Ich werfe ihm einen vernichtenden Blick zu und die bedrückte Stimmung zwischen uns verschwindet wie Wolken an einem Sommerhimmel.
»Sehen wir uns nach dem Training?«, frage ich.
Elias nickt. »Versuch, heute auf den Beinen zu bleiben.«
Ich strecke ihm die Zunge raus, während ich mir meine Tasche über die Schulter schwinge und die Cafeteria mit dem Rest meines Sandwiches in der Hand verlasse.
Elias hat recht. Obwohl wir unsere Traits erst mit achtzehn zugewiesen bekommen, benehmen wir beide uns schon ganz von allein wie Rationale. Wir wählen Naturwissenschaften und Leistungssportarten anstelle von Kunst und Sozialwissenschaften. Wir sind zielstrebig, weil wir wissen, dass wir das Potenzial haben, die Gläsernen Nationen mitzugestalten. Beweist das nicht, wer wir wirklich sind? Ich streiche noch einmal über mein Handgelenk und stelle mir das feine R vor, das man mir in zwei Jahren mit weißer Tinte dort stechen wird. Dann wird uns nichts mehr im Weg stehen.
Sie kommt in ihrer Sporthose aus der Kabine und wirft sich hastig eine Jacke über. Das Training der Laufmannschaft ist also schon vorbei, früher als gewöhnlich. Skyes sonst so blasses Gesicht ist gerötet, und sie kaut auf ihrer Unterlippe, als würde sie irgendetwas beschäftigen. Ich seufze innerlich. Mein Auftrag ist auch ohne Teenager-Probleme schon kompliziert genug!
Wenn man vom Teufel spricht , denke ich, als der Junge mit den breiten Schultern am Tor auftaucht. Die beiden verbringen jede freie Minute zusammen, obwohl sie sich anstrengen, ihre offensichtliche Zuneigung zueinander zu verbergen. Darin sind sie ungefähr so gut wie Romeo und Julia, doch ihre vorsichtige Zurückhaltung wundert mich nicht. Ihre Familien mögen zwar nicht gerade verfeindete Clans sein, aber als Tochter eines Parlamentariers weiß Skye, was von einer Rationalen erwartet wird. Und dass sie glaubt, zum kalten Trait zu gehören, ist sonnenklar. Ich entfalte das Blatt Papier, das Beth mir gegeben hat, und streiche es glatt.
»Glaubst du diesem Coach?«
Auf meine skeptische Frage hin hatte Beth genickt. Sie war dünner geworden, noch dünner als beim letzten Mal, als sie mich zurück in ihr modriges Gefängnis rief.
»Sie werden sie holen. Es ist zu früh dafür, aber wir müssen Verse vertrauen. Er arbeitet nicht erst seit gestern als Informant für den Ring.« Sie sah mich scharf an. »Ich verlasse mich auf dich.«
Ich stecke die verhängnisvolle Nachricht zurück in meine Hosentasche und richte meine Aufmerksamkeit wieder auf meinen Auftrag. Skyes Schultern hängen unmerklich herab, als sie neben dem Jungen durch das Schultor geht und über die Straße läuft. Während ich den beiden in einigem Abstand folge, wünschte ich auf einmal, sie warnen zu können. Skye hat es nicht verdient, derart ins kalte Wasser gestoßen zu werden. Sie hat nichts von dem verdient, was geschehen wird , denke ich bitter. Keiner von uns beiden hat das . Doch ich tue, was Beth von mir verlangt, und lasse mich zurückfallen. Heute Abend wird Skye es sowieso erfahren, meine Warnung würde ihr bloß die letzten sorgenfreien Stunden stehlen. Zumindest rede ich mir das ein, um den kümmerlichen Rest, der von meinem Gewissen übrig geblieben ist, zu beruhigen.
Anstatt in die grüne Buslinie nach Upperlake zu steigen, gehen Skye und der Junge an der Haltestelle vorbei, die Straße hinab in Richtung Innenstadt. Auch das noch! Hastig klappe ich mein altes Motorola-Handy auf. Die Dinger werden kaum noch verkauft, aber ich sammle sie auf Flohmärkten und in kleinen, verstaubten Eckläden, die irgendwo im letzten Jahrzehnt hängen geblieben sind. Im Gegensatz zu Smartphones ist es beinahe unmöglich, sie zu orten. Ich drücke auf die Kurzwahltaste, passe nicht richtig auf und stoße prompt mit einem Mädchen zusammen. Sie trägt eine ordentlich gebügelte Uniform, ohne Zweifel eine Studentin. Trotz des Kaffeeflecks auf ihrem Shirt, den ich verursacht haben muss, wirft sie mir ein Lächeln zu, das ich nicht erwidere.
»Ich bin’s«, sage ich gepresst, als am anderen Ende abgenommen wird, und wechsle die Straßenseite. »Planänderung. Ich brauche jemanden am Times Square, und zwar jetzt. Ja ja, ich meine das Spiegelkarree.« Ich klappe das Handy zu und schiebe es fluchend zurück in die Brusttasche meiner Lederjacke. So langsam läuft mir die Zeit davon.
Elias hat keine Fragen gestellt, als ich ihn gebeten habe, statt der zwanzig Minuten langen Safari im Schulbus heute die U-Bahn zu nehmen. Nach zwei Stunden Ausdauertraining, bei dem mich alle außer Coach Verse und Fiona wie Luft behandelt haben, will ich Jasmines Gefolge wenigstens auf dem Heimweg entgehen. Ich flechte meine nassen Haare rasch zu einem Zopf und seufze. Welche Geschichte Jasmine den anderen wohl erzählt hat, um sie gegen mich aufzubringen? Was es auch ist, es hat sie überzeugt. Eigentlich sollte mich das nicht wundern, denn Jasmine war schon immer eine Meisterin im Gerüchteverbreiten. Elias und ich passieren die vier hohen Türme der Administration, wo alle Arten von Anträgen bearbeitet und die Einsätze der Ordnungswahrer koordiniert werden. Schweigend mischen wir uns unter die Menschen, die auf dem Weg nach Hause die gefegten Bürgersteige entlangeilen. Eine Frau in Jeans drängt sich an uns vorbei, und ich weiche auf die Straße aus, auf der sich gefühlt gestern noch hupende Taxis gestaut haben und die heute nur noch von den wenigen Autos befahren wird, die in diesem Monat eine Nutzungserlaubnis bekommen haben.
Hinter dem Bürokomplex taucht das Spiegelkarree auf, trotz seines neuen Namens noch immer das unangefochtene Herz der Stadt. Auf den fassadenhohen Monitoren, die sich so nahtlos über die Häuserwände ziehen, als hätte man sie wie Wasser darübergegossen, wetteifern Aktienkurse, Wetterberichte und die neuesten Bekanntgebungen des Parlaments um die Aufmerksamkeit der Passanten. Wir werden langsamer, als immer mehr Leute um uns herum stehen bleiben.
Auf dem größten Bildschirm, der sich über drei Häuserfronten erstreckt, flimmert die Videoaufnahme einer schlanken jungen Frau, die vor der Flagge der Gläsernen Nationen lächelnd die Hand eines gut aussehenden Mannes schüttelt.
Chloe Cremonte und Norman Adams besiegeln Kanadas Eintritt in den Staatenbund der Gläsernen Nationen.
Die Bildunterschrift zieht geräuschlos vorbei, doch die Stimmen um uns herum verkünden die Worte lauter als jeder Nachrichtensprecher. Applaus brandet auf.
»… sind wir stolz darauf, was wir in diesen wenigen Jahren erreicht haben.« Chloe Cremontes Ansprache wird nun live übertragen.
Elias hat schützend seinen Arm um mich gelegt, während die Menge uns immer weiter an den Rand des Spiegelkarrees drängt. Über die Köpfe der Menschen hinweg sehe ich Bilder von goldgelben Weizenfeldern, sauberen Vorstädten und lächelnden Kindern im Grünen.
»In den Gläsernen Nationen lernen wir, in perfekter Symbiose zu leben. Unsere Traits helfen, die Stärken und Schwächen jedes Bürgers zu klären und das volle Potenzial einer Gemeinschaft auszunutzen, in der niemand mehr Einzelkämpfer sein muss.« In Chloe Cremontes Stimme schwingt trotz ihres jungen Alters von gerade einmal 28 Jahren eine Autorität mit, die in jedem Zuhörer den Wunsch weckt, sie nicht zu enttäuschen. »87 Prozent unserer Bevölkerung sind bereits kristallisiert, eine Rate, die mit der seit vier Jahren verbindlichen Testung unserer Jugendlichen steigt. Schon jetzt ernten wir die Früchte unserer Bemühungen: sinkende Kriminalitätsraten, weniger Arbeitslosigkeit und ein stärkeres Miteinander. Es ist ein großes Kompliment, nun auch unseren Nachbarn Kanada zu den Gläsernen Nationen zählen zu dürfen!« Der Kristall, wie Chloe Cremonte genannt wird, macht eine kurze Pause, um Norman Adams ein zweites Mal die Hand zu schütteln. »Die Arbeit der Kristallisierung ist noch lange nicht zu Ende, und wir freuen uns auf die Veränderungen, die die Zukunft bringen wird!« Die Kamera zoomt auf ihr Gesicht, das von ihrem kinnlangen Haar umrahmt wird. »Für Klarheit und Weitsicht«, schließt der Kristall in feierlichem Ton und nickt uns strahlend zu.
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