Mir ist dies Gespräch fester im Gedächtnis geblieben als viele vor- und nachher, obgleich ich eigentlich zunächst nur den einen Ton daraus heraushörte, der mir noch nie vernehmbar geworden war: Witalii – Russe, wir – die Nichtrussen; sich und Nadia empfand er als ein »Wir« uns gegenüber. Sogar wo er jetzt einmal nicht mit ihr übereinstimmte – was mir merkwürdig angenehm war. Überdies verhielt es sich damit so, daß Nadia ihrerseits erst recht unter ihrem freigewählten Beruf litt, ungeschulten Menschen durch »wissenschaftlichen« Starstich die Augen über ihre Illusionen zu öffnen. Sie litt aber überhaupt darunter: all diese ihr von zu Hause her tief vertrauten bäuerischen Menschen zu städtischem Proletariat in dessen Erwerbskämpfen werden zu sehen. Andernteils jedoch hielt sie fanatisch fest an der in ihren Kreisen gerade erst hochkommenden marxistischen Lehre, wonach alle künftige Entwicklung mit Unerbittlichkeit nach logisiertem Schema geregelt schien – das auch Witalii abstieß, ohne doch von ihm widerlegt werden zu können.
Die Buchstaben, die Nadia ihre Analphabeten aneinanderreihen lehrte, formten sich ihr selber deshalb zu weit mehr drückenden als beglückenden Erkenntnissen, jedenfalls zu keiner der fröhlichen, getrosten »Wahrheiten« mehr, wie die gewesen, denen sie einstmals mit Spiridon, politisch wie kirchlich ganz unbekümmert, in »Jesus dem Bruder«, nachzuleben trachtete. Seit ihre Kindheit hinter ihr lag und das arme Heimatdörfchen voll Blindheit, Sonne und Schmutz, südlich im Lande – kannte sie kaum etwas anderes, als daß ihr vor wehe tuenden Gedanken der Kopf schmerzte und das Herz blutete. Ihre freudig gefaßte Haltung, wenn es galt zu helfen, zu leisten, ihre unentwegte Bereitschaft ließ das anfangs übersehen, bedeckte ihre tiefe Traurigkeit; darunter aber, unter diesem Strahlenmantel unschuldigen Opferdranges, wohnte die ursprüngliche Seele der kleinen Nadia fast ebenso verborgen, wie hinter heuchlerischer Priestermaske sich verstecken mußte die »schwarze Seele« Spiridons, des doppelten Verräters.
Ich weiß noch heute nicht zu sagen, ob Nadia irgendwie typisch war für die Frauen von Witaliis damaligem Umgang, denn er kannte ihrer mehrere, die uns fremd blieben. Hie und da schwirrte ein Name durch die Luft, einmal kam mir eine Fotografie zu Händen, welche machte, daß ich die nächsten Nachmittagsbutterbrote mit meinen Tränen salzte, dann stellte sich jedoch das Urbild als die schon vor einigen Jahren ins Ausland entwichene Wera Sassulitsch heraus, die auf den Stadthauptmann Trepow geschossen hatte, von den Geschworenen freigesprochen und vom Publikum auf den Schultern zum Gerichtssaal hinausgetragen worden war: die »erste der Terroristinnen« vor Organisation des Terrors. Witalii kam allmählich etwas seltener zu uns, benommen von Dingen, über die er uns nicht sprach – von denen aber geredet werden mochte in Nadias engem Hofstübchen, mit den gemeinsamen Freunden, so manche Nacht hindurch, während sie sich weigerten, dies bei uns zu tun: Wie sich später herausstellte aus begründeter Befürchtung, unser deutsches Haus zu einem verdächtigen zu machen.
Von unsern Verwandten – jenen verschiedenen Onkeln und Tanten, nach denen Boris und ich unsere Ostereier benannt hatten – blieb es dennoch nicht unbemerkt, daß bei uns junge Leute aus und ein gingen, die sich ungemein »russisch« benahmen, und kopfschüttelnd wurde mein Vater darauf aufmerksam gemacht. Möglicherweise teilte er sogar diese Besorgnis; geäußert hat er es jedoch nie. Denn stärker war in ihm das Widerstreben, jemanden in Wahl oder Form seines Umganges zu beaufsichtigen. Jederzeit nahm er an, seine Söhne ständen für ihre Schwester ein, und diese wiederum für den Ton des Kreises, mochte er im übrigen sich zusammensetzen aus wem immer es sei. Ich weiß nicht, ob dieses himmlische Vertrauen meines Vaters der Zeit, worin wir damals lebten, sonderlich angemessen war, allein dies weiß ich wohl: wie anspornend, ja geradezu haltgebend es während ihrer ganzen Jugend auf meine Brüder gewirkt, wieviel feine Scham, Vertrauen zu mißbrauchen, es auch in Witaliis Kameraden weckte. Überhaupt nur wenige von ihnen kamen, und diese selten nur. Dann freilich gerieten sie in heftigen Redekämpfen aneinander – und einig doch, auch mit den Brüdern, denn leichtbewegte, begeisterungsdurstige Jugend waren sie alle. Und allen voran die zarte, schüchternblickende Nadia – mit ihrer leisen, jeden Augenblick von Husten unterbrochenen Stimme –, der niemand es gleichtun konnte. Die sanfte Bestimmtheit, womit sie Pech und Schwefel regnen ließ über des Volkswohls Widersacher und vor dem Teufel selber nicht zurückschreckte, machten den Zuhörenden atemlos. Und ich sah es vor mir, wie sie auch ihrem Spiridon als einem Schädling der Gesellschaft eigenhändig, gleichmütig eine Bombe unter den Fuß gelegt haben würde, ohne den mindesten weiblichen Rachegedanken gegen ihn im Herzen. Witalii sagte am wenigsten. Manchmal stritt er gegen Nadia, wobei sie jedoch meist ihm überlegen blieb. Nicht so sehr durch ihren Standpunkt, als weil sie einen hatte. Denn immer sichtlicher schien Witalii in zwei Hälften gerissen durch seinen leidenschaftlichen Drang nach geistiger Selbstentwicklung und der Gewalt, die, aus seinem Volk auf ihn einstürmend, aus aller Vereinzelung herausriß.
Vieles von dem, was um mich vorging, verstand ich noch nicht, aber was ich deutlich sah, war eine eigentümlich beredte allmähliche Verwandlung in Witaliis Äußern: wie abgetragen seine Kleidung wurde, wie hager sein Wuchs. Nicht nur, daß er seinen keimenden Bart stehen ließ, sein Haar wachsen, wie es wollte, nicht nur, daß die Augen oft abwesend blickten, sich röteten um das Lid, gab ihm ein ungepflegtes Aussehen. Bei den Verwandten wohnte er offenbar längst nicht mehr. Wo? Und ließ man es ihm denn von Ródinka her an materiellen Mitteln fehlen? Sowenig wie jemals von Mutter oder Heimat, sprach er zu uns darüber ein Wort.
Großpapa war seinem alten Interesse für Witalii treu geblieben, wurde auch von ihm besucht, doch zweifle ich, ob er in irgendeiner Hinsicht mehr von ihm wußte als wir. Auch der Vater fand ein entschiedenes Wohlgefallen an Witalii; ihm gefiel dessen so kampfvoll durchgesetzter Studieneifer, ja gerade das Ungemessene daran, das sich kaum für eine einzelne Wissenschaft hätte entscheiden können, aus lauter Ehrfurcht vor Wissen überhaupt – aus dem Gefühl: »wissen« heiße: alles mitwissen. Witalii gehörte zu den wenigen, die der Vater in sein Allerheiligstes hereinnahm, mit dem er sich in sachliche Gespräche ernstlich vertiefte: ungestört von den geringen Kenntnissen dieses jungen Menschen, denn als wahrer Wissender sah er – wie der Herrgott im Punkt der Moral – lediglich auf die Gesinnung: die den Fortgeschrittensten immer wieder dem Lernbedürftigsten so innig ähnlich macht.
Mitunter konnte es scheinen, als ob der Vater mit seinem dem Außenleben abgekehrten Blick wahrhaftig geneigt sei, sogar Witaliis durchgeriebene Rockknöpfe und grausliche Bartstoppeln aus der Zerstreutheit des zukünftigen Gelehrten – gleichsam nach Auffassung der damaligen »Fliegenden Blätter« – zu erklären. Wie tief irrten wir uns aber über den Vater! Daß er es so aufzufassen schien, war bewirkt durch zarteste Zurückhaltung, die Witalii nicht als solche empfinden sollte – durch Wissen also auch in diesem Punkt. Aus gleich scheinhaften Gründen nahm man ja den Vater selber für den Gelehrten »wie er leibt und lebt«, ohne zu ahnen, weshalb er in dieser weltabgewandten Einseitigkeit verharrte: weil die einzige, lebendigste Verbindung zwischen ihm und der Heimat nur noch das sein konnte, was er wissenschaftlich arbeitete und wie allen so auch in erster Linie der Heimat als sein bestes Gut schenken durfte.
Ein Zwiespalt, nicht ganz ungleich dem, der Witaliis Wesen uneinig machte, war darin mit stiller Besonnenheit zum allein möglichen Austrag gebracht.
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