Ich dachte jäh: »Er liebt sie! Liebt sie! Liebt sie ja doch, seine Mutter – die er haßt!« Mein Denken verwirrte sich. Zu Boden glitt die Näherei. Ganz benommen stellte ich mich zu Witalii ans Fenster. Von nebenan hörte man die drei andern laut plaudern und streiten; wenn Boris’ Stimme sich im Eifer im hellsten Diskant überschlug, wurde gelacht. Ich hörte mechanisch zu: Am liebsten wäre ich jetzt mit nach »Ródinka« gereist.
»Ich möchte sie kennen! Möchte deine kleine Schwester sehen. Arme kleine Eudoxia.«
Über Witaliis Gesicht ging ein Lächeln, ein gutes, frohes.
»– Arm ist die nicht –. Der wird es nichts anhaben, hoff’ ich. Die ist noch so: Sie liebt – einfach.« Er brach ab, zögerte ein wenig und hob dann wieder an:
»Als sie noch klein war, lief sie hinter der Mutter her wegen der Wunder- und Heiligengeschichten. Da fing ich Eudoxia selber ein mit Geschichten, und da lief sie mir nach. Das war unser erster Kampf um Eudoxia – und nur Eudoxia schien er harmlos. Märchen mußten es sein. Die Mutter war sehr viel reicher daran! Und von solchen, die auch sie kannte, mochte ich nichts nehmen. Da erfand ich mir zuletzt selber welche.
»– Du?!« rief ich staunend. Wenn Dimitrii das noch getan hätte! Witalii traute ich es nicht zu. »Ach, erzähl mir davon – weißt du nicht noch eins?«
»Eudoxias Lieblingsmärchen weiß ich noch gut, das will ich dir erzählen«, sagte er, »hör zu, das war so: Einer, der kam von weither, eine Waise war er. Und kam in ein Reich, darin herrschte eine wunderschöne alte Königin. Alle wurden ihre Vasallen, und auch er mußte ihr dienen. Aber ihm mißfiel sehr die gleißende Pracht, in die sie sich kleidete, das Gold ihrer Gewänder, durch das sie selbst ihm fast unkenntlich wurde, und sogar die Krone, die schwere unförmliche Krone, ihr auf Stirn und Kopf gedrückt. Darüber geriet er in Streit mit ihr und ihren Leuten, und im Streit schlug er sie alle tot, sowohl sie wie ihre Leute. Wie sie nun aber so tot dalag und die ganze Pracht von ihr abfiel und die Krone auch, da kam darunter hervor sein Mütterchen, das er längst gestorben geglaubt hatte. Und da küßte er sie ins Leben zurück, und sie erhob sich und sprach: ›Mein lieber Sohn, ich danke dir, daß du mir aus der Verzauberung herausgeholfen hast, an der ich bald erstickt wäre, denn kein goldener Popanz bin ich, sondern dein Mütterchen bin ich und gehe mit dir. Und es macht mir nichts, daß alle die tot sind, die mir dienten, da gräm dich nicht weiter drüber.‹ Da liebte er sie sehr und hob sie auf den Arm, damit ihre Füße den Boden nicht berühren sollten, und griff nach seinem Wanderstecken und sagte: ›Nein, freilich macht das nichts, tot mögen sie bleiben, denn fortan werde ich sein, der dir dienen wird, von dieser Stunde bis an unsern Tod.‹«
Witalii erzählte langsam und genau, den Blick aus dem Fenster gerichtet; als ließe kein Wort sich ohne weiteres hinzu- oder hinwegtun, so sagte er es her. Jedem Wort hörte man an, daß es fest geworden war durch Gewöhnung, wie ein Ding von Holz oder Stein und wie eine unverkürzte Wirklichkeit.
Als das Allerschönste daran erschien mir, daß ein Mütterchen dahintersteckte. Sonst waren es in den Märchen immer nur die Königinnen oder Prinzessinnen ihrerseits, welche entzaubert werden mußten. Sich sein Mütterchen erlösen, das, fand ich, sei viel mehr.
Witalii bemerkte auf dieses Urteil befriedigt:
»Ja, geradeso meinte es Eudoxia auch.«
Hierauf verstummten wir beide gänzlich. Allein ich spürte es wohl: Dies war nicht eine Mitteilung gewesen wie irgendeine sonstige, mit einem Schlußpunkt nach dem Gesagten. Es war das erste Wort eines mit mir geteilten Inhalts, ein Beginn –. Und ich – ich hatte nicht geahnt, daß, während ich Dimitrii zuhörte, dies Vertrauen zu mir unterwegs war! Ich fühlte, wie ich brennend errötete. Jetzt fiel mir erst Witaliis nachsichtiges Lächeln ein, womit er manchmal Dimitrii und mich gestreift. Ach gewiß: Die Mädchen und Frauen, die er hier kennen mochte, Märtyrerinnen, Heldinnen, wie anders betrugen die sich wohl! Aber – über wie vieles er auch gegen uns schwieg, namentlich jetzt in seines Bruders Beisein: Über dies war er zu ihnen allen stumm geblieben, von diesem sprach er zum allererstenmal; zum allerersten Menschen –
Als abends Dimitrii uns wieder vorlas, vorsprach aus den geliebtesten seiner Dichter, lauschte ich so inbrünstig wie nur je. Nur, daß sich mir Bilder und Gestalten aus Ródinka unterschoben, zu Dichtungen daran wurden – wie wiederum das Gedichtete sich dran belebte zu einer unaussprechlichen Wirklichkeit. Und mein Herz brannte, sie zu erleben, und kaum unterschied ich mehr, welche es sei: Witaliis Wirklichkeit oder die seines Landes.
So verging die winterlichste Zeit. Schon begann der harte klingende Frost sich zu mildern. Brausende Stürme brachten Schneemassen, die weich und breit liegen blieben; bei Tag und Nacht gab’s zu tun, die Fußsteige freizubekommen, und im Schnee, der dabei auf den Fahrdamm geworfen wurde, sanken die Schlitten ein – lautlos; kein Hufschlag auf dem Holzpflaster mehr hörbar, alle Geräusche abgedämpfter als in der Luft hohen Frostes, und selbst das Schlittengeklingel über den weißen Straßen tönte nur ganz traumhaft durch die grauverhangene Luft.
Dimitrii war längst abgereist, Witalii von »Ródinka« zurückgekommen. Der arbeitsame Alltag einte uns in altgewohnter Weise abends im Zimmer der Brüder. Da geschah es einmal, daß unerwartet der Vater unter uns erschien. Dies war außerhalb der Mahlzeiten ein seltenes Ereignis, und überrascht sprangen wir alle auf, als er hereintrat.
Ihm schien der kleine Lärm, den er verursachte, höchst unangenehm zu sein, und im peinlichen Gefühl, ihn gleich noch vermehren zu müssen, hob er abwehrend beide Hände.
»– Es ist wahrhaftig gar nichts, obgleich – aber erschreckt nicht unnütz darüber: es ist – es scheint, daß ich nach Hause – ich meine, daß ich berufen bin – eine Professur in Freiburg, wißt ihr –«
Aus lauter Furcht vor der Aufregung, die diese Freudenbotschaft nach sich ziehen konnte, wagte er sie nur so vorsichtig von sich zu geben wie eine Trauernachricht.
Ein Hurrageschrei. Ihm gellten die Ohren. Wie Indianern ausgeliefert, sah er sich von seinen Kindern umringt.
»Hoch soll er leben! Er lebe hoch – hoch!« schrie Boris wie besessen. »Endlich, was dir zukommt! Endlich haben deine wissenschaftlichen Arbeiten es ihnen gesteckt!«
»Drei Küsse, Papa! Nein: die russischen drei!« beharrte Michael, der sich sonst Liebkosungen empört entzog; er hielt den väterlichen Kopf fest wie zu einer chirurgischen Operation, bis er auf den Mund und jede Backe den Kuß am richtigen Platz abgesetzt hatte.
Ich streichelte diese Wangen, die blaß aussahen, übernächtigt wie das ganze Gesicht, das einen ständigen Ausdruck der Überanstrengung trug. Denn was die lehrstundenerfüllten Tage nicht hergaben, das mußten, zu wissenschaftlicher Sammlung, Nächte leisten.
»Jetzt wollen wir dich schon zu wahrem Posaunenengel herausfüttern! Jetzt nur schnell aus all der Schererei fort und aus dem elenden Klima!«
Mit gebücktem Kopf hatte er den ersten Sturm über sich ergehen lassen. Ganz ermattet setzte er sich auf den nächstbesten Stuhl. Aber nun freute auch er sich. Unsere stolze Mitfreude tat ihm hinterdrein wohl, und das aufregendste Stück war ja nun glücklich überstanden.
»Ja, nicht wahr, Musja, Kind? Meine Gesundheit, die soll jetzt schon noch herhalten! Denn nun will ich ja erst – ich meine: Jetzt möchte ich was leisten!«
Witalii hielt sich abseits, ohne auch nur an Glückwunsch zu denken; nur sein Blick, seine ganze Haltung drückten aus, wie er am Vater hing. Dieser stets tief beschäftigte, im sachlich Abstrakten ohne jeden Eigennutz aufgehende Gelehrte mit seinem durchgeistigten Kopf, dem man die Gedankenfreude ansah, trotz der Schwermut, die den Mund gezeichnet hatte: Das war für Witalii eine in seinen häuslichen wie kameradschaftlichen Kreisen neue Erscheinung gewesen, an der ihn etwas ihm Unerreichliches vielleicht am stärksten anzog.
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