»Gut gemacht.« Ich zucke zusammen, weil ich nicht bemerkt habe, wie Fiona sich zu mir gestellt hat. »Ich wünschte, ich wäre nur annähernd so schnell wie du.«
Vielleicht hättest du dich einfach nicht umdrehen sollen, als ich hingefallen bin , denke ich und fühle mich sofort schlecht. Es war freundlich von ihr, sich um mich zu sorgen. Manchmal muss ich mich selbst daran erinnern, dass nicht jeder rational sein kann.
Ein Wutschrei lässt uns herumfahren, und ich sehe gerade noch, wie Jasmine nach einem Blick auf die Anzeige fluchend in der Umkleide verschwindet. Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen wende ich mich ab, denn immerhin bin ich für die Zehntelsekunden verantwortlich, die sie heute ihren Rekord gekostet haben. Jasmine hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass nach der Testung ein R auf ihrem Handgelenk landen soll, und ein paar der Mädchen werfen sich vielsagende Blicke zu, als ausgerechnet sie mit Wucht die Tür der Umkleide hinter sich zuknallt.
»Okay, Leute, ich will kein Gejammer über Muskelkater hören. Wer sich nicht dehnt, ist selbst schuld«, durchbricht Coach Verse die Stille.
Ich stehle mich ein paar Meter von der Gruppe weg und tue so, als müsste ich mich an der Bande festhalten, während ich auf einem Bein stehend nach meinem Fußgelenk greife. Die angenehme Müdigkeit, die sich nach dem Laufen über mich zu legen pflegt wie eine Decke, verschwindet, als eine kühle Hand beiläufig meine warme streift. Wir wechseln einen kurzen Blick, dann verliere ich das Gleichgewicht und Elias grinst.
»Ich warte an der Bushaltestelle auf dich, in Ordnung?«
Er lässt mir keine Zeit zu antworten und nimmt zwei Stufen auf einmal, als er die Treppen der Tribüne hinaufläuft, bevor irgendjemand seine Anwesenheit bemerkt hat. Ich sehe ihm nach und spüre ein Pochen in meiner Brust, das nichts mit dem anstrengenden Training zu tun hat.
»Skye?«
Ich bin froh, dass der Sprint eine Erklärung für die alberne Hitze liefert, die meine Wangen garantiert schon wieder puterrot gefärbt hat. Hastig zwinge ich mir das Lächeln vom Gesicht, gegen das ich in Elias’ Nähe so wenig unternehmen kann, und drehe mich zu Coach Verse um. Seine Züge sind wie immer undurchschaubar, während er darauf wartet, dass sich der Platz um uns herum leert.
»Das war eine reife Leistung heute«, sagt er schließlich und bückt sich, um die Markierungen aus dem Rasen zu ziehen.
»Aber ich bin hingefallen«, erwidere ich verwirrt. Ich habe damit gerechnet, einen Verweis wegen der Behinderung der anderen Läufer zu bekommen – kein Lob.
»Du hast die Situation bestmöglich gerettet. Alles glasklar analysiert. Was glaubst du, warum dein Name an der Spitze gelandet ist?« Der Coach richtet sich auf und wirft die Markierungen in einen Eimer. »Laufen ist ein rationaler Sport. Es geht nicht nur um Zeiten, sondern vielmehr darum, die eigenen Grenzen zu überwinden.«
»Und einen kühlen Kopf zu bewahren«, füge ich hinzu.
Coach Verse nickt.
»Ganz Samuel Andersons Tochter, nicht wahr? Grüß deinen Vater von mir und richte ihm aus, dass wir für die neue Trackbahn sehr dankbar sind.«
Ich nicke, während mein Blick noch einmal zur Anzeigetafel flackert. Ich weiß, was von mir erwartet wird. Durch den Namen meines Vaters wird eben nicht alles einfacher.
»Du schaffst das schon, Skye.« Coach Verse ist meinem Blick gefolgt und schaltet die Anzeige mit einem Befehl seines Smartphones aus, sodass die Rangliste des Teams vor meinen Augen verschwindet.
»Es ist bloß …« Ich zögere. Rationale zeigen keine Unsicherheit! »Das Laufen erhöht meine Chancen auf einen Platz an der Cremonte-Uni nur dann, wenn ich meine Bestzeit halte oder mich steigere. Dieser Patzer hat mich heute eine Minute gekostet, ganz egal, wie rational ich meinen Fehler ausgebügelt habe.«
Coach Verse schiebt sein blaues Schweißband aus der Stirn, das er immer trägt, obwohl niemand ihn jemals laufen gesehen hat. Ich erwarte eine Strategie, wie ich noch mehr aus mir herausholen kann, doch stattdessen weicht er meinem Blick aus. Wenn ich nicht wüsste, dass ich mich irren muss, würde ich den merkwürdigen Ausdruck in seinem Gesicht als Traurigkeit deuten.
»Coach?«, frage ich zaghaft und er zuckt zusammen.
»Die Cremonte-Uni, hm? Mach dir darum keine Sorgen. Ich habe selten eine Schülerin trainiert, die sich so sicher war, zu welchem Trait sie gehört.« Coach Verse verzieht seine Mundwinkel zu einem unverbindlichen Lächeln, als würden wir über das Wetter sprechen, doch es erreicht seine Augen nicht. Er wirft einen Blick über seine Schulter, bevor er hastig mit gesenkter Stimme fortfährt: »Hör zu, Skye. Das Konsilium interessiert sich nicht dafür, wie schnell du läufst. Du hast rational gehandelt, und das ist alles, was zählen wird.«
Das Konsilium . Ein ehrfürchtiger Schauer zieht sich über meinen Rücken. Niemand weiß etwas Genaues über den Vorgang der Testung im Athene-Zentrum, außer, dass diese Gruppe hoch ausgebildeter Psychologen dafür verantwortlich ist, die Ausrichtung unserer Persönlichkeit zu bestimmen – unseren Trait. Das Konsilium wird darüber urteilen, welches Leben zu mir passt: das einer Rationalen oder das einer Emotionalen.
Coach Verse presst seine schmalen Lippen aufeinander. »Denk an meine Worte. Und pass auf dich auf.«
Ich nicke, verwirrt von der plötzlichen Ernsthaftigkeit in seiner Stimme.
»Bis morgen, Coach.« Ich lächle ihm zu, bevor ich mich in die Umkleideräume begebe und die zum Glück noch weit entfernte Testung aus meinen Gedanken vertreibe.

Mittlerweile müssten die Duschen leer sein, überlege ich, während die Gummisohlen meiner Sportschuhe unangenehm auf den Fliesen quietschen. Ich sollte mich beeilen, denn Dad hat mich gebeten, heute pünktlich zu Hause zu sein, damit wir zusammen essen können. In letzter Zeit kommt er oft so spät aus dem Büro, dass ich längst schlafe, und morgens ist alles, was ich von ihm sehe, die leere Kaffeetasse auf der Anrichte. Er glaubt, ich würde unter seiner ständigen Abwesenheit leiden, aber ich verstehe, wie wichtig seine Arbeit im Parlament ist. Und außerdem bin ich nicht allein. Ich muss unwillkürlich lächeln, als ich an die Abende neben Elias auf der breiten Fensterbank seines Zimmers denke. Gegen nichts in der Welt würde ich diese Stunden eintauschen wollen! Ich schlängele mich an den Mädchen in Handtüchern und Flip-Flops vorbei, schnappe mir meine Sporttasche und steuere auf die Duschen zu.
»Pass auf, mit wem du dich anlegst.«
Überrascht schaue ich auf.
»Wie bitte?« Die Dampfwolken um mich herum machen es schwer, den Schatten vor mir zu identifizieren.
»Glaub bloß nicht, dass ich deine kleine Sabotageaktion einfach so hinnehme.« Jasmine deutet mit dem Finger auf mich. »Ich werde Jahrgangsbeste sein, dieses und auch nächstes Jahr. Ich werde einen Platz an der Cremonte-Uni bekommen. Steh mir dabei besser nicht im Weg!«
Ich sehe mich um, doch Jasmine und ich sind allein im Duschraum.
»Auf dem Campus gibt es mit Sicherheit Platz genug für uns beide«, sage ich versöhnlich, denn ich habe wirklich keine Lust, auch noch meine Studienzeit in einem unfreiwilligen Zickenkrieg zu verbringen.
»Da wäre ich mir an deiner Stelle nicht ganz so sicher.« Jasmine mustert mich. »Die Cremonte ist eine Uni für die zukünftigen Führer dieses Landes. Für Rationale, die unter Druck nicht nachgeben. Du hast vorhin die richtige Entscheidung getroffen, indem du meine Zeit deinem Erfolg geopfert hast.« Mit honigsüßer Stimme flüstert sie mir ins Ohr: »Aber du hast ein schlechtes Gewissen, nicht wahr?« Jasmine richtet ihr Handtuch. Was fällt ihr ein, mich darüber zu belehren, was Rationalität ausmacht! Als wüsste ich nicht selbst, was ein R von seiner Trägerin verlangt. »Und pass besser auf, dass du dich nicht zu sehr mit Fiona anfreundest«, raunt sie mir zu, während sie sich zum Gehen wendet. »Nicht, dass ihre Emotionalität noch auf dich abfärbt – oder ihr lahmarschiger Laufstil. Dieses Team kann wirklich keine zwei Loser vertragen.«
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