Leif sagt nichts, er dreht sich um und geht mit langen Schritten zum Hof zurück. Dort sitzt sein Vater auf dem Boden und läßt sich von einem Leibeigenen den Fuß massieren. Eirik ist bleich und sieht ziemlich niedergeschlagen aus. Leif denkt, daß sein Vater vielleicht doch recht hatte, als er sich der Reise gen Westen nicht anschließen wollte. Er sei zu alt und solchen Strapazen nicht mehr so gut gewachsen wie früher.
Doch Leif hatte ihn überreden können. »Du bist noch immer derjenige in unserer Sippe, dem das Glück am günstigsten gesonnen ist«, hatte er gesagt und mit dieser Schmeichelei bei Eirik Erfolg gehabt.
Vater und Sohn schauen einander lange an. Schließlich bricht der Alte das Schweigen: »Es ist mir nicht bestimmt, mehr Land zu finden als das, welches wir jetzt bewohnen. Wir werden wohl nicht länger alle zusammen fahren.«
Leif hilft seinem Vater auf die Beine. Eirik legt den Arm um Leifs breite Schulter. Auf den Sohn gestützt hinkt er zu dem Haus, in dem Thjodhild ihn schon erwartet.
Eine halbe Stunde später heißt es: »Leinen los!« Bjarni wirkt jetzt weniger bedrückt. Er lächelt kurz, als der Wind sich dreht, und Leif läßt die Männer das Rahsegel setzen. Schon bald darauf steuern sie in schneller Fahrt auf die Mündung des Eiriksfjords zu.
Sie halten Kurs nach Norden und bleiben dabei die ganze Zeit in Sichtweite zum Land. Leif hat oft mit Bjarni über den Kurs gesprochen und sie sind einer Meinung: Sie werden auf Bjarnis Route zurücksegeln. Wenn sie an der grönländischen Küste entlang die Hälfte der Strecke nach Norðrseta segeln, dann ist die Entfernung zu dem neuen Land jenseits des Meeres nicht mehr groß, meint Bjarni.
Die nordischen Seefahrer hielten sich auf ihren Reisen am liebsten immer in Landsicht. Ihre Navigationskenntnisse erlaubten es ihnen nicht, sich unbesorgt auf das offene Meer hinauszubewegen. Bei klarem Wetter konnten sie mit Hilfe der Sterne stetigen Kurs längs der Breitengrade halten. Eine Reise in Nord-Süd-Richtung dagegen war ein Vabanquespiel, da sie keine Methoden kannten, um die Längengrade zu bestimmen.
Leiv Eirikssohn hatte keinen Kompaß, dieses Gerät wurde in Nordeuropa erst zwei- bis dreihundert Jahre später bekannt, doch immerhin kannte er die Himmelsrichtungen. Die Wikinger teilten das Himmelsgewölbe in rechtwinklige Achsen ein, die wiederum die vier Hauptrichtungen bildeten – Norden, Süden, Osten und Westen. Zwischen diesen Achsen hatten sie vier weitere Richtungen eingefügt, so daß sie sich bei der Navigation an insgesamt acht Richtungen orientieren konnten. Tagsüber hielten sie sich darüber hinaus an die Sonne, nachts an die Sterne. Besonders wichtig für sie war der Polarstern, dieser klare kleine Stern im Kleinen Bären.
Vielleicht hatten Leif und seine Männer eine sogenannte Peilscheibe als Hilfsmittel. Im Jahre 1948 wurden auf Grönland Reste eines Gegenstandes gefunden, bei dem es sich um eine solche Scheibe gehandelt haben könnte. Das Fundstück hatte ein Loch in der Mitte und möglicherweise war ursprünglich ein Handgriff durch die Scheibe geführt worden, der sie horizontal hielt, so daß man sie drehen konnte. Reste eines solchen Handgriffs sind allerdings bisher nicht aufgetaucht, weshalb diese Theorie nur wenig verläßlich ist. Am Rand der Scheibe waren 33 ½ Kerben angebracht, die möglicherweise die Himmelsrichtungen markieren sollten.
Falls die nordischen Seefahrer wirklich solche Peilscheiben benutzten und Leif noch dazu die Tabellen besaß, die irgendwann im 11. Jahrhundert in einem Schriftstück namens Oddi-Tala erwähnt worden sind, konnte er ziemlich genau entlang den Breitengraden navigieren. Eine dieser Tabellen zeigt die Sonnenhöhe im Meridian während eines Jahres, eine andere zeigt die Richtungen von Sonnenaufgang und -untergang. Die Tabellen haben sich als überraschend zutreffend erwiesen. Der Fehlerspielraum betrug lediglich zwei Grad.
Doch in der hellen Sommerzeit war der Sternenhimmel keine große Hilfe und bei Nebel oder bewölktem Wetter ließen sich die Himmelskörper auch nicht zur Navigation nutzen. In der Saga wird als weiteres Hilfsmittel der Sonnenstein erwähnt, ein Stück Kalkspat. Lange Zeit hieß es, die Seefahrer hätten den Stein senkrecht in die Luft gehalten und damit das polarisierende Licht der Sonne eingefangen, um damit die Sonnenrichtung ermitteln zu können. Kritische Forscher heute zweifeln jedoch den ganzen Bericht über den Sonnenstein an. Auf keinen Fall hat es sich dabei um ein sonderlich weit verbreitetes Navigationswerkzeug gehandelt, und wir haben kaum Grund zu der Annahme, daß Leif Eirikssohn und seine Leute über einen solchen Stein verfügten.
Bald sehen sie südlich von Norðrseta vertrautes Land. Bisher hatten sie guten Wellengang und sind von der Strömung an der grönländischen Westküste entlang nach Norden getrieben worden. Bjarni sagt, daß hier die Stelle sei, und Leif befiehlt seinen Männern zu wenden und Kurs auf das offene Meer zu nehmen. Er verspürt die Unruhe im Leib, die Spannung, die Seeleute immer empfinden, wenn sich vor ihnen unbekanntes Fahrwasser auftut.
Niemand weiß, wer zuerst das Land gesehen hat, aber nach einer weiteren kalten Nacht in den Ledersäcken, die nachts als Schlafsack genutzt werden und tagsüber als Aufbewahrungsort für Waffen und andere Habseligkeiten dienen, erwachen alle zum Leben.
Als sie sich dem Land nähern, sehen sie überall hohe Gletscher, und vom Meeresgrund bis zu den Gletschern scheinen sich ununterbrochene Felswände aufzutürmen. Einer der Männer lacht verächtlich. Dieses Land sollte reich an Wäldern und üppigem Weideland sein? Trotzdem hält Leif klaren Kurs auf die Gletscher und bald darauf gehen sie an Land.
Doch das Land ist karg und scheint nichts zu bieten außer Eis und Steinen, weshalb Leif alle wieder an Bord befiehlt. Er lächelt Bjarni spöttisch an und sagt: »Uns geht es mit diesem Land offenbar anders als Bjarni, denn wir gehen immerhin an Land. Ich aber will diesem Land einen Namen geben, und ich nenne es Helluland« (Flachsteinland).
Dann segeln sie wieder aufs Meer hinaus, können jedoch steuerbords die ganze Zeit die nackte, kalte Küste erkennen. Wieder folgen sie der Strömung. Zweimal verlieren sie die Landsicht, doch Bjarni versichert ihnen, daß alles weiterhin seine Richtigkeit hat. Und er soll recht behalten, denn bald kommt neues Land in Sicht. Sie nehmen an, daß es sich bei dem ersten Land um eine Insel gehandelt hat, und nun glauben sie, eine weitere Insel vor sich zu haben. Sie haben noch keine Ahnung, daß sie einen riesigen Erdteil erreicht haben.
Abermals steuern sie das Land an und werfen Anker. Sie setzen ein Boot aus und rudern zum Strand. Hier ist alles ganz anders als in dem Land, das sie Helluland genannt haben. Schon vom Meer aus haben sie Walrösser und Seehunde gesehen und jetzt entdecken sie am Strand eine Herde äsender wilder Rentiere. In mehreren Männern erwacht der Jagdeifer; das muß das Land sein, das sie gesucht haben. Das Terrain ist flach und bewaldet, und so weit das Auge reicht, kann man weiße Sandstrände und seichtes Wasser sehen. Doch Leif schüttelt den Kopf. Hier gibt es doch kein Weideland. Er sagt: »Wir werden dieses Land nach seinem Wesen benennen, und deshalb soll es Markland heißen.« (Waldland) Danach rudern sie zu ihrem Schiff zurück und setzen ihre Reise fort.
Der Wind kommt von Nordosten und schiebt sie an der bewaldeten Küste entlang immer weiter in Richtung Süden. Das Rahsegel strafft sich. Es ist aus Filz genäht, bleibt in der Gischt jedoch trocken. Es ist mit Extrakten aus gekochter Birkenrinde, Pferdefett und roter Farbe imprägniert. Sie halten ein gutes Tempo, bisweilen erreichen sie an die zwölf Knoten, aber das wissen sie nicht, denn sie verfügen über keinerlei Gerät zum Messen der Geschwindigkeit.
Das Meer wird jetzt stürmischer und schlägt gegen die Eichenbretter, die Knorre gleitet jedoch weich über die Wellen. Die Bretter unter der Wasserlinie sind mit Weidenruten und dünnen Baumwurzeln an den Spanten festgebunden und sorgen dafür, daß Boden und Kiel sich allen Bewegungen des Schiffes anpassen und trotzdem nicht undicht werden. Die Bretter oberhalb der Wasserlinie sind mit Eisennägeln befestigt, jedes Brett an der Außenseite des nächst tiefergelegenen, so, wie vernietete Schiffe noch heute konstruiert werden. Auch das unterste Brett ist mit Nägeln befestigt, und zwar am Kiel, nicht an den Spanten.
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