»Klar doch, kein Problem, liebste Omi«, sagte er mit einem frechen Grinsen. Das schien irgendwie in der Familie zu liegen.
»Sehen Sie? Er erinnert mich tagtäglich daran, dass meine Daseinsberechtigung auf dieser Welt stetig abnimmt.«
Lachend schüttelte ich den Kopf. Rosis Humor gefiel mir. Und irgendwie fühlte ich mich mittlerweile gar nicht mehr so fehl am Platz. Dennoch wurde es mir schlagartig mulmig, als ich registrierte, dass Rosi direkt auf die Tür vom Lesecafé zusteuerte. Ach du Schande, was ist, wenn ich da drinnen auf Kirsten treffe? Das mulmige Gefühl verwandelte sich mit jedem Schritt in so etwas wie Panik. Mir brach der Schweiß aus.
Entweder bemerkte Rosi das nicht oder sie ignorierte es geflissentlich. Wir betraten das Café, ein hübsch eingerichteter und nicht zu groß geratener Raum, an dessen Wänden reihum prallgefüllte Bücherregale standen. Augenscheinlich herrschte hier das Prinzip einer optimalen Platzausnutzung, denn in der Mitte standen zerstreut ein paar Tische mit bequemen Sesselstühlen. Es gab auch eine separate Leseecke und auf der anderen Seite eine kleine Spieloase für Kinder.
Es waren nur vereinzelte Besucher anwesend, sodass wir problemlos einen freien Tisch fanden. Rosi ließ mich zurück und ging vor zur Bar. Gewiss wollte sie den Kaffee gleich selbst holen. Zögernd ließ ich meinen Blick durch den Raum schweifen, bis ich an der Theke angelangt war. Ich entdeckte Sandra, die gerade den Kaffeeautomaten bediente. Aber Kirsten schien nicht da zu sein. Die angestaute Luft pfiff regelrecht aus mir heraus. Doch die Erleichterung war nur von kurzer Dauer, denn fast gleichzeitig überfiel mich eine tiefe Unruhe. Wo war sie denn nur?
Wenige Minuten später kehrte Rosi mit zwei großen Kaffeetassen an den Tisch zurück. »Ich hab gar nicht gefragt, ob Sie auch ein paar Kekse oder Kuchen dazu möchten.« Sie zuckte entschuldigend die Schultern.
»Nein, nein«, wehrte ich ab. »Kaffee reicht mir vollkommen aus. Ich habe auch überhaupt keinen Hunger.«
»Hm.« Rosi wirkte dennoch skeptisch. Sie schälte sich behände aus ihrer dicken Jacke, noch bevor ich ihr hätte behilflich sein können. Meine angestrebte Hilfsbereitschaft hatte sie offensichtlich trotzdem wahrgenommen – kein Wunder, ich war ja auch schon vom Stuhl aufgesprungen –, denn sie sagte: »Das kann ich noch ganz gut allein, aber danke.« Sie grinste vergnügt, mit deutlich nach oben verzogenen Mundwinkeln.
»Glaube ich Ihnen aufs Wort«, erwiderte ich schmunzelnd. Ich setzte mich wieder. »Kirsten ist wohl gar nicht da?«, platzte meine Frage ein wenig übermotiviert aus mir heraus, noch bevor ich einen Schluck getrunken hatte.
Rosi schüttelte den Kopf. »Nein, es gibt da noch ein paar Sachen, die sie klären muss.« Ihr Blick drückte aufrichtiges Bedauern aus. »Sie ist aber ohnehin nicht oft im Laden, weil sie sich mehr um das Geschäftliche, also die Finanzen, Bestellungen, Buchführung und all den Kram kümmert. Und zu Hause hat sie dafür mehr Ruhe.«
»Verstehe«, murmelte ich, ohne meine Enttäuschung gänzlich verbergen zu können. Ich hoffte jedoch, dass Rosi mich nicht für selbstsüchtig hielt. »Lotta ist ja auch in so einem Alter, da muss man als Mutter ganz schön hinterher sein«, fügte ich daher hinzu. Beinahe hätte ich deswegen aber in meinen Kaffee geprustet. Als ob ich auch nur den leisesten Schimmer davon hätte.
»Haben Sie Kinder?«, fragte Rosi mich prompt.
Da hatte ich den Salat. Wieso musste ich denn auch den Erziehungsratgeber mimen. Ich seufzte in mich hinein, ehe ich antwortete: »Nein, ich . . . Es hat sich einfach nicht ergeben.« Das war zumindest nicht gelogen. Tatsächlich hatte ich mir aber nie Gedanken darüber gemacht. In meinem Alter hatte ich nicht mal eine einzige Beziehung vorzuweisen, die länger als drei Monate gehalten hatte, geschweige denn, dass Kinder ein Thema gewesen wären.
»Ach was.« Rosi winkte ab. »Ich habe mich schon oft gefragt, wie mein Leben wohl ohne Kinder verlaufen wäre. Niemand kann einem das beantworten, ob es schlechter oder besser gewesen wäre. Definitiv aber anders.« Sie gluckste vor sich hin und schien in Erinnerung zu schwelgen, während sie mit dem Löffel in der Kaffeetasse rührte.
Ich schwieg, um sie dabei nicht zu stören. Doch im nächsten Augenblick zog sie den Löffel aus der Tasse und legte ihn beinahe schwungvoll auf den Tisch. »Sie hatten gehofft, Kirsten hier zu treffen. Nicht wahr?«
Es war ja nicht so, dass mein plötzliches Auftauchen nicht gleichzeitig eine logische Schlussfolgerung nach sich ziehen würde, und trotzdem war ich mir unsicher. »Ja, eigentlich schon«, murmelte ich. »Andererseits . . .« Ich sprach den Satz nicht zu Ende. Wie sollte ich Rosi das erklären, wenn ich selbst nicht einmal genau wusste, was ich mir von meinem Besuch hier erhofft hatte? Darüber hatte ich nicht nachgedacht. Ich war einfach meinem Herzen gefolgt, obwohl mein Verstand mich aufzuhalten versucht hatte.
Rosi nickte scheinbar abwesend. Aber ich wusste instinktiv, dass die ältere Dame mir gegenüber voll konzentriert war. »Das heißt also, Kirsten hat sich nicht bei Ihnen gemeldet?«
Da war sie, die Schlussfolgerung, die mich trotzdem bis ins Mark traf. Kirsten hatte mit Rosi darüber gesprochen? Ich stöhnte innerlich auf. Konnte es denn noch peinlicher für mich werden? »Nein, hat sie nicht.« Resigniert ließ ich den Kopf sinken.
Rosis faltige Hand legte sich auf meine. »Ach, Kindchen . . .«
Kindchen? Ich blies die Backen auf, woraufhin Rosi leise lachte. Sie tätschelte meine Hand, was irgendwie beruhigend war, auch wenn ich das nie und nimmer zugeben würde.
»Haben Sie ein bisschen Geduld mit ihr«, setzte Rosi fort. »Es ist momentan alles nicht so einfach für sie. Aber ich habe das Gefühl, dass Sie ihr guttun, auch wenn Sie sich noch kaum kennen.«
Erstaunt blickte ich auf. Das hätte ich jetzt nicht erwartet. Ich ahnte ja schon so etwas, dass Kirsten eventuell Sorgen und Probleme hatte. Aber die kurze Zeit, die wir miteinander verbracht hatten, da hatte sie ganz anders auf mich gewirkt, vor allem äußerst selbstbewusst. Sie hatte auf mich nicht den Eindruck gemacht, als würde irgendwas oder irgendjemand sie daran hindern können, eine getroffene Entscheidung durchzusetzen. Also warum hatte sie mir dann nicht wenigstens eine kurze Nachricht geschickt? Sie hätte unser Treffen verschieben können. Selbst eine Absage hätte ich eines fernen Tages vermutlich verdaut. Aber so gar nichts?
Ich suchte nach Worten, die einer vernünftigen und verständnisvollen Reaktion gerecht wurden. Aber während ich noch vor mich hingrübelte, kam Sandra an unseren Tisch. Sie schaute nur Rosi an, während sie mich nahezu komplett ignorierte, als wäre ich gar nicht anwesend. Ihr Blick, als sie dann Rosis Hand auf meiner bemerkte, stieß pure Verachtung aus. Regelrecht erschrocken zog ich meine Hand zurück.
»Kann ich dir noch irgendwas bringen?«, säuselte sie. Natürlich war die Frage nur an Rosi gerichtet.
Rosi blickte Sandra ruhig in die Augen, doch sie war verärgert, wie ihre aufeinandergepressten Lippen verrieten. »Nein, ich brauche nichts weiter«, sagte sie schließlich. »Aber ich kann da nur für mich sprechen. Und wie dir sicherlich aufgefallen ist, sitze ich nicht allein an diesem Tisch.« Die Zurechtweisung in ihren Worten war nicht zu verkennen.
Es stand außer Frage, dass Sandra das nicht entgangen war. Sie war außer sich vor Wut, auch wenn sie sich noch so gut zu verstellen versuchte. Ihr Gesicht formte sich zu einer süffisanten Grimasse, als sie sich nun mir zuwandte und mir dieselbe Frage stellte. Sie gab sich nicht mal die kleinste Mühe, mir gegenüber höflich zu sein. Dass sie mich – eine Fremde – einfach so duzte, war ein Beleg dafür. Ich lehnte dankend ab, ohne mir mein Unverständnis für ein solches Verhalten anmerken zu lassen.
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