Er fragt: »Warum kommst du so spät, und warum hast du die anderen aus den Augen verloren?«
Der Türke redet zunächst länger auf Deutsch, verdreht die Augen und grinst. Die anderen verstehen natürlich nicht, was er sagt. Schließlich wechselt er in die altnordische Sprache über: »Ich bin nicht viel weiter gegangen als ihr. Ich kann euch etwas Schönes erzählen. Ich habe Weinstöcke und Trauben gefunden.«
»Kann das denn stimmen, Pflegevater?« fragt Leif.
»Ja, natürlich stimmt das, denn dort, wo ich geboren wurde, fehlte es weder an Weinstöcken noch an Trauben.«
Die in der Saga erwähnten Trauben in Vinland, dem »Weinland«, haben im Laufe der Jahrhunderte allen großes Kopfzerbrechen bereitet, die versucht haben herauszufinden, wo genau in Nordamerika Leif Eirikssohn und seine Begleiter ihre Häuser errichtet hatten. Wenn sie wirklich Weinstöcke gefunden haben, dann müssen sie, so der Forscher Helge Ingstad, sehr viel weiter nach Süden gelangt sein, als die Reisebeschreibungen in der Saga Eiriks des Roten annehmen lassen. Ingstad weist darauf hin, daß die nördliche Grenze für den Wuchs wilder Weintrauben in Nordamerika in Massachusetts bei ungefähr fünfundvierzig Grad nördlicher Breite liegt.
Aber das stimmt nicht. Die Autorin Vera Henriksen zitiert in ihrem Buch Mot en verdens ytterste grense (»Zur äußersten Grenze einer Welt«) den Franzosen Jacques Cartier, der in den Jahren zwischen 1534 und 1541 dreimal die an der Mündung des St. Lorenz-Stromes unmittelbar im Westen von Neufundland gelegenen Gebiete besucht hat. Er schreibt über »so viele Weinstöcke am Flußufer, daß sie fast aussehen wie von Menschen gepflanzt. Doch da sie weder veredelt noch beschnitten sind, sind ihre Trauben nicht so groß und süß wie unsere.«
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