»Ich schlage vor, wir gehen jetzt Kaffeetrinken«, sagte Frost mit versöhnlichem Ton und drehte sich zu Payne um. »Und vielleicht sollten wir für Sie einen Wikingerhelm kaufen. Steht Ihnen bestimmt prächtig.«
Auf dem Glockenturm des Münsters blitzte das Zielfernrohr kurz im Sonnenlicht auf, als die Frau sich bewegte. Sie kniete vor der Balustrade einer sehr schmalen Galerie knapp unterhalb des Ziffernblattes. Das Gewehr fest in den Händen, schaute sie durch das Fernrohr. Im Fadenkreuz sah sie die beiden Personen auf dem Wachturm der Mauer. Der Mann schaute gerade hinter der Zinne hervor. Sie konnte die Emotionen in seinem Gesicht erkennen.
Sie selbst zwang sich, die Wut über den verpatzten Schuss über sich hinweggleiten zu lassen. Ihr Atem ging flach und langsam, ihr Herz schlug ruhig und regelmäßig. Nicht eine Faser ihres Körpers bewegte sich.
Der Mann stand nun genau zwischen den Zinnen. Der Zeigefinger der Frau spannte sich an. Diesmal würde sie ihr Ziel nicht verfehlen.
Doch als der Mann genau in ihre Richtung schaute, hielt sie für einen Atemzug inne. Oh, er war gut. Beinahe hätte sie gelächelt, doch das hätte die Spannung in ihrem Körper verändert.
Der Mann redete mit der Frau, die sichtlich erregt war. Dann verschwanden beide aus dem Fadenkreuz. Sie entspannte den Zeigefinger und gestattete sich einen tiefen Atemzug. Der Moment war vorbei.
Die Frau hob das Gewehr und stand auf. Der eisige Wind zerrte an ihrer engen Lederkleidung und wirbelte einzelne Haarsträhnen um ihren Kopf. Ohne das Fernrohr wirkten die beiden winzig klein, als sie an der Mauer entlanghasteten und den Abhang zu den ersten Häuserreihen hinunterstolperten.
Später. Sie würde noch mehr Gelegenheiten bekommen. Noch bestand keine Eile, die beiden auszuschalten. Sie hatte die ausdrückliche Erlaubnis, mit den beiden zu spielen.
Die Frau ging wieder in die Hocke und zog ihre Ledertasche heran. Mit wenigen routinierten Bewegungen hatte sie das Gewehr in seine Einzelteile zerlegt und in der Tasche verstaut.
Ein leises Lächeln zuckte über ihren Mund. Die Sache fing an, ihr zu gefallen.
Constable Nilima Manju war frustriert. Sie saß an ihrem Schreibtisch im großen Gemeinschaftsraum des Yards und starrte auf die Beige Akten, die sich vor ihr auftürmte. Seit drei Wochen traten sie und Inspektor Jones auf der Stelle, was den Fall der mechanischen Kinder anging. Weder war eine neue Leiche aufgetaucht noch hatten sie verwertbaren Hinweise oder Spuren, denen sie folgen könnten. Inspektor Welsh, der den Fall vor 20 Jahren schon versucht hatte aufzuklären, hatte sie gewarnt.
Manju ächzte auf und warf den angeknabberten Bleistift auf den Tisch. Ihre goldenen Armreifen klirrten dabei. Während Inspektor Jones sich mit Commissioner Lovett zu einem Kaffeekränzchen traf, durfte sie den liegengebliebenen Papierkram erledigen.
Sie schielte zu Sergeant Trent hinüber, der auf der anderen Seite des Raumes an seinem Tisch saß und beschäftigt aussah. Trent war verheiratet und ihren Flirtversuchen gegenüber leider völlig immun. Manju verfluchte ihre Eltern jeden Morgen, weil sie sie dazu gezwungen hatten, den Sohn des Tuchhändlers zu heiraten. Gleiche Kaste und so. Es war schon schlimm genug gewesen (praktisch Weltuntergang), dass Manju darauf bestanden hatte, der Metropolitan Police Force beizutreten.
Also auch da keine Ablenkung. Trent war die Mühe nicht wert, obwohl er ziemlich gut aussah. Sie ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie darauf hoffte, bald möge wieder eine mechanische Leiche aus der Themse gezogen werden. Dann hätte sie wenigstens etwas zu tun.
Nein, das war grausam und morbide. Diese armen Kinder hatten solch ein Ende nicht verdient. Aber Manju wollte den Mörder unbedingt schnappen. Sie war Inspektor Jones dankbar dafür, dass er ihr eine Chance gab, denn sie war neu im Yard und unerfahren. Sie musste sich erst beweisen. Wenn sie mithalf, den Mörder dingfest zu machen, käme sie der Beförderung zum Sergeant ein Stückchen näher.
Radau hinter ihr ließ sie aufmerken. Der Lärm kam aus der Eingangshalle. Neugierig und vor allem nicht ganz undankbar für die Ablenkung vom öden Papierkram stand Manju auf. Wahrscheinlich nur wieder ein paar Betrunkene, die meinten, Stunk machen zu müssen. Doch sie täuschte sich.
Es war eine in Tränen aufgelöste Frau. Drei Mädchen hingen wimmernd an ihren Rockzipfeln und beäugten die Beamten mit großen Augen. Manju blieb etwas abseits stehen und beobachtete das Schauspiel.
Der diensthabende Desk Sergeant Livingston versuchte verzweifelt, die Frau zu beruhigen und sah dabei so hilflos und überfordert aus, als wäre gerade die Schwiegermutter seiner Albträume unangekündigt bei ihm zuhause aufgetaucht. Manju schmunzelte vergnügt.
»Bitte, Sir, ich will doch nur, dass jemand nach meinem Jungen sucht!«, rief die Frau zum dritten Mal aus.
»Ma’am, setzen Sie sich doch erst einmal.« Livingston bugsierte sie zu einer Bank. »Wie heißt Ihr Junge?«
»Cassidy, David Cassidy. Ich bin seine Mutter.«
Natürlich war sie seine Mutter. Und die drei Mädchen waren offensichtlich seine Schwestern. Aber solche Kommentare hörten die Leute meist nicht gern, wie Manju in ihren ersten Tagen im Yard hatte feststellen müssen.
Livingston hatte nun sein Notizbuch gezückt. »Seit wann vermissen Sie den Jungen, Ma’am?«
»Seit etwa drei Wochen«, antwortete die Frau und fuhr sich abwesend durch die wirren Haare. Sie sah derangiert aus.
»Und Sie kommen erst jetzt zu uns?«
Die Frau schaute zu Boden und knetete ihre Hände. Manju wusste, warum. Es gab sehr viele Menschen in London, die der Polizei nicht vertrauten, gerade in den ärmeren Schichten. Diese Frau hatte wohl lange mit sich gerungen, ins Yard zu kommen – und dabei gehofft, dass ihr Sohn doch noch auftauchte.
»Okay, wie dem auch sei«, versuchte Livingston die Situation zu retten. »Also, Ihr Sohn heißt David Cassidy.«
Die Frau nickte. »Er ist 14 Jahre alt. Ich habe ihn zum Markt geschickt, um Brot zu kaufen, weil meine Jüngste hier krank war und ich nicht selbst gehen konnte. Danach sollte er zur Arbeit beim Schuster zwei Straßen weiter, aber dort kam er nie an. Wir leben in Whitechapel, Sir. Sie wissen, wie es da ist.«
Manju verschränkte die Arme und lehnte sich an den Türrahmen. Whitechapel war ein Slum. Die örtliche Polizeistation war völlig unterbesetzt. Aber dieses Problem bestand überall, selbst hier im Yard. Manju wusste bereits, dass viele Fälle niemals aufgeklärt werden, weil einfach das Personal dazu fehlte. Mit diesem vermissten Jungen wird es sich wohl ähnlich verhalten. Livingston würde eine Akte anlegen und sie, zusammen mit drei Dutzend anderen Fällen, an die Sergeants und Inspektoren des Yards weiterleiten. Dann würde sie im Gemeinschaftsraum auf irgendeinem Schreibtisch liegen bleiben.
Manju hatte genug gesehen und wandte sich ab. Auf ihrem eigenen Schreibtisch türmte sich der Papierkram. Leider erledigte der sich nicht selbst. Und bevor Jones zurückkam, sollte sie vielleicht doch einiges davon erledigt haben.
Frost war frustriert. Nichts ergab Sinn, und diese verdammte grüne Seite machte sie noch wahnsinnig. Zum wohl hundertsten Mal ging sie das Buch des Alchemisten von vorne bis hinten durch, zog Jonahs Notizen zu Rate, doch es blieb bei dem, was sie bereits wussten. Die Bibliothek war vor zweihundert Jahren versteckt worden, um die wertvollen Bücher und deren gesammeltes Wissen vor Cromwells Schergen zu verbergen. Der Apotheker Burlington, der eigentlich ein Alchemist war, hatte sie einem Adligen aus Yorkshire anvertraut und für den Fall, dass ihm oder diesem adligen Freund etwas zustieß, Hinweise in seinen Aufzeichnungen hinterlassen.
Die einzigen Hinweise, die sie hatten, waren die grüne Seite und die Stadt York. Frost hatte alle möglichen Tricks versucht, mehr aus dem bemalten Papier zu locken. Sie hatte die Seite vorsichtig gegen eine Flamme gehalten, falls Geheimtinte im Spiel war. Sie hatte das Buch über dem Dampf der frischen Teekanne geschwenkt, was nur zur Folge hatte, dass sich einige der Seiten wegen der Feuchtigkeit kräuselten.
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