Am 20. Oktober hatte sich die ganze Mannschaft in der Hütte häuslich eingerichtet. Am 3. November blickte die Sonne zum letztenmal über den Horizont; dann blieb sie verschwunden, und am klaren Himmel stand Wochen hindurch ohne unterzugehen der Mond. Bei schlechtem Wetter war es so finster, daß Tag und Nacht nicht zu unterscheiden waren.
Ein Gutes aber hatte auch die Finsternis: die Bären waren verschwunden. Dafür zeigte sich eine Menge Füchse; man fing sie in Fallen und gewann damit eine unschätzbare Bereicherung der Speisekammer. Die vorhandenen Vorräte reichten für den ganzen Winter unmöglich aus; Dörrfisch und -fleisch, Speck und Grütze waren noch einigermaßen da; die bisherige Tagesration Schiffszwieback aber mußte schon eine Woche vorhalten. Als Getränk diente geschmolzenes Schneewasser, das mancherlei Krankheiten verursachte. Bis zu dem Süßwasserfluß konnte man sich in der Dunkelheit nicht mehr zurechtfinden. Kleidungsstücke waren reichlich da, aber Hemden und Bettlaken mußten schließlich auch einmal gewaschen werden. Sobald aber die Wäsche aus dem heißen Wasser kam, fror sie im Nu hart wie ein Brett und ließ sich nur mit äußerster Sorgfalt unmittelbar am Feuer wieder auftauen und trocknen. Ins Freie konnte man tagelang nicht, denn ungeheure Schneemassen bedeckten lawinenartig die Hütte; der Kamin verstopfte sich immer aufs neue; von den Türen aus mußte man Stollen durch den Schnee graben. Am 6. Dezember fror es so ungeheuer, daß die Mehrzahl der Matrosen die Hoffnung aufgab, jemals lebendig aus dieser Eisgrube herauszukommen. Am nächsten Tag holten sie vom Schiff einen Vorrat Steinkohle, die kräftiger einheizte als Holz; in der Nacht aber wäre beinah die ganze Mannschaft im Kohlendunst erstickt; die meisten lagen schon in schwerer Betäubung, nur einige hatten noch die Kraft, zur Tür zu taumeln, und retteten sich und ihre Kameraden. Das Leder der Schuhe fror steinhart an den Füßen und war nicht mehr zu brauchen; die Leute machten sich aus mitgebrachten Hammelfellen und den frisch erbeuteten Fuchsbälgen so etwas wie Wasserstiefel und zogen noch drei, vier Paar Strümpfe darüber. Das Feuer schien alle Wärme verloren zu haben. Wasserwrasen und Ausdünstung bedeckten als Reif die Wände und bildeten Eiszapfen an den Dachbalken. Auch die Kleider waren wie mit Glatteis überzogen; wer einige Zeit im Freien verweilte, bekam an Gesicht, Lippen und Ohren Eiterbeulen, die sofort gefroren. Aber Barents verstand es, trotz aller dieser Leiden keinerlei Verzagtheit oder gar Verzweiflung aufkommen zu lassen. War die Arbeit getan, machte Schnee und Sturm jeden Aufenthalt draußen unmöglich, dann vertrieb man sich die langen Stunden mit Unterhaltung und Spiel. Das Dreikönigsfest zu Anfang des neuen Jahres wurde sogar mit einer solennen Feier begangen. Man war so vergnügt, daß man dem Eisstaat Nowaja Semlja eine königliche Verfassung gab; das Los wurde gezogen, wer Fürst dieser Einöde sein sollte, und der Feuerwerker als glücklicher Gewinner zum König von Nowaja Semlja gekrönt.
Der 13. Januar war ein besonders denkwürdiger Tag. Das Wetter war ruhig und klar, der Neumond aber noch nicht sichtbar, und einige Leute trieben sich im Freien herum. Da erscholl plötzlich lauter Jubel: wenn man eine Kugel über die eisharte Erde warf, sah man sie rollen! Das war ein Anblick, den man seit zweieinhalb Monaten nicht mehr gehabt hatte! Ein erster Schimmer von Tageslicht machte sich also bemerkbar.
Als am 24. zwei Mann am Strand entlang wanderten, erblickten sie ganz unvermutet am Horizont auf einen Augenblick einen schmalen Randstrich der Sonnenscheibe. Barents zwar lachte sie aus, denn nach seinen Berechnungen war die Sonne erst in zwei Wochen zu erwarten. Darüber gab es einen erregten Wortwechsel; Wetten wurden geschlossen, und Barents verlor sie! Denn als sich nach zwei düstern Nebeltagen das Wetter aufklärte, stand die Sonne in ihrer ganzen Größe am Himmel. Durch das Stillstehen der Uhr infolge der Kälte und durch die unaufhörliche Nacht war die Zeitrechnung so durcheinander gekommen, daß zwei Wochen unterderhand verschwunden waren. Die Gefangenschaft der Holländer schien dadurch wundervoll abgekürzt, und mit der Wiederkehr der Sonne glaubte jeder, das Schlimmste überstanden zu haben.
Immer drohender aber wurde jetzt die Lebensmittelfrage. Die Zeit der frischen Fuchsbraten war mit Wiederkehr der Sonne vorbei, dafür zeigten sich wieder die Bären. Am 13. Februar wurden Barents und seine Leute unangenehm genug an sie erinnert. Die Matrosen waren eben mit Reinigung der Fuchsfallen beschäftigt, als ein ungeheurer Bär erschien und geradewegs auf die Hütte losging, als wenn er dort zu Hause wäre. Ein glücklicher Schuß streckte ihn nieder. Das Tier lieferte über 100 Pfund Fett; nach langer Pause brannte endlich wieder die Tranlampe im gemeinsamen Wohn- und Schlafzimmer.
Mitte April ließ die Kälte nach. Der erste Ausgang galt dem Schiff. Mit welcher Spannung kletterten die Leute über das Meereis, das sich wie eine Stadt mit Häusern und Zinnen, Türmen und Wällen vor ihnen erhob! War ihr Schiff von der Eispressung zertrümmert und überhaupt noch eine Spur davon zu entdecken? — Es lag wirklich noch da, wie ein Pfand sicherer Rettung, anscheinend in dem alten Zustand, nur völlig vereist außen und innen und eingefroren in unergründlich tiefe Eismassen. Andern Tags zeigte sich in der Ferne schon blinkendes, offenes Wasser. Die Leute waren nicht sonderlich mehr bei Kräften, die Tagesrationen waren immer schmäler geworden, aber bei diesem wunderbaren Ausblick waren etliche nicht mehr zu halten, sie wagten ihr Leben, um über das gefährliche Eisbollwerk bis zum offenen Wasser vorzudringen — die rauschende Welle war Erlösung, Freiheit, neues Leben! Am folgenden Tag trieb ein heftiger Südwest gewaltige Eismassen vor sich her. Wenn er nur immerzu blasen und bald auch das Schiff aus seinem Eispanzer befreien möchte!
Diese kostbarste Beute schien aber das Eis nicht wieder herausgeben zu wollen. Die Massen waren in gewaltiger Bewegung, nur noch 70 Schritt vom Schiff bis zum offenen Wasser! Über Nacht aber setzte sich das Treibeis wieder fest, nun waren es wieder 500 Schritt! Neue Schneefälle hielten tagelang die Besatzung in der Hütte eingeschlossen, der Sturm brauste — vielleicht trieb er die ganze Eisdecke mit Schiff und allem ins Meer hinaus! Das Schiff aber lag unbeweglich, wie für die Ewigkeit verankert — überall brach die Eisdecke, setzten sich die Berge und Bänke in Bewegung —, nur die Masse um das Schiff schien bis auf den Grund hinunter ein einziger, unauflösbarer Kristall geworden zu sein. Und wer konnte wissen, ob das Fahrzeug, vom Eise befreit, nicht im ersten offenen Wasser sank? Noch einmal die kurze Sommerzeit versäumen? Das war das sichere Todesurteil für alle.
Der Mannschaft bemächtigte sich quälende Unruhe. Fort von hier, sobald wie möglich, auf irgendeine Weise! Wenn nicht mit dem Schiff, dann in der offenen Schaluppe! Es kostete Barents schwere Mühe, die Ungeduld der Leute zu zügeln, um diesmal nicht durch ein „Zu früh!“ neue Gefahr heraufzubeschwören. Um Zeit zu gewinnen, verlangte er, daß neben der Schaluppe auch ein Boot segelfertig gemacht werden müsse; es lag unter vereisten Schneewehen, und seine Freilegung war für die schlaffgewordenen Muskeln der ausgehungerten Mannschaft ein schweres Stück Arbeit. Die Leute murrten — lieber heute als morgen mit der Schaluppe los! „Wollt Ihr nicht,“ rief ihnen Hemskerk zu, „dann bleibt nur freie Bürger von Nowaja Semlja, seht aber ja zu, daß Ihr wenigstens rechtzeitig Euer Grab fertig macht. Mit der Schaluppe allein ist’s nicht zu wagen, wir brauchen das Boot, wenn es uns überhaupt gelingen soll, wieder nach Hause zu kommen.“ Die Leute sahen das ein und griffen zu Äxten und Spaten. Mitten in der Arbeit erschien plötzlich ein Bär. Alles stürzte zur Hütte, die besten Schützen verteilten sich an den drei Eingängen, ein vierter postierte sich aufs Dach. Das Tier war aber so schnell hinter ihnen her, daß dem Schützen, auf den es zunächst losging, kaum noch Zeit und Raum blieb, die Flinte zu erheben. Versagte der Schuß, dann war der Mann verloren, der Bär drang in die Hütte, und es blieb nicht bei dem einen Opfer. Aber der Schuß saß, die Bestie prallte zurück und brach zusammen. Wenige Tage später wurde ein zweiter Bär zur Strecke gebracht, und diesmal überwand der Hunger das bisherige Vorurteil gegen Bärenfleisch; man briet die Leber des Tieres und ließ sie sich schmecken. Unglücklicherweise war man dies eine Mal an ein offenbar krankes Tier geraten, die Mahlzeit bekam den Leuten so schlecht, daß sie sich für vergiftet hielten; doch erholten sich alle wieder; nur schälte sich ihre Haut ab vom Kopf bis zu den Füßen.
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