Ich verbinde das Smartphone mit meinem Laptop, ohne auf ihren Kommentar einzugehen.
»Man merkt es ihnen an, wenn sie noch nie Grund dazu hatten, anderen Leuten zu misstrauen«, redet Yana weiter. »Du wirst es diesmal leicht haben. Na ja, nicht dass du dich ansonsten schwertun würdest.« Sie grinst.
Ich betrachte das Foto des blassen Mädchens mit den beinahe unnatürlich blauen Augen. Es sind exakt diese Augen, in denen ich zum allerersten Mal in meinem Leben gesehen habe, was Angst bedeutet.
»Sie ist es doch, oder?«, fragt Yana verunsichert.
Ich reiße meinen Blick los und versuche, die Erinnerung an Skyes schneeweiße Wangen und den Knall der Pistole aus meinen Gedanken zu verdrängen.
»Ja, sie ist es.«
»Und für die lässt Beth dich also ins offene Messer laufen?«, sinniert Yana vor sich hin. »Ehrlich, sie wird in letzter Zeit immer seltsamer. Wenn sie das Mädchen unbedingt haben will, warum bringen wir sie nicht direkt zu ihr?«
»Wenn dir nicht mehr erzählt wurde, weißt du alles, was du wissen sollst«, antworte ich schroff.
Du hast es versprochen! Und du bist es mir schuldig. Den letzten Satz hat Beth nie gesagt, aber seine Botschaft klingt aus jedem Wort heraus, das sie zu mir spricht. Als würde ich das nicht selbst wissen.
Nur noch dieser eine letzte Auftrag, sage ich zu mir selbst und starre hasserfüllt auf das Kristallsymbol neben Skyes Identifikation. Dann bin ich endlich frei, mein Leben für die eine Sache zu riskieren, für die es sich zu sterben lohnt.
»Bist du nervös?« Yanas Hand liegt auf meiner Schulter, aber ich bemerke es kaum.
»Nein.« Ich klappe den Computer zu, nachdem ich alle Informationen überflogen habe, und strecke mich. »Du berichtest den anderen, wie weit wir gekommen sind. Sag Beth, sie soll auf keinen Fall versuchen, mich zu erreichen. Und besteh zur Hölle noch mal darauf, dass sie dir eine Pause gönnt!«
»Was passiert als Nächstes?«
»Bis morgen früh nichts.«
Zumindest für Yana. Ich hingegen muss bis morgen für den diskreten Ausfall eines Testleiters gesorgt haben, aber das kann ich ihr genauso wenig auf die Nase binden wie den Grund dafür, dass Skye Anderson eine Rationale werden muss, koste es, was es wolle. Im Zweifelsfall auch mich.
Ich überlege kurz, ob ich mir ein paar Minuten Schlaf gönne und vielleicht eine Dusche, obwohl das im Badezimmer des Maddie wirklich ein Akt der Verrücktheit wäre. Doch ein Blick auf meine Uhr verrät mir, dass keins von beidem drin ist.
Yanas Lippen nähern sich meinem Ohr. »Das heißt, ich kann heute Nacht hierbleiben?«
Ich stehe auf und stecke den Laptop in meine Tasche. »Was auch immer du willst.« Ich werfe ihr den Zimmerschlüssel zu. »Aber bleib im Hotel, das hier ist nicht gerade eine sichere Gegend.«
»Das erklärt, warum du hier bist.«
Ich ignoriere sie standhaft, während ich mir die Schuhe zubinde. Yanas Gesichtsausdruck wirkt verletzt, und es tut mir leid, dass ich der Grund dafür bin. Sie kennt meinen Ruf, nicht gerade wählerisch zu sein, aber ich habe mir geschworen, damit aufzuhören. Es ist die Leere nicht wert, die unweigerlich folgen würde. Und außerdem ist Yana für mich wie eine Schwester.
An der Tür drehe ich mich ein letztes Mal um. »Pass auf dich auf.« Es ist die einzige Freundlichkeit, zu der ich fähig bin.
Zu Hause angekommen, stecke ich mein Smartphone in die Ladestation an der Wand im Flur. Der Bildschirm des Synchrons blinkt kurz bestätigend auf. Er wird meinem Vater später verraten, dass ich nicht den Bus genommen habe, und ich bereite mich innerlich auf eine Predigt vor. Dad hält die U-Bahn für gefährlich, so wie er alles für gefährlich hält, was nicht die Serenity oder Upperlake ist.
In der Küche steht das braune eatdaily -Paket noch auf der Anrichte. Ich öffne es und bin gerade dabei, Brot und Müslipackungen in die Schränke zu sortieren, als die vertraute Stimme meines Vaters durch das offene Küchenfenster hereinweht. Er klingt beunruhigt, aber bevor ich erfahren kann, worum es geht, beendet er sein Telefonat mit einer knappen Verabschiedung und schließt die Haustür auf. Ich höre das harte Geräusch seiner Anzugschuhe auf den Fliesen im Flur, wo er seinen Mantel aufhängt und sein Smartphone neben meins in die Ladestation steckt. Wie immer wirft Dad zuerst einen Blick auf den Synchron, der unsere Smartphones miteinander verbindet. Einzig und allein meine Chatverläufe und Fotos bleiben geheim, und ich überprüfe regelmäßig, ob mein Vater diese Einstellung auch nicht geändert hat.
»Pasta oder Curry?«, frage ich und halte beide Behälter hoch, in der Hoffnung, so von meinem nachmittäglichen Ausflug in die Innenstadt abzulenken.
Ich betrachte meinen Vater mit seinen ordentlich zurückgekämmten, grau melierten Haaren. Manchmal nervt mich sein Kontrollwahn, aber ich kann ihn verstehen. Er will sichergehen, dass er nicht auch noch mich verliert.
»Dad?«
Er löst seinen Blick vom Synchron. Für einen Moment sehe ich Sorge in seinen Augen aufblitzen und etwas, das ich gestern schon in Coach Verses Blick bemerkt habe. Aber wovor sollte Dad Angst haben? Mein Vater strafft sich und hält mir mit unlesbarer Miene den Bildschirm meines eigenen Smartphones entgegen.
»Ich fürchte, das ist dein Bescheid.«
Dass mein Handy zu Boden gefallen ist, bemerke ich erst, als Dad sich danach bückt. Anstatt es zurück in meine zitternde Hand zu legen, führt er mich zu unserem Sofa und wartet geduldig, bis ich mich hingesetzt habe. Er trägt noch immer sein Jackett und sieht darin auf einmal eigentümlich schmal aus.
»Was bedeutet das?« Die Stimme aus meinem Mund klingt nicht wie meine eigene, und ich wende den Blick ab, damit Dad nicht sieht, dass mir Tränen in die Augen steigen.
Bescheid zur Testung für Skye Anderson. Anreise zum Athene-Zentrum erfolgt per Zug. Finden Sie sich am Samstag an der Central Station ein.Das muss ein Fehler sein. Es ist die einzig logische Erklärung, die mir einfällt – schließlich bin ich noch nicht einmal volljährig! Wahrscheinlich wurde ich bloß mit jemandem aus der Abschlussklasse verwechselt.
»Wir sollten besprechen, was jetzt zu tun ist«, sagt mein Vater mit ernster Stimme und mein Herz sinkt.
Die Administration macht keine Fehler. Mein Vater weiß das und tief in mir drin weiß ich es ebenfalls.
»Aber Cara wurde doch auch erst nach ihrem Achtzehnten getestet«, bringe ich stockend heraus. Wie neidisch ich auf das ältere Mädchen aus der Nachbarschaft war, als sie vor einem Jahr zur Testung aufbrach! Jetzt fühle ich mich einfach nur überfahren. »Man wird mit achtzehn getestet, nach dem Abschluss. So sind die Regeln. So steht es doch in der Ordnung!«
»Ab diesem Jahr nicht mehr«, erwidert mein Vater mit steinerner Miene. »Dein gesamter Jahrgang ist einberufen worden.«
Jetzt weiß ich, warum Dad sein Telefonat so abrupt beendet hat, als er zur Tür hereinkam, und warum seine Stimme so ungläubig klang. Vermutlich hat er dem Kollegen, der ihn vorwarnen wollte, nicht geglaubt, bevor er den Bescheid seiner Tochter mit eigenen Augen gesehen hat. Für einen Moment meine ich, so etwas wie Mitleid in seinem Blick zu erkennen.
»Das Verfahren ist gerade einmal vier Jahre alt, da können rasche Änderungen schon mal vorkommen.« Dad legt seine kühle Hand auf meine Schulter. »Hör zu, Skye. Ich weiß nicht, was den Rat zu dieser Entscheidung bewogen hat, aber wir müssen jetzt das Beste daraus machen. Verstehst du das?«
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