Gegen Winters Ende verließen die nächsten Kameraden Witaliis die Stadt, und bei diesem Anlaß erst wurde mir klar, daß er ihr Obdach, ihren Hunger, ihre Schwierigkeiten alle völlig mit ihnen geteilt hatte und daß er dies unter falschem Namen und Paß getan. Auch Nadia ging fort. Erschreckend hatte ihr böser Husten zugenommen, immer fiebriger erglänzten die blauen Augen, immer verschleierter klang ihre Stimme. Wir versuchten sie zur Abreise in ihre südlichere Heimat zu veranlassen, und wirklich entschwand sie uns –. Viel später erst erfuhren meine Brüder und ich, daß sie sich Handlungen zur Verfügung gestellt, deren Folgen sie in der Schlüsselburg noch rascher dem Tod überliefert haben werden, als infolge ihrer Schwindsucht geschehen wäre.
Dieses Sterben, das wir erlebten, barg sich so in seinem eigensten Geheimnis. Aber wieviel verlor auch ich schon mit Nadias persönlichstem Entschwinden! In all ihrer fanatischen Drangabe ans Politische lag doch ein Zug, der uns nicht nur unterschied, sondern auch einander anglich – ja fast als verbürgerliche er Nadia in größtem Stil an eben ihrer Familienlosigkeit. Nur daß ihre Brüder, nach Abertausenden zählend, ihr straßauf, straßab begegneten – nur daß sie zu Vater und Mutter trat, sobald sie eintrat bei Bauern im Dorf oder überarbeiteten Weibern in Fabriken – dehn, suchte sie sie auch ein wenig zu belehren zu allerlei Nutz und Frommen: Noch weit mehr grüßte sie sie in ihrem Herzen mit der stillen Ehrerbietung der Tochter, die ihnen nachzuleben trachtet.
Nie kann ich mich aber jetzt ihrer rührenden Gestalt erinnern, ohne gleichzeitig der seltsamsten Kunde zu gedenken, die uns nach Jahren, in Deutschland, durch eine Zeitungsnotiz über den Popensohn Spiridon zukam. Hiernach war dieser als Geistlicher terroristischer Propaganda verdächtigt und, zur Zeit ungezählter Hinrichtungen, gehenkt worden. Sein geistliches Wirken schien er nur betrachtet zu haben als die geeignetste Sorte Dynamit in einem Volke, dem der Aufruhr durch den Unglauben abstoßend werden kann, der ihn predigt. Ob hier von Beginn an Nadia gegenüber ein heroisches Schweigen vorlag, das ihn sie im Stich lassen hieß um des Wagnisses willen – das blieb uns für immer Geheimnis. Gewiß erscheint diese Möglichkeit auch reichlich phantasievoll, aber wußte nicht vielleicht der sehr intelligente Mensch, daß Nadia – ihrer Sache treu bis in den Tod auch ohne ihn – zu dem einen dennoch nicht imstande gewesen wäre: zu seinem furchtbar stummen Umweg – zu diesem Teufelspakt des Gottesdieners –?
Die tiefe Dunkelheit jedenfalls, darin das ausschlaggebende Motiv des Popensohnes für uns auf alle Zeit verborgen blieb, trug dazu bei, daß in den späteren Jahren seine dramatische Erscheinung unsern Gedanken noch fester eingeprägt blieb als die Erzengelgestalt seiner Braut, die soviel lauterer als er, und soviel lauter auch, nach des Teufels Hilfe rief, ohne den Teufel ganz zu kennen.
Während der russischen Fastenwochen kam es zu einem Umschwung der Stimmung bei uns: Eines Tages erschien Witaliis Bruder Dimitrii in der Hauptstadt. Alarm erregte er schon, noch ehe er den Pelz ganz abgeworfen hatte und in leuchtend blauseidenem Hemd dastand, mit schwarzsamtenen Pluderhosen über den hohen Schaftstiefeln und schön gleich einem jungen Gott. Alle schrien durcheinander. »Wie ein Bauer!« – »Nein: wie ein Fürst!« – »Nein: wie aus dem Theater!« Dimitrii selbst sagte: »Ihr wißt wohl gar nicht mehr, was einzig und allein russisch ist in diesem traurigen Stadtloch?« Und dann behauptete er weiter, ich müsse als Bojarin umgekleidet werden; ob ich wisse, was das sei? Es stellte sich heraus, daß ich es nur wenig genau wußte. Ungesäumt vertiefte er sich in jede Einzelheit weiblicher Bojarentracht, durch seine Lebhaftigkeit und Darstellungsgabe alle dafür mitgewinnend, bis wir für die neue Gewandung sogar die Farben ausgewählt hatten: Lachsrot sollte sie sein und verbrämt mit nichts Geringerem als Silberfuchs.
Etwas Festliches geriet mit Dimitrii in unser Beisammensein. Man konnte plötzlich wieder lachen, man sah, allen Finsternissen zum Trotz, die Welt auf einmal doch herrlich. Offenbar hatte dieser rasend schöne Mensch alles Zeug für die helle Seite des Lebens: Und das war etwas, worauf Boris – wenn er Dimitrii auch um manches im stillen beneidete – schon aus Temperament einging; Michael dagegen tat es aus Prinzip, indem er sich durch Witalii und der Zeiten Schwere allzu ausgiebig »alteriert« fand; vielleicht fühlte er sich durch den andern Wolujew zu ausgewachsen und urteilsernst werden.
Ich überdies bekam in Dimitrii meinen ersten Verehrer: denn so reiche Poetengaben besaß der, daß sie Dinge und Menschen fort und fort beschenkten: keineswegs brauchte man einer jungen Bojarin zu gleichen, um als solche vor ihm dazustehen. Meine drei »Brüder« stellten fest, mit dem nachsichtigsten Lächeln, daß der vierte Bruder bedenklich aus der Rolle falle.
Nun, ein so prachtvoller Verehrer und der erste obendrein: Wie man das Ding auch wendet, es bleibt ein angenehmes. Dimitrii war ja auch weder oberflächlich in seiner Heiterkeit noch ein Geck, dem’s um seidene Hemden ging: Er ging herum, erfüllt vom Schönsten, was russische Erde je hervorgebracht, er machte uns ihre großen Dichtungen lebendig, die wir fast nur auf der Schulbank kennengelernt, und andere, uns noch unbekannte, ihm längst vertraute, schienen auf seinen Lippen erst zu entstehen. Er zuerst führte mich in das Land ein, an dessen äußerster Grenze ich Wohnte, ohne doch in Rußland zu wohnen; und wenn die vergangenen Monate mich in ein wirres Mitleid mit dessen ungeahntem Elend gestoßen hatten, so weckte er dicht daneben unbändige Sehnsucht nach ungeahnter Herrlichkeit.
Mehrere Wochen gingen hin in einem fast rauschhaften Lebenswohlgefühl. Da, eines Nachmittags, während ich neben dem Zimmer der Brüder über einer Näherei saß, kam Witalii heraus und stellte sich neben mich ans Fenster.
»Ich werde auf eine Weile nach Hause müssen!« sagte er.
Die Nadel stellte sich steil auf und fiel aus dem Faden. Nie hatte ja Witalii vor uns sein »Zuhause« oder damit zusammenhängende Verhältnisse erwähnt.
»Hat denn deine Mutter –«, versuchte ich zu fragen, erschrak dann vor dem totgeschwiegenen Wort und stockte.
»Dimitri hat mir mancherlei erzählt –«, erklärte Witalii wortkarg. Doch nach kurzer Pause kam er selbst auf das Wort zurück:
»Meine Mutter – die geht gerade soeben nach ›Krassawitza‹, unserm andern Gut; – es ist das Wolujewsche Stammgut. – Daher könnte ich jetzt in ›Ródinka‹ Wohl Eudoxia sehen – mein Schwersterchen.«
Richtig: sein Schwesterchen, er hatte sie uns genannt, schon damals, in der kurzen Stunde der Kinderbekanntschaft. Ich mußte lächeln, als ich mich entsann, wie steif wir uns gegenübergestanden hatten, wir drei, und unsere Geschwister gegeneinander ausgespielt wie Besitztümer.
Ich sagte aber nichts, mir fiel nicht eine Silbe ein unter dem Andrang der Erinnerung und der Freude, daß er plötzlich von sich sprach; ich horchte nur, den nadellosen Faden angestrengt um meinen Finger wickelnd.
Witalii fuhr auch fort. Immer aus dem Fenster auf die Straße blickend, als erzähle er einen Vorgang, der sich dort unten abspiele:
»Es ist nämlich so: Nach dem, was ich durch Dimitrii erfahre, zieht die Mutter Eudoxia ganz an sich. Das geht nicht. Eudoxia darf mir nicht entfremdet werden. Muß mir folgsam werden – nicht all dem verhaßten Aberglauben und Zwang.«
Da entfuhr es mir wider Willen: »O Witalii, reiße sie nur nicht mit hinein – dein Schwesterchen, in all diese Kämpfe –, lehr sie nicht auch so hassen. Geh lieber nicht!«
Er kehrte den Kopf vom Fenster ab und mir zu, ich sah einen aufs tiefste erstaunten Blick.
»– Hassen –? nein, eben das soll sie nicht erlernen, wie ich es lernen mußte – denn man erlernt es durch Zwang. Ich muß hingehen, sehen, wodurch ich sie überlegen machen könnte darüber. Weiß noch nicht wie – aber die Mutter soll nicht auch Eudoxia noch verlieren – wie mich.«
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